Zu S. Günthers siebenzigstem Geburtstag.

Von A. KISTNER in Karlsruhe i. B.

Während draußen das Kriegsunwetter tobt, gedenkt die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften ihres unermüdlichen zweiten Vorsitzenden, der im Dienste für das Vaterland das fern der Heimat verbrachte siebenzigste Lebensjahr am 6. Februar 1918 vollendet. Eiserne Notwendigkeiten dieser Tage ließen leider die geplante Herausgabe einer Festschrift zunichte werden, lenken uns aber dafür in erhöhtem Maße zu dem Arbeitsfeld, das S. GÜNTHER mit jahrzehntelangem Fleiß zu reicher Ernte gebracht hat. Nur von wenigen Früchten, die seiner umsichtigen Arbeitsamkeit zu danken sind, kann hier gesprochen werden, obgleich damit manche wertvolle und an neuen Ergebnissen überreiche Untersuchung unerwähnt bleiben muß.

Die Lust zum Versenken in das, was einst gewesen, ist S. GÜNTHER von der Heimatstadt mitgegeben worden, dem alttraulichen Nürnberg, in dem die deutsche Vergangenheit zu eindrucksvoller Gegenwart wird. Hier ist S. GÜNTHER am 6. Februar 1848 geboren worden, als Sonntagskind, Das Studium der Naturwissenschaften und der Mathematik führte ihn während der Jahre 1865 bis 1870 an die Universitäten zu Erlangen, Heidelberg, Leipzig, Berlin sowie Göttingen und fand einen kriegerischen Abschluß durch den deutsch-französischen Feldzug, der ihn unter die Fahnen rief. Nach kurzer Lehrtätigkeit an der Lateinschule zu Weissenburg (1872) wurde er in Erlangen und dann am Polytechnikum zu München Privatdozent. Während der Jahre 1876–86 wirkte er als Professor für Mathematik und Physik am Gymnasium zu Ansbach und folgte dann einer Berufung zum ordentlichen Professor für Erdkunde an der technischen Hochschule zu München.

2
Wollte man den Versuch wagen ein Gesamtbild seiner Studien Geschichte der Mathematik und der exakten Naturwissenschaften zu entwerfen, so käme man durch ihre große Zahl und die Mannigfaltigkeit des Inhalts in große Verlegenheit. Das Handwerkszeug, das den Historikern der exakten Wissenschaften eigen ist, behebt diese Schwierigkeiten. In POGGENDORFFS Handwörterbuch verkündet eine lange, stattliche Reihe von Titeln die reiche Fülle von S. GÜNTHERS wissenschaftlicher Betätigung. Und was dort nicht aufgenommen werden konnte, hat in diesen „Mitteilungen“ Platz gefunden. Der Eigenart des hervorragenden, auf vielen Gebieten im Gesamtsystem menschlichen Wissens bewährten Forschers würde eine bloße Aufzählung seiner Studien nicht gerecht. Darum wollen wir mehr nach dem Wie als nach dem Was und Wo sehen. Welche von seinen Schriften man auch zur Hand nehmen mag, immer findet man das umfangreiche Material mit solcher Gründlichkeit, begrifflicher Klarheit und strenger Gewissenhaftigkeit durchgearbeitet, daß keine unsicheren Hypothesen voller Künsteleien aufkommen und daß kein Wort zurückgenommen werden muß. Während das Auge scharf auf das Ziel gerichtet ist, wird manche tiefer liegende Frage angeschnitten und auf parallele Probleme hingedeutet. Die meist sehr reichen Zusatzbemerkungen liefern wichtige sachliche Richtigstellungen und werden selbst zu einer neuen, zum Schürfen einladenden unerschöpflichen Fundstätte. Da ihm die Gabe des Wortes in hohem Grade eigen ist, lesen sich seine Untersuchungen sehr angenehm, ein Vorzug, den man bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen leider so oft missen muß. Das längst Vergangene wird bei ihm zu frischer Wirklichkeit und spendet uns einem Boden, der lange brach gelegen, neue Ausbeute, die die Forschung stets einen tüchtigen Schritt vorwärts tun läßt.

Manches gründliche und fein angelegte Buch, dem ein anderer Verfasser wohl einen nichthistorischen Charakter gegeben hätte, wurde unter der Feder des vielbelesenen und erfahrenen Forschers zu einem Muster geschichtswissenschaftlicher Schilderung und schuf wichtige Ausgangspunkte für die Wege historischen Durchdringens. Bei jedem Werke dieses Schlages — mag man aus früherer Zeit das „Handbuch der mathematischen Geographie“ (1890) oder aus den letzten Jahren die „Vergleichende Mond- und Erdkunde“ (1911) als Beispiel wählen — kann man sich des Gefühls nicht entschlagen, daß die erfreuliche Steigerung der Teilnahme an der Geschichte

3
unserer Wissenschaften sich in hohem Grade aus den Untersuchungen ableiten läßt, an die S. GÜNTHER seine niemals arbeitsmüde Hand gelegt hat. Das wachsende Interesse an historischen Studien auf naturwissenschaftlichem Gebiete findet zwar leider aus Gründen, die hier nicht zur Erörterung stehen, in den Kreisen unserer Universitätslehrer weniger Widerhall als anderwärts. S. GÜNTHER hat diese wunde Stelle mehrfach aufgedeckt und mit frischem Mute, dem jede Halbheit zuwider ist, zur Heilung aufgefordert. Den ihm vorschwebenden Grundgedanken, die in dem Kreise unserer Gesellschaft treue und arbeitseifrige Freunde gefunden haben, widmete er selbst durch geeignete Vorlesungen ein wertvolles Stück seiner öffentlichen Lehrtätigkeit. Hier wurzelt auch seine weitausgreifende „Geschichte der Naturwissenschaften“, die als kleines Buch mit großem Inhalt verhältnismäßig rasch ihre Zweitauflage (1909) erlebt hat. Die Schwierigkeit der gedrängten Darstellung für die letzten hundert Jahre kann selbst der Nichtfachmann ermessen, wenn er des gleichen Verfassers „Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften“ (1901) zur Hand nimmt und in dem stattlichen Buche die mächtige Entfaltung wichtiger Wissensgebiete nachempfindet.

Das feine Einfühlen in die Ideengänge früherer Zeiten und das liebevolle Versenken in die Gedankenwelt großer Naturforscher verspürt man beim Lesen der verschiedenen Bücher, die S. GÜNTHER der Erinnerung an Leben und Werk von COLUMBUS, ADAM VON BREMEN, KEPLER, GALILEI, JAKOB ZIEGLER, ALEXANDER VON HUMBOLDT, LEOPOLD VON BUCH, LICHTENBERG und VARENIUS geweiht hat. Wer so aus dem Vollen schöpfen kann und in die Geschichte der Naturwissenschaften Licht bis in die verborgensten und dunkelsten Ecken gebracht hat, ist auch der richtige Mann einem Unternehmen, wie es diese „Mitteilungen“ sein sollen und sind, die leitende Hand für das eigene Arbeitsfeld zu bieten. Das Erbe KAHLBAUMS ist bei ihm in sicherer Hut seit den Tagen, da jener der allmächtigen Natur den schuldigen Tribut gezollt hat. S. GÜNTHERS zahlreiche, nein zahllose Besprechungen, die vom Geiste ruhiger Sachlichkeit erfüllt sind, aber vor der scharfen Waffe strenger Kritik gegen unwissenschaftliches Gebaren keinesfalls zurückschrecken, bilden einen integrierenden Bestandteil der naturwissenschaftlichen Abschnitte dieser Blätter.

Trotz der großen Schwierigkeiten, die draußen im Feindesland

4
die Pflege wissenschaftlichen Forschens naturgemäß zu überwinden hat, sehen wir S. GÜNTHER im unermüdlichen Dienst für unsere Gesellschaft. Ein Zeichen des Dankes für sein Mühen um uns und unseren jugendlich aufstrebenden Wissenszweig sollen diese Zeilen sein, mit denen die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften die aufrichtigsten und herzlichsten Glückwünsche zu senden sich erlaubt. Daß er noch lange Gesundheit und Kraft behalten möge, um auch in kommenden Tagen, denen die Friedenssonne neubelebend strahlt, noch herrliche Früchte eigenen Mühens einzubringen und sich des Blühens und Reifens seiner Anregungen zu erfreuen, sei eingeschlossen in die Wünsche, die von Mitarbeitern und Freunden dem unermüdlichen Pfleger der Geschichte exakter Wissenschaft, dem verehrten Meister zum siebenzigsten Geburtstag dargebracht werden.


Auch den unterzeichneten langjährigen Mitredakteur an den „Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften“ drängt es, vor allen Lesern der Zeitschrift unserer Gesellschaft seinem Arbeitsgefährten glückwünschend die Hand zu reichen, ihm zu danken für treue Genossenschaft nunmehr im 12. Jahre und ihn um weiteres Ausharren am Posten der redaktionellen Arbeit zu bitten, auch namens des Vorstandes unserer Gesellschaft

In Treuen ergeben und dankbar
Leipzig, den 1. Januar 1918.       Karl Sudhoff.


Quelle:
Kistner, Adolf (1878-1940): Zu S. Günthers siebenzigstem Geburtstag
In: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. — 17 (1925), S. 1–4


Letzte Änderung: Juli 2016     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis     Siegmund Günther