Siegmund Günther †.

Dr. phil, ord. ö. Prof. a. d. Technischen Hochschule München, Geh. Hofrat. (Mit 1 Bildnis.) Wenn auch verspätet, doch nicht zu spät und nicht weniger herzlich gilt es, in diesen Blättern eines hervorragenden Gelehrten und Lehrers zu gedenken, des Geh. Hofrates Prof. Dr. Siegmund Günther. Die unsicheren traurigen Verhältnisse in unserm Vaterlande in den letzten Jahren haben leider auch in dem früheren freundschaftlichen, brieflichen Verkehr, den ich mit dem hochverehrten Manne pflegte, eine Unterbrechung geschaffen. Die beträchtlich verspätete Kunde von seinem Heimgange, den ich nicht geahnt habe, war mir ein recht betrübendes Ereignis. War doch ein herrlicher Mann zu Grabe getragen, der weit über München, ja, über Deutschlands Grenzen hinaus rühmlichst bekannt, hochgeachtet und geehrt war. Ein Teil seiner gewaltigen Lebensarbeit galt auch dieser Zeitschrift, und somit ist es billig und geziemend, hier ein Gedächtnisblatt auf das Grab des unvergeßlichen Gelehrten und Lehrers niederzulegen.

Günther erblickte am 6. Februar 1848 in Nürnberg das Licht der Welt. Nach Vollendung seiner Gymnasialstudien (1865) in seinem Heimatsorte besuchte er als Studierender der Mathematik und Naturwissenschaften die Universitäten Erlangen, Heidelberg, Leipzig, Berlin und Göttingen. Im Mai 1870 promovierte er an der Universität Erlangen zum Dr. phil., kämpfte als Freiwilliger im deutsch-französischen Kriege im 6. bayr. Jägerbataillon, wurde schnell zum Offizier befördert und verharrte in dieser Stellung bis Herbst 1871. In demselben Jahre erwarb sich Günther durch sein Staatsexamen die fac. doc. für alle Klassen und wirkte 1872 als Mathematiklehrer an der Latein- und Realschule in Weißenburg in Mittelfranken. Schon im folgenden Jahre habilitierte er sich an der Universität Erlangen als Privatdozent für Mathematik. Im Sommer 1873 vermählte er sich mit Marie Weiser aus Dottenheim bei Weißenburg. Ein Jahr später übersiedelte er als Privatdozent an die Technische Hochschule in München. Hier veröffentlichte er sein „Lehrbuch der Determinantentheorie für Studierende“ und die Schrift: „Das Independente Bildungsgesetz der Kettenbrüche.“ Im Jahre 1876 wurde Günther als Professor der Mathematik und Physik an das Gymnasium in Ansbach berufen. Hier entfaltete er eine hingebende erfolgreiche Lehrtätigkeit und erwarb sich die Grundlagen für seine hervorragende pädagogisch-didaktische Tätigkeit. Trotzdem er auch Reichstagsabgeordneter war, vermochte er eine umfassende schriftstellerische Tätigkeit zu entfalten. Groß ist die Zahl der wissenschaftlichen Aufsätze, die damals aus seiner Hand hervorgingen. Sie bekunden Günthers Übergang zum Gebiete der Geo­graphie. Die Krönung seiner dortigen literarischen Tätigkeit stellt der erste Band seines Werkes: „Lehrbuch der Geophysik und physikalischen Geographie“ dar, das Günthers Ruf als Geographen begründete. Der angesehene deutsche Geograph Alfred Philippsons beurteilt dieses Werk folgendermaßen: „Das Ganze ist eine erstaunliche Riesenarbeit, die nur ein Mann von der umfassenden Belesenheit und der bewundernswürdigen Arbeitskraft Günthers bewältigen konnte.“ (Petermanns Mitteilungen.) Als dann 1886 durch Friedrich Ratzels Abgang der Lehrstuhl für Erdkunde an der Technischen Hochschule in München erledigt war, wurde Günther an seine Stelle berufen. Mit Freuden folgte er dem Rufe; ein herzlicher, sehnlicher Wunsch hatte damit Erfüllung gefunden.

Als Hochschulprofessor entfaltete Günther eine außerordentlich reiche und vielseitige schriftstellerische Tätigkeit. Seine von ihm veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten sollen nach einer Würdigung derselben durch einen seiner Schüler die gewaltige Zahl 200 [Diese Zahl umfaßt die größeren Schriften Günthers. Wollte man alle Aufsätze des ungemein fruchtbaren Autors einschließen, so würde sich eine viel höhere Zahl —über 1000 — ergeben. — Über die literarische Tätigkeit Günthers bis zum Jahre 1882 vgl. Nr. 12, 18 und 19 vom VII. Jahrg. d. Rhein Westf. Schulzeitung.] übersteigen. Als die bedeutendsten Werke gelten drei große Schriften: Das umfangreiche „Handbuch der Geophysik“, welches in zwei starken Bänden Geophysik und physikalische Erdkunde behandelt, die „Geschichte der Erdkunde“ und das „Handbuch der mathematischen Geographie“. Überdies richtete Günther sich ein geographisches Seminar ein, das in bezug auf praktische Durchführung der Ausstattung und Schönheit mustergültig ist. Während drei Jahren war Günther Rector magnificus und zwei Jahre Prorektor der Technischen Hochschule.

Die ruhige wissenschaftliche und politische Tätigkeit Günthers wurde beim Ausbruch des Weltkrieges jäh unterbrochen. Wie seine drei Söhne, so stellte auch der 66 Jahre alte Vater sich der deutschen Heeresverwaltung zur Verfügung. Wegen seiner hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete der Meteorologie übertrug man ihm die Leitung der Feldwetterwarte in Antwerpen, und später (1917) übernahm er das Kommando über den gesamten bayerischen Wetterdienst. Der jüngste Sohn Günthers — im Zivilberuf Rechtsanwalt — starb als Offizierstellvertreter am 29. Juni 1916 in der Sommeschlacht von einer Granate getroffen den Heldentod. Der Zusammenbruch Deutschlands, die revolutionären Vorgänge im Reich, namentlich in Bayern, trafen den mit tiefer, glühender Vaterlandsliebe erfüllten kerndeutschen Mann mit furchtbarer Härte. [Günther hat mehrere Wochen in der Gefahr geschwebt, verhaftet zu werden. Unter dem 3. VII. 1919 schrieb er mir u. a. folgendes: „Es ist äußerst freundschaftlich von Ihnen, daß Sie, selbst unter eigenartigen Verhältnissen lebend, sich nach den unsern erkundigen. Ja, wir haben vier schwere Wochen in München durchgemacht; drei der ,Räterepublik' und eine schwerer Straßenkämpfe. Und ich selbst, der ich mir den Unwillen gewisser Elemente zugezogen hatte, war wiederholt zum Verlassen meiner Wohnung gezwungen, um nicht eine Verhaftung und noch Schlimmeres zu erfahren. Doch das ist gottlob, überstanden, und seit 2½ Wochen wohnen meine Gattin und ich in einem reizenden Landhause, wo wir uns schon sehr von den überstandenen Sorgen erholen konnten. Bei uns herrscht eine schwere Psychose, wie leider fast allenthalben in Deutschland. Werden wir sie dauernd zu überwinden imstande sein?“] Die Folgen des Versailler Friedens haben ihn auf das schwerste erschüttert. Mit der körperlichen und geistigen Spannkraft Günthers ging es unter der gewaltigen Wucht der Ereignisse immer mehr bergab. Er zog sich nunmehr aus dem öffentlichen Leben zurück; 1921 legte er sein Lehramt an der Technischen Hochschule nieder. Seine letzten Jahre verlebte er in Stille, von seiner Gattin in aufopfernder, sorgender Treue gepflegt und behütet und durch das erfolgreiche Wirken zweier Söhne erfreut. Am Abend des 3. Februar 1923 schlummerte er sanft in ein besseres Jenseits hinüber. Mit Günther ist ein in jeder Beziehung hervorragender, hochbegabter und vielseitiger Geist heimgegangen, der gewaltige, umfangreiche, den Kosmos erfassende Arbeitsgebiete mit unübertroffener Meisterschaft bewältigt hat.

Verdienste um die Didaktik. Während seiner Tätigkeit als Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften am Gymnasium zu Ansbach (von 1876 bis 1886) bewährte Günther sich als vorzüglicher Lehrer. Leicht und anziehend führte er seine Schüler in spröde, schwierige Wissensgebiete ein und zeigte ihnen Mittel und Wege zum richtigen Verständnis der Lehrstoffe. Das bedeutende Lehrgeschick Günthers kam auch in seinem Amt als Hochschullehrer zur vollen Geltung. Seine zehn Jahre lange Tätigkeit am Gymnasium in Ansbach ist ihm für seinen Beruf als Hochschullehrer vortrefflich zustatten gekommen. In seinen „Geographischen Studien“ (Stuttgart 1907) hat Günther betont, daß es noch „keinem Hochschullehrer Schaden gebracht, wenn er selbst zuvor an der Mittelschule sich in der praktischen Didaktik ausgebildet hatte“. Ihm war eine außergewöhnliche, seltene Rednergabe verliehen, er war wirklich ein „Redner von Gottes Gnaden“. Die ungemeine Klarheit und Gestaltungskraft seines Vertrages, die fließende, gewählte Sprache, die präzisen, treffenden Ausdrücke, die innere Gliederung, der methodische Aufbau und die Darbietung des Stoffes legten glänzendes Zeugnis ab für das bedeutende Lehrgeschick, das Günther besaß. Kein Wunder, daß Günther zahlreiche Schüler an seine Person und sein Lehrfach fesselte und große Hochschätzung, Liebe und Verehrung genoß. Er hat in München eine ganze Generation von jungen Geographen für dieses Lehrfach begeistert und herangebildet, die im Bayerlande an technischen Mittelschulen wirken und die vom Meister empfangenen Lehren und didaktischen Anweisungen segensreich zur Geltung bringen. Günther hat sich auch durch Vorträge auf Versammlungen des Realschulmännervereins und in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Sektion der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner als Didaktiker bewährt.

An mehreren Zeitschriften hat der Gelehrte als Mitarbeiter gewirkt. Von 1876 bis 1886 gehörte er der Redaktion der „Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“ an. Während dieser Zeit hat der vielseitige Autor durch didaktische Aufsätze, literarische Berichte, Referate über Versammlungen von mathematisch-naturwissenschaftlichen Sektionen deutscher Philologen und Schulmänner, sowie durch Berichte über die mathematisch-naturwissenschaftlichen Programme in Bayern eine rege Tätigkeit entfaltet. Zu den didaktischen Beiträgen Günthers gehören u. a.: 1. „Berechnung des Tagebogens eines Gestirnes aus gegebener Deklination oder Morgenweite in einfachster und naturgemäßester Weise durch planimetrische Betrachtungen.“ 7 (1876). Diese Aufgabe war bis dahin in allen gangbaren Lehrbüchern übereinstimmend der sphärischcn Trigometrie zugewiesen. 2. „Über die planimetrische Behandlung elementarer astronomischer Probleme.“ 10 (1879), S. 99ff. 3. „Die merkwürdigen Linien im sphärischen Dreieck.“ 11 (1880), S. 421 ff. Günther beabsichtigte durch diesen Aufsatz einen Beitrag zu der in dieser Zeitschrift mit Eifer diskutierten didaktischen Frage zu liefern, ob man bei der Auflösung tri­gonometrischer und verwandter Aufgaben mehr die algebraische oder die geometrische Seite in den Vordergrund stellen solle. 4. „Operative Arithmetik und Geometrie der Gittersysteme.“ 13 (1882), S, 3ff. 5. „Eine didaktisch wichtige Auflösung trinomischer Gleichungen.“ 6. „Über sphärische Trigono­metrie. Eine didaktische Studie.“ Der damalige Herausgeber der Zeitschrift. I. C. V. Hoffmann, würdigt die Mitarbeit Günthers an seiner Zeitschrift (13, S. 169) in folgendem: „Unsere schon oft gestellte Bitte, die Verfasser von Originalartikeln möchten die Vorarbeiten anderer Autoren für ihr Thema gründlich studieren, kritisch beleuchten und zeigen, worin der Fortschritt bzw. der didaktische oder wissenschaftliche Gewinn ihrer eigenen Arbeiten bestehe, ist — wahrscheinlich im Hinblick auf die musterhaften Artikel von Günther und Hauck — nicht fruchtlos geblieben.“ Wie sehr Hoffmann die Beiträge Günthers schätzte, ergibt sich ferner aus einer Äußerung im 13. Jahrgang (S. 452) in einer Note zu Günthers Beurteilung dreier Schriften eines italienischen Mathematikers: Dies (daß die Einrichtung des italienischen Schulwesens in Deutschland nur wenig bekannt ist) ist auch der Grund, warum wir die Rezension dieser ausländischen Schulbücher veröffentlichen, ganz abgesehen noch davon, daß man jede Rezension unsers Mitarbeiters mit Vergnügen und mit geistigem Gewinn lesen wird. Im XI. Jahrgang (1880) dieser Zeitschrift, Seite 353, beurteilt Hoffmann das „Lehrbuch der Determinantentheorie“ von Günther in folgendem: „Günthers Werk ist für den Mathematik-Studierenden bestimmt. Sein Schwerpunkt liegt überdies in der mit ihm verschmolzenen geschichtlichen Darstellung, einem Vorzüge, der alle Schriften und Aufsätze dieses enorm belesenen und gelehrten Autors auszeichnet“

Günther hat sich während seiner Stellung als Hochschullehrer das Interesse an didaktischen Fragen erhalten. Das zeigen folgende Aufsätze bzw. Schriften: „Über den Bildungswert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und über die denselben an den verschiedenen Bildungsanstalten angewiesene Stellung,“ Vortrag, gehalten auf der Versammlung des Deutschen Realschulmännervereins in Berlin, im April 1890. („Die Natur“, 1890, Nr. 44 und 45.) „Das geschichtliche Element im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht.“ (Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Gymnasium“. 1. Jahrgang, Nr. 9 und 10, 1883; später in „Unterrichtsbl. für Math. u. Naturw.“, 1913.) „Didaktik und Methodik des geographischen Unterrichts.“ Von Günther und Kirchhof (München 1895). „Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525.“ (Berlin, A. Hofmann & Comp., 1887, in den Monumenta Germaniae Paedagogica.) „Lehrbuch der Geographie für die technischen Mittelschulen“ von Günther und W. Götz. (5. Auflage. Bamberg 1900.) „Geschichte der Naturwissenschaften im Unterricht der Hochschulen.“ (1911.)

Eine Würdigung des Verewigten würde unvollständig sein, wenn wir nicht auch dem Menschen Günther einige Worte widmen wollten. An seiner Familie hing er mit ganzer Seele. Der Verlust seines einzigen Töchterchens und des jüngsten Sohnes haben ihn schwer betroffen. Allen, die mit ihm in Verkehr traten, seinen Bekannten und besonders seinen Freunden, kam er mit Güte, Herzensfreundlichkeit und Liebenswürdigkeit entgegen. Gemütvoll, mit einem weichen Herzen ausgestattet, nahm er an Freud und Leid derselben innigen Anteil und unterstützte sie mit Rat und Tat. — Der Unterzeichnete hat sein „Ausführliches Lehrbuch, der Arithmetik und Algebra“ dem hochverdienten Gelehrten in tiefster Verehrung gewidmet. Günther teilte mir brieflich mit, daß diese Widmung ihm mehr Freude mache als manche vom Staate verliehene Auszeichnung. Wir schließen diesen Nachruf mit dem Urteil eines Hochschullehrers: „Günther gekannt zu haben, bleibt ein Gewinn!

Boppard a. Rh.       Werner Schüller.


Quelle:
Schüller, Werner (* vor 1860, † nach 1925): Siegmund Günther †
In: Zeitschrift für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht aller Schulgattungen. — 56 (1925), S. 109–113


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