Günther, SiegmundMathematiker und Geograph
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von Ludwig Günther (München) |
Nachdem er das Melanchthon-Gymnasium seiner Vaterstadt durchlaufen, wandte sich im Oktober 1865 der 17½ Jahre alte Jüngling der benachbarten Universitätsstadt Erlangen zu, um sich dem Studium der Mathematik und Physik zu widmen. Nach drei Semestern begab er sich an fremde Hochschulen: Heidelberg, Leipzig, Berlin, Göttingen zogen ihn an. Im Jahre 1869 kehrte er nach Erlangen zurück und promovierte im Mai 1870 an dieser Hochschule zum Dr. phil. Der Tigtel seiner Dissertationsschrift war: „Studien zur theoretischen Photometrie“.
In Erlangen war er noch 1865 als Fuchs bei der Burschenschaft der Bubenreuther eingesprungen, an deren geselligem Treiben er sich mit voller Jugendlust beteiligte, ohne darüber die Pflege seiner Studien zu vernachlässigen. Die ersnten Grundsätze dieser Studentenverbindung sind zeitlebens Richtpunkte seines Lebens geblieben; zeitlebens hat er den dort gewonnenen Freunden die Treue bewahrt; es verging kein Wiedersehensfest, an dem er nicht teilgenommen hätte, jung mit den Jungen auch im höchsten Alter — ein grundlegender (Seite 205) Zug seines Lebens, der alle, die ihm jeweils näher traten, anzog. Nie hätte eine seiner beliebten, bald heiteren, bald ersten Ansprachen fehlen dürfen.
Das Krisenjahr 1866 ging an dem Jüngling wohl noch ohne tieferen Eindruck vorüber. Um so stärker stürmten die Ereignisse der Jahre 1870/71 auf ihn ein, so machtvoll, daß er nach Verkündung der Kriegserklärung als kriegsfreiwilliger Jäger in das damals in Erlangen liegende 6. bayer. Jägerbataillon eintrat.
Mit zehn Bundesbrüdern und vielen anderen Freiwilligen dem sofort ins Feld abtransportierten Batillon als Ersatztruppe nachgesandt, erreichte er dasselbe am 1. September auf dem Schlachtfeld von Sedan, marschierte in seinem Verbande vor Paris und nahm teil an dem äußerst beschwerlichen Vorpostendienst in Bourg-la-reine, südlich von Paris. Doch mußte er die Truppe im Januar 1871 verlassen, als er, an Hungertyphus schwer erkrankt, ins Etappenlazarett von Lagny verbracht wurde. Dank der treuen Fürsorge eines Vetters, Otto Neupers, der ihn in diesem Lazarett unter hunderten glücklich auffand, durfte der schon im Dezember 1870 zum Junker Ernannte die Fahrt nach der Heimat antreten, wo er sich in der sorglichen mütterlichen Pflege rasch erholte. Der Vater war schon 1868 gestorben. Nach Friedensschluß bildete der inzwischen zum aktiven Sekondelieutenant vorgerückte Dr. phil. in Neu-Ulm Rekruten aus, was ihm aber gar nicht behagte und ihn von der Teilnahme an weiteren Offiziersübungen abhielt.
Nach Ablegung des Lehramtsexamens für Mathematik und Physik fand Günther Anstellung als Assistent an der Lateinschule in Weißenburg i. B. Dies war ihm um deswillen besonders erwünscht, als es ihm da ein leichtes war, wöchentlich einmal oder auch mehrere Male hinüberzupilgern zu dem etwa eine Gehstunde weit entfernten Pfarrdörfchen Dettenheim, wo seine Verlobte wohnte, Marie Weiser, die zweite Tochter des dortigen Pfarrherrn Wilhelm Weiser und seiner Ehefrau Luise, geb. Geret, die in diesem Dörfchen am 6. September 1852 geboren worden war. Im Jahre 1872 am Sedantage, dem 2. September, schlossen Siegmund und Marie den Lebensbund, den der Vater der Braut in der Dorfkirche einsegnete.
Das junge Paar siedelte nach Erlangen über, wo sich Siegmund Günther 1872 als Privatdozent für Mathematik habilitiert hatte. Doch war seines Bleibens dort nicht lange; schon 1874 verzog es nach München, wo Günther an der Technischen Hochschule in gleicher Eigenschaft, wie in Erlagen tätig war. Aber auch dort sollte er die (Seite 206) Ruhe nicht finden, die er für seine wissenschaftlichen Arbeiten so dringend nötig hatte.
Aus gelegentlichen Mitteilungen seiner Mutter hat der Verfasser entnehmen können, daß jene Zeit eine Zeit heißen inneren Ringens für den Vater war. Die akademische Laufbahn schien ihm verschüttet, sein Lieblingswunsch damit unerfüllbar. Da faßte er einen mannhaften Entschluß; er gab alle hochfliegenden Pläne auf, indem er sich an das bayerische Kultusministerium wandte mit dem Ersuchen, ihn als Lehrer der Mathematik an einer Mittelschule anzustellen. Im Jahre 1876 wurde er an das humanistische Gymnasium in Ansbach berufen und zwar gleich als Gymnasialprofessor; 10 Jahre sollte Günther in der kleinen freundlichen Kreisstadt zubringen — keine kleine Aufgabe für einen Geist wie den Siegmund Günthers. Er suchte und fand Ablenkung in politischer und hochgespannter literarischer Tätigkeit. Sein Wirken als Lehrer in Ansbach war ein gesegnetes: mit der Gabe, auch schwierige mathematische Aufgaben gemeinverständlich zu gestalten, verband er große persönliche Güte, gepaart dort, wo es nottat, mit Strenge; so kam es, daß ihn seine Schüler schon auf der Schule verehrten und ihm im späteren Leben Hochachtung und Dankbarkeit bewahrten.
Seiner wissenschaftlichen Erstlingsarbeit, der Erlanger Habilitationsschrift „Darstellung der Näherungswerte von Kettenbrüchen in independenter Form“ (1873) ließ er folgen im Jahre 1875 „Das independente Bildungsgesetz der Kettenbrüche“, im gleichen Jahre „Lehrbuch der Determinantentheorie für Studierende“, das zwei Auflagen erleben sollte, 1876 „Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften“, 1878 „Grundlehren der mathematischen Geographie und elementaren Astronomie“ (5. Auflage 1900).
Waren Günthers Arbeiten bis dahin der Mathematik und Physik allein gewidmet, so befassen sie sich jetzt vorzugsweise mit Geographie, aber mit einem Zweig derselben, der den obenerwähnten Wissensgebieten eng verwandt ist: mit der mathematischen und physikalischen Geographie.
Die Geographie war damals noch ein Aschenbrödel unter den verschiedenen Wissenschaftszweigen; es bestanden nur wenige Lehrstühle für dieses Fach und diese waren alle mit philologisch-historisch orientierten Lehrern besetzt. Von der schon seit langem vorhandenen Hinneigung der Geographie zu den Naturwissenschaften nahm man nur insofern Notiz, als man sie dann zur Geologie zählte. Ein anerkanntes Lehrfach war ja schon lange die mathematische Geographie; (Seite 207) nur gehörte sie eben zur Mathematik, unter Umständen auch zur Astronomie.
Günther befaßte sich zunächst damit, die Entwicklungsgeschichte der naturwissenschaftlich orientierten Geographie zu studieren; die Ergebnisse seiner geschichtlichen Forschungen legte er nieder in einem Sammelwerk: „Studien zur Geschichte der mathematischen und physikalischen Geographie“, 6 Hefte mit 6 Einzelahandlungen umfassend, etwa 400 Seiten stark.
Ganz löste er sich aber von der Mathematik nicht los; neben einigen kleineren Aufsätzen und Abhandlungen geschichtlichen und mathematischen Inhalts veröffentlichte Günther 1881 „Die Lehre von den gewöhnlichen und verallgemeinerten Hyperbelfunktionen“, ein Werk, das anscheinend noch heute richtungsgebend ist. Dann aber neigt sich die Wagschale der Veröffentlichung immer mehr nach der geographischen Seite. Nachdem 1882 in den Abhandlungen der K. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag eine geographisch-historische Abhandlung „Peter und Philipp Apian, zwei deutsche Mathematiker und Kartographen, ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts“ erschienen war, überraschte er die wissenschaftliche Welt 1884 mit dem 1. Band eines großzügig angelegten Werkes: „Lehrbuch der Geophysik und Physikalischen Geographie“, dem schon im folgenden Jahre, 1885, der 2. Band folgte. Wenn man bedenkt, daß der erste Band 418 Seiten hat, der zweite Band gar 671 Seiten enthält, wenn man ermißt, daß darin die Grundzüge der Lehre der Astronomie, Meteorologie, Kartographie enthalten sind, daß dasselbe in einer kleinen Landstadt, fernab von den Bibliotheken des großen Städte, fernab von regelmäßigen Verkehr mit Fachgenossen geschrieben wurde und zu einer Zeit, da der junge Gelehrte als eifriger Parlamentarier lange Wochen in Berlin zubrachte, so wird man zugeben müssen, daß man es bei dem „Lehrbuch der Geophysik“ mit einem unter außergewöhnlichen Umständen verfaßten Werk zu tun hat. Auch das muß man im Auge behalten, daß sein Verfasser gleichzeitig noch unausgesetzt Artikel wissenschaftlichen und politischen Inhalts verfaßte, Bücherbesprechungen u. dgl. m.
Die Riesenleistung ist bloß durch die ungewöhnlich große Konzentrationsfähigkeit Günthers, unterstützt durch ein umfassendes Wissen und ein ausgezeichnetes Gedächtnis, möglich gewesen. Was einmal niedergeschrieben war, blieb stehen; Zeile fügte sich in enger Folge an Zeile; in gleichmäßiger Geschwindigkeit glitt die Feder über das (Seite 208) Papier; Umänderungen kamen einfach nicht vor. Was da auf rund 1100 Seiten an wissenschaftlichem Material zusammengetragen war über ein sehr ausgedehntes, aber doch genau umgrenztes Wissenschaftsgebiet, das bedeutete geradezu die Fundamentierung der jungen Wissenschaft der physikalischen Geographie.
Die wissenschaftliche Welt hat der wissenschaftlichen Leistung des Gymnasialprofessors in Ansbach alle Anerkennung zuteil werden lassen; die Besprechungen waren alle rückhaltlos aner kennend, ja bewundernd. Albrecht Penck erklärte in seiner Besprechung des ersten Bandes des „Lehrbuchs der Geophysik“, daß es doch wohl höchste Zeit sei, einen Gelehrten, der ein solches Werk zu schaffen imstande sei, an die Stelle zu bringen, die einzig und allein für ihn in Frage käme, auf einen Hochschullehrstuhl für Geographie.
In der Tat war Günthers ganzes Streben auf dieses Ziel gerichtet. Ein großes Hindernis war es, daß Günther einige einflußreiche Gegner in der Wissenschaft hatte, die seine Art, wissenschaftlich zu arbeiten, nicht verstehen konnten und als wahres Ziel des wahrhaft wissenschaftlich arbeitendes Mannes die Beschränkung auf ein bestimmtes wissenschaftliches Gebiet ansahen. Sie verkannten, daß Günther nur einem tiefen inneren Drang folgte, wenn er schrieb, daß alles gut war, was er schrieb, und daß er spielend leicht schrieb. Gerade um jene Zeit (1886) findet sich eine sehr unfreundliche Kritik über Günthers 2. Auflage der „Grundlehren der mathematischen Geographie und elementaren Astronomie“, die einzige ungünstige Besprechung, die unter den vielen im Nachlaß vorgefundenen Rezensionen angetroffen wurde, was um so bemerkenswerter ist, als frühere und spätere Besprechungen des gleichen Werkes sehr anerkennend lauteten.
Ein weiteres Hindernis für eine Berufung Günthers war seine politische Einstellung als sehr tätiges Mitglied der Freisinnigen Partei Eugen Richters, die man als antinational bezeichnete. Die sehr scharfe Gegnerschaft gegen Bismarcks einseitige Innenpolitik, welche diese Partei betrieb, war die Ursache zur Verfehmung derselben durch Bismarck. Kein Kultusminister in Preußen hätte es wagen dürfen, Günther auf einen preußischen Hochschullehrstuhl zu berufen; hat ihm ja das preußische Kultusministerium nicht einmal seine um 1885 erfolgte Wahl als Direktor des städtischen Realgymnasiums in Wiesbaden bestätigt. Über die politische Tätigkeit Günthers wird noch zu sprechen sein; aber schon jetzt kann gesagt werden, daß der Vorwurf antinationaler Gesinnung niemand weniger treffen konnte als den kaiserlichen Demokraten Günther, wie ihn ein Freund nannte.
(Seite 209) Aber auch der bayerische Kultusminister von Lutz hatte Bedenken, den als radikal verschrienen Mann einem Hochschullehrstuhl anzuvertrauen, und es bedurfte eines starken Drucks von seiten einiger einflußreicher Freunde Günthers, um diese Bedenken zu beschwichtigen, als 1886 der damals einzige ordentliche Lehrstuhl für Geographie in Bayern, an der Technischen Hochschule in München, frei wurde durch den Wegzug seines bisherigen Inhabers Friedrich Ratzels nach Leipzig. So wurde Günther auf ihn berufen. Im Oktober 1886 trat Siegmund Günther sein akademisches Lehramt an, das höchst ehrenvoll für ihn, höchst segensvoll für seine Schüler wie für Bayerns höhere Schulen werden sollte.
Seine Hörer setzten sich nämlich neben Angehörigen des Zollfachs aus Angehörigen eines bestimmten Lehrfachs, der Germanistik, zusammen. Diese studierten außerdem noch deutsche Philologie und Geschichte. Was sie aus ihres Hochschullehrers Mund empfangen hatten, das gaben sie weiter an ihre Schüler an Realgymnasien und Realschulen. Höchst bedauerlich ist es, daß nicht auch den Schülern der Gymnasien Günthers Lehren mittelbar zuteil wurden. Aber an diesen Schulen ist noch heute die Erdkunde ein Stiefkind; sie wird dort von Altphilologen gelehrt, die im allgemeinen keine oder doch nur eine ganz oberflächliche Ausbildung in der Erdkunde erfahren haben. 1886 und noch später lag die Pflege der Erdkunde an Mittelschulen ganz im argen, sie war auch hier noch ganz eine philologisch-historische Wissenschaft; die Hinneigung, ja der Übergang der Geographie zur Naturwissenschaft war in Bayern ganz unbekannt geblieben. Günthers großes Verdienst war es, die Schulgeographie auf ihre richtige Basis gestellt und ihr eine würdige Stellung im Lehrplan verschafft zu haben. Auch auf dem Gymnasium wird sie heutzutage als Wirtschaftsgeographie in den oberen Klassen gelehrt.
Die Reform des Unterrichts in der Geographie an Mittelschulen leitete Günther dadurch ein, daß er 1889, in Gemeinschaft mit seinem Freunde Wilhelm Goetz, Lehrbücheer für diese Schulen verfaßte, die mehrere Auflagen erfahren haben. Die literarische Tätigkeit Günthers steigerte sich jetzt, wo er den Quellen der Wissenschaft so nahegerückt war, wenn möglich noch höher: 1887 erschien „Die Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter bis 1825“ in Kehrbachs „Monumenta Germaniae paedagogica“ (III. Band)
Ein neues, aber ihm nicht fremdes Gebiet behandelte Günther 1889 in einer Schrift von 304 Seiten, betitelt: „Die Meteorologie, ihrem neuesten Standpunkt gemäß mit besonderer Berücksichtigung geographischer Fragen dargestellt“. (Seite 210) Damit reklamiert er diesen Zweig der Naturwissenschaft für die physikalische Geographie. Nicht übergangen darf hier werden der Vortrag, den Günther 1880 auf der Versammlung des Deutschen Realschulmännervereins hielt, dessen Titel lautet: „Über den Bildungswert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und über die denselben an den verschiedenen Bildungsanstalten zugewiesene Stellung“. Im gleichen Jahr erscheint eine weitere Lebensbeschreibung eines berühmten Gelehrten aus der Feder Günthers: „Martin Behaim, ein Sohn Nürnbergs und hervorragender Forschungsreisender im Zeitalter der Entdeckungen“.
1890 wird auch eine Neuauflage, die dritte, des 1886 so schlecht beleumundeten Buches: „Grundlehren der mathematischen Geographie usw.“ nötig, wohl die beste Widerlegung der früheren scharfen Kritiker. Dann erschien als größeres Werk: „Handbuch der mathematischen Geographie“ als Band 6 der „Bibliothek geographischer Handbücher“ im Umfang von 794 Seiten. Kaum weniger umfangreich (508 S.) ist das 1891 herausgegebene „Lehrbuch der physikalischen Geographie“. 1892 übernimmt Günther die Schriftleitung der geographischen Zeitschrift „Das Ausland“ und führt sie bis 1903, in welchem Jahre die Zeitschrift mit einer anderen eines großen geographischen Verlags verschmolzen wird.
Für Iwan v. Müllers „Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft“ verfaßt Günther 1894 einen „Abriß der Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaft im Altertum“ (96 S.). Ein neues Gebiet seiner wissenschaftlichen Durchdringung tut sich damit auf: die Geschichte der Naturwissenschaft, zu der ja auch die Geographie zählt. Das Bändchen 26 der Sammlung Goeschen „Physikalische Geographie“ erhält 1895 die 2. Auflage. Auf 128 Seiten kleinen Formats sind hier die wichtigsten Tatsachen dieses Wissenszweiges dargestellt — ein Gegenstück zum umfangreichen „Lehrbuch der physikalischen Geographie“. Auf eine Monographie „Jakob Ziegler, ein bayerischer Geograph“ und zwei weitere „Johannes Kepler“ und „Galileo Galilei“ (mit dem er sich früher schon eingehend beschäftigt hatt), Bd. 23 der Sammlung „Geisteshelden“, 223 Seiten, beide 1896 erschienen, folgt 1897 der 1. Band von „Handbuch der Geophysik“ (der vollkommen umgearbeiteten Auflage von „Lehrbuch der physikalischen Geographie“), 648 Seiten. Hatte schon die erste Auflage großes Aufsehen erregt, so tat es die zweite nicht minder; zeigte sie doch wieviel tiefer der Verfasser in den Stoff eingedrungen und wieviel neue Schätze zu heben es ihm vergönnt war.
(Seite 211) Das Jahr 1898 ist nach einer Zusammenstellung seiner Werke das am wenigsten ergiebige im Leben Günthers; das ist verständlich: denn in demselben wurde ihm sein einziges Töchterchen und jüngstes Kind nach 3 Söhnen, Clärchen, vom Tode nach langem, schweren Krankenlager entrissen. Der Schmerz der Eltern war grenzenlos; er lähmte sogar die große Schaffenskraft des Vaters. Allein nicht auf lange. Schon im darauffolgenden Jahr, 1899, wird der 2. Band des „Handbuchs der Geophysik“ ausgegeben, „um den Schmerz durch intensive Arbeit zu betäuben“, wie sein Verfasser sagte. Dieser Band ist noch umfangreicher als der erste Band der gleichen Auflage, 1009 Seiten; beide Bände zusammen enthalten fast 3000 Noten. Die „Geophysik“ Günthers wurde der vielbefragte Berater aller, die auf geophysikalischem Gebiete arbeiten.
Das Jahr 1900 sieht Günther als außerordentliches Mitglied der Kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften in München, deren ordentliches Mitglied er später auch noch wurde, nachdem er schon ein Jahrzehnt lang Mitglied der kaiserlich Leopoldinisch-Karolinischen Akademie in Halle a. S. war. Nicht weniger als 13 eigene Abhandlungen hat Günther der Akademie vorgelegt, außerdem noch viele Arbeiten anderer Autoren. 1914 hält er die Festrede aus Anlaß der 155. Wiederkehr des Gründungstages der Akademie. Auf eine kleinere Schrift „Lichtenberg und die Geophysik“ 1899 folgt 1900 die Doppelbiographie „Alexander von Humboldt“ und „Leopold von Buch“ Bd. 39 der Sammlung „Geisteshelden“ (271 Seiten).
Eine 1901 zum erstenmal erschienene gemeinverständliche Darstellung des „Zeitalters der Entdeckungen“ (Bd. 26 von „Natur und Geisteswelt“) findet so großen Anklang, daß bis 1921 nicht weniger als 5 Auflagen nötig werden.
1901 macht sich die neue Umstellung im Geiste Günthers deutlicher bemerkbar, die schon oben (bei Iwan v. Müllers Handbuch) sich andeutet: Die Ausdehnung des Interesses auf die Geschichte der Naturwissenschaft „Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert“ als Band V der Sammlung: „Das 19. Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“ lautet der Titel eines 984 Seiten dicken Buches, davon nicht weniger als 36 Seiten Namensverzeichnis. 1902 erschien in Goeschens Sammlung als Nr. 92 die „Astronomische Geographie“ (170 S.), im gleichen Jahr „Die Entdeckungsgeschichte und die Fortschritte der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert“, Bd. 23 der Sammlung „Am Ende des 19. Jahrhunderts“.
(Seite 212) Das Jahr 1903 ist in der Geschichte der Technischen Hochschule München ein bedeutsames Jahr: es wurde ihr eine neue Verfassung verliehen, zugleich das Recht, einen Rektor Magnifikus zu wählen (an Stelle der Ernennung eines Direktors) und den Titel des Doktor-Ingenieurs zu verleihen. An diesen Erfolgen war Günther hervorragend betätigt vor allem als Mitglied des Bayerischen Landtags und Korreferent für den Kultusetat.
Im Jahr 1905 entstand die Biographie „Varenius“, eines wenig bekannten deutschen Geographen, als Bd. 4 der Sammlung „Klassiker der Naturwissenschaften“ (212 S.). Als kürzlich am Wohnhause dieses Gelehrten in Waren i. M. eine Gedenktafel angebracht werden sollte, teilte dies der Pfarrer des Städtchens Günther mit. Allein diese Nachricht traf Günther nicht mehr unter den Lebenden; sie würde ihn sehr gefreut haben.
1906 wird Günther Mitherausgeber der Zeitschrift „Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften“, zusammen mit K. Sudhoff und G. A. W. Kahlbaum. Die zahlreichen Bände dieser Zeitschrift enthalten in Gestalt von selbständigen Aufsätzen und Besprechungen eine Unsumme von geistiger Arbeit ihrer Herausgeber. Im gleichen Jahr zusammen mit Alfred Kirchhoff: „Didaktik und Methodik des geographischen Unterrichts“.
Größere Veröffentlichungen aus 1907 und 1908 liegen nicht vor. 1909 erscheint als Nr. 5069/70 der Reclamschen Universalbibliothek aus der Feder Günthers: „Geschichte der Naturwissenschaft“, 1. Teil. In einem Büchlein von dem bekannt kleinen Format ist eine höchstkonzentrierte Darstellung der alten und mittelalterlichen Naturgeschichte enthalten. 1911 erscheint der 2. Teil dieser „Geschichte“, die Neuzeit enthaltend, unter den Nrn. 5071/74. Beide Bücher bilden Bd. 2 und 3 einer von Günther herausgegebenen Sammlung „Bücher der Naturwissenschaft“.
Als 1911 Günther einstimmig zum Rektor Magnifikus seiner Hochschule gewählt wird, nimmt er die Ehrung dankend an. Seine Festrede bei der akademischen Feier der Inauguration führt den Titel: „Arbeitsteilung und wissenschaftliche Allgemeinbildung“.
„Vergleichende Mond- und Erdkunde“ lautet der Titel eines 1911 erschienenen Buches, Heft 37 der Sammlung „Wissenschaft“. Es ist sein letztes größeres Werk.
Die Jahre 1912, 1913, 1914 verlaufen in Rektorats- und Professorengeschäften ohne Veröffentlichung größerer Werke. Still bleibt die Feder des rastlos tätigen Mannes deswegen aber doch nicht liegen; (Seite 213) viele kleinere Arbeiten verlassen Günthers Schreibtisch. Als im Jahre 1914 der Weltkrieg ausbrach, vertauschte Günther wie 1870 die Feder wieder mit dem Säbel. Die meisten seiner Hörer ziehen ins Feld, der Hörsaal ist leer; auch er verläßt ihn. Da er aber bereits 67 Jahre zählte, kam für ihn eine Tätigkeit bei einer Kampftruppe nicht mehr in Frage; er begnügte sich mit einer wissenschaftlich-militärischen, wie es ihrer im Weltkrieg ja so viele gab. Zuerst war er als Oberleutnant d. L. wissenschaftlicher Hilfsoffizier im bayerischen Kriegsarchiv in München. Doch litt es ihn in der Ruhe dieser Stadt nicht länger; er mußte hinaus ins Feld. Auf Rat seines ältesten Sohnes bewarb er sich um eine Stelle als Leiter einer Feldwetterwarte. Gerade als die Aufforderung kam, die Feldwetterwarte in Antwerpen zu übernehmen, ereilte ihn die Nachricht vom Heldentode seines jüngsten Sohnes, Rechtsanwalts Otto Günther in München, der als Offizierstellvertreter im 16. Reserve-Inf.-Regt (List) stand: eine schwere englische Granate hatte nach erfolgreicher Abwehr eines feindlichen Angriffs bei Fromelles (westlich Lille) den Unterstand zerschlagen und viele Insassen getötet. In Fournes liegt Otto Günther begraben; das Grab ist noch heute gut erhalten. Schwer fiel es Siegmund Günther, seine Gattin gerade in dieser schweren Zeit zu verlassen — er hielt es für seine Pflicht, die einmal übernommene Aufgabe zu erfüllen —, und seine Gattin war die letzte, die ihn zurückgehalten hätte. Still trug sie ihren Schmerz allein. Gleichzeitig mit seiner Einberufung wurde Günther zum Hauptmann d. L. a. D. befördert.
Die militärisch-wissenschaftliche Tätigkeit in Antwerpen sagte Günther sehr zu. Als aber 1917 der Bayerische Landtag seine Sitzungen wieder begann, da sah sich Günther gezwungen, um Enthebung von seiner Stelle zu bitten. Er wurde dafür Kommandeur des gesamten, selbständig gewordenen bayerischen Feldwetterdienstes in München. In dieser Eigenschaft konnte er seine großen Kenntnisse in der Meteorologie noch besser im Dienste des Vaterlandes verwerten. Inspektionsreisen führten ihn des öfteren an die Front; wie schon früher, so ging es auch jetzt bis in die vordersten Gräben vor. Das Eiserne Kreuz II. Klasse, das er noch in Antwerpen für seine Dienste erhielt, war schon von 1870 her wohlverdient, wo er einen gefahrvollen Patrouillengang gemacht hatte, der wichtige Aufklärung brachte. Seine Frontreisen hatten den ausgesprochenen Zweck, Material zu sammeln für Aufsätze in gemeinverständlich-wissenschaftlichen Zeitschriften über das Thema „Geographie und Krieg“. So anspruchslos diese Aufsätze an sich sind, so enthalten sie dochallerlei Wissenswertes, offenbaren (Seite 214) sie uns die große Belesenheit ihres Verfassers auch auf militärischem Gebiet, nebenbei bemerkt, von jeher ein Lieblingsgebiet Günthers. Es ist überhaupt kennzeichnend für die wissenschaftliche Tätigkeit Günthers in späteren Jahren, daß er selbst ganz kleinen Aufsätzen hochwissenschaftlichen Charakter zu verleihen vermochte dadurch, daß er sie mit einer Anzahl von Zitaten ausstattete. Wie Günthers militärische Fähigkeit endigte, das soll am Schlusse der Besprechung seiner politischen Tätigkeit ausgeführt werden. Sein letztes wissenschaftliches Werk hat er 1922 der Akademie vorgelegt; der Titel ist: „Eine Kartierung Oberschwabens um die Wende des 19. Jahrhunderts“.
An äußeren Ehrungen hat es Günther nicht gefehlt: seine Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften in München, zum korrespondierenden Mitglied der kaiserlich Leopoldinischen Akademie in Halle a. S., zum Ehrenmitglied von vielen wissenschaftlichen Vereinen waren Anerkennungen seiner großen Verdienste um die Wissenschaft. Besonders hervorzuheben ist noch die Verleihung der Eduard Rüppell-Denkmünze der Gesellschaft für Geographie und Statistik in Frankfurt a. M. 1917, dem Ernst und der Not der Zeit entsprechend nicht in Gold, sondern in Eisen: „Siegmund Günther für hervorragende Verdienste“ ist ihr eingraviert. Sie wird nur alle fünf Jahre verliehen und gewöhnlich nur an Forschungsreisende und andere praktische Förderer der Geographie. Eine letzte Freude war Günther die 1922 erfolgte Ernennung zum Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaft in Mexiko in Anerkennung seiner Verdienste um die Förderung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko.
An Orden besaß Günther das Verdienstkreuz des Ordens vom hl. Michael, ferner den k. bayer. Kronenorden, mit dem für den Dekorierten das Recht verbunden war, sich für seine Person in den Adelsstand erheben zu lassen. Als wahrlich demokratisch empfindender Mann hat Günther niemals die hiezu notwendige Eingabe gemacht. Sein Stolz waren das E. K. II von 1914 und die Kriegsdenkmünze von 1870/71.
Eine Lebensbeschreibung Siegmund Günthers wäre nicht vollständig, wenn sie nicht seiner politischen Tätigkeit ausführlicher gedächte. Wie schon erwähnt, hat Günther der von Eugen Richter gebildeten Freisinnigen Partei angehört, als er seine politische Laufbahn begann. Er hatte sich dieser Partei angeschlossen, nachdem er 1876 (Seite 215) in Nürnberg als Abgeordneter aller liberal gesinnten Männer dieses Wahlkreises gewählt worden war. Als der damals gewählte Reichstag vorzeitig (1880) aufgelöst worden war, ließ er sich bei der Neuwahl in einem Berliner Wahlkreis als freisinniger Kandidat aufstellen und wurde auch gewählt. Nach Ablauf dieser Wahlperiode (1884) verzichtete er auf eine Wiederaufstellung, um sich ganz seinen literarischen Arbeiten zu widmen, die sich damals auf die Herausgabe der „Geophysik“ konzentrierten. Ganz hat er deswegen dem politischen Leben sich nicht entfremdet; bei Wahlversammlungen sah man ihn häufig als Redner auftreten. 1892 ließ er sich als Kandidat der vereinigten Liberalen in der Ersatzwahl des Wahlkreises Kempten-Lindau für den bayerischen Landtag aufstellen; es gelang, mit seiner Person den Wahlkreis dem Liberalismus zu erhalten. Nach Beendigung dieser Wahlperiode zog er sich wieder ins Privatleben zurück, bis die ungünstige Lage des politischen Liberalismus in Bayern des Jahres 1907 ihn abermals zur Annahme eines Mandats für den Landtag veranlaßte. Dieses Mandat behielt er auch bei der Wahl von 1911 bei. Dann kam der Krieg, der die Mandaate aller Abgeordneten auf unbestimmte Zeit verlängerte. Günther nahm, als Landwehroffizier, an den Sitzungen teil, bis die Revolution den Landtag sprengte und Neuwahlen ausschrieb, an denen er sich aber nicht mehr als Kadidat beteiligte.
Soweit die äußeren Daten von Günthers politischer Laufbahn; nun noch einige Erläuterungen dazu, soweit sie für die Kennzeichnung von Günthers politischer Entwicklung notwendig sind.
Günther hat einmal in späten Jahren von sich gesagt: „Meine politische Gesinnung stand immer im Widerspruch mit dem, was für opportun galt. Als ich demokratisch gesinnt war, war konservativ Trumpf; als die Demokratie zur Herrschaft war, war ich konservativ gesinnt“. Es hat auf den ersten Blick den Anschein, als ob hier ein Gesinnungswechsel Günthers vorläge; allein das ist nicht der Fall: er ist sich immer treu geblieben, war immer ein Freund des Volkes, ein Demokrat. Vielleicht die einzige Einschränkung darf man machen: er war in der Jugend ein scharfer, im Alter ein gemäßigter Demokrat. Immer aber stand er treu zu Kaiser und Reich. Die Verfassung des Deuschen Reiches war die Grundlage seiner politischen Tätigkeit; wo es nach seiner Ansicht an dieser fehlte, da sollte sie auf dem Wege einer gesetzmäßigen Entwicklung und Reform ausgebaut werden; gewaltsamen Umsturz, Revolution, hat er Zeit seines Lebens verworfen: daher befand er sch, als sich seine Partei nach der Revolution von 1918 zur Deutschen Demokratischen Partei entwickelte, in Gegensatz (Seite 216) zu ihr. Und wenn er als Angehöriger der Freisinnigen Volkspartei mit der Reichsregierung eines Bismarck scharf zusammengeriet, so geschah das deshalb, weil diese Regierung nach seiner Ansicht gegen die von Bismarck aufgestellte Reichsverfassung verstieß, indem sie Ausnahmegesetze gegen bestimmte Schichten der Bevölkerung einbrachte und teilweise durchsetzte, wie gegen die Jesuiten, gegen die Sozialdemokraten, ja gegen seine eigene, die Freisinnige Partei.
In einem anderen Fall hat Günther später rückhaltlos zugegeben, daß die Opposition seiner Partei eine verfehlte war, in der Frage der Arbeiterschutz- und -versorgungsgesetze, die Bismarck eingebracht hat: die Partei lehnte die Gesetze ab, weil sie ihr in Bezug auf die finanziellen Leistungen für die Arbeiter nicht weit genug gingen. Hier bekundete sich jener Charakterzug der Freisinnigen Partei, den man ihren Doktrinarismus nannte. Besonders scharf trat der Doktrinarismus der Freisinnigen in allen Militärfragen zutage. Es war eine alte Forderung von ihnen: Abkürzung der Militärdienstzeit von drei auf zwei Jahre. Diese Forderung ist im Jahre 1893 erfüllt worden gegen die Zustimmung zu einer beträchtlichen Stärkevermehrung des deutschen Reichsheeres (4. Bataillone).
In der Bücherei meines Vaters fand ich ein Büchlein, das deutlich die Spuren starker Benützung aufweist: „Miliz oder stehendes Heer?“ von General v. Freytag-Loringhoven, gedruckt 1918. Der Inhalt dieses Büchleins hat mir allmählich eine politische Denkweise meines Vaters erklärlich erscheinen lassen, die mir und vielen anderen, die meinen Vater kannten, früher unverständlich schien. Wie konnte der Mitkämpfer von 1870/71, der so warm vaterländisch empfindende Mann, konsequent alle Forderungen der Reichsregierung auf Erhöhung des aktiven Mannschaftsstandes des Reichsheeres ablehren? Nur eben deshalb, weil ihre Hauptforderung: Verkürzung der aktiven Dienstzeit, nicht erfüllt wurde. Später hat Günther dem bayerischen Kriegsminister manche militärische Anregungen gegeben, z. B. die, eine ausgesprochene Gebirgstruppe in Bayern zu schaffen dadurch, daß man die frühere Zahl der bayerischen Jägerbataillone, 10 wieder herstellte und diesen Bataillonen alle Rekruten aus den zahlreichen Gebirgsgegenden des Königsreichs überwies. Der bayerische Kriegsminister v. Asch lehnte die Verfolgung dieser Anregung ab mit der Erklärung, daß Deutschland keine Gebirgskriege zu führen haben werde. Die geschichtliche Entwicklung hat diese Erklärung widerlegt: Deutschland mußte auf allen Fronten Gebirgskriege führen, in den (Seite 217) Vogesen, vor Verdun, in den Alpen, in den Karpathen und Besliden, in Serbien, in Rumänien, in Palästina, im Kaukasus.
Klaren Blicks hat Günther die Entwicklung der politischen Verhältnisse in Deutschland im Oktober 1918 erkannt; die Abnahme der Kriegsbegeisterung, die Zunahme der Kriegsverdrossenheit. Wohl erkannte er gleichzeitig auch die inneren Ursachen dieses Gesinnungswechsels im Volke: die furchtbaren Kriegsverluste, die nicht minder furchtbaren Kriegsentbehrungen — allein er sagte sich: „Durchhalten um jeden Preis; es geht ums Ganze.“ Und als die ersten Waffenstillstandsbedingungen der Feinde bekannt wurden, da forderte er den Kriegsminister auf, die allgemeine Volkserhebung, die levée en masse, zu verkünden. Zu spät - zu verführerisch klangen dem schwerringenden deutschen Volke die „14 Punkte“ Wilsons ins Ohr.
Am Morgen des 9. November wollte Günther, wie gewöhnlich nur in Zivil, der Sitzung des Bayerischen Landtags beiwohnen. Als er sich dem Landtagsgebäude näherte, sah er dasselbe von bewaffneten Soldaten umstellt. In der Meinung, es handle sich um eine militärische Schutzgarde der Regierung für den Landtag wollte er unter Vorzeigung seines Ausweises als Landtagsabgeordneter die doppelte Reihe der Soldaten durchschreiten, als er rauh angehalten ward mit den Worten: „Der Wisch gilt jetzt nimmer. Jetzt gibt's kein' Landtag mehr! Der ist aufg'löst!“ Und als er sich mit Gewalt durchdrängen will, da sieht er eine Pistole auf seine Brust gesetzt und hört die Worte, wenn er sich nicht schleunigst „verrolle“, so werde er erschossen. Da erkannte Günther mit Schaudern, daß seine schwersten Befürchtungen übertroffen waren: die Revolution war da! Die „Soldaten“ waren von der neuen Regierung Eisners geschickt zur Auflösung des Landtags. Im Innersten gebrochen ging er heim.
Im Februar 1919 wurde Günther aufgefordert, in einer in das Auditorium Maximum der Universität einberufenen Studentenversammlung zu sprechen. Er tat das mit dem ganzen Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit. Reicher Beifall lohnte den Redner. Einige Tage darauf fiel Eisner auf offener Straße den wohlgezielten Pistolenkugeln des Studenten und Leutnants a. D. Grafen von Arco zum Opfer. Wie immer nach solchen Gewalttaten, so kam auch hier die Wut des mißgeleiteten und mißhandelten Volkes zu vollem Ausbruch; der Terror suchte nach Opfern und fand sie in bekannten Personen der Bevölkerung, gleichgültig, ob sie politisch suspekt waren oder nicht. Auch nach Günther griff er: Ahnungslos saß dieser in seiner abseits vom Verkehr gelegenen Wohnung an der Nicolaistraße eines (Seite 218) Morgens beim Frühstück, als ein alter guter Parteifreund hastig ins Zimmer trat und unter Überreichung eines Zeitungsblattes ihm zurief: „Sie verfolgen Dich! Du mußt schleunigst fort! Wenn Du dies gelesen hast, wirst Du es begreifen!“ Verständnislos las Günther in der von Eisner gegründeten revolutionären Zeitung „Die neue Zeit“ folgendes: „Wie gehetzt wird! Vor einigen Tagen hielt Professor Dr. Siegmud Günther im Auditorium Maximum eine Ansprache an die Studenten, in der er die Regierung Eisner aufs schärfste angriff und die Anwesenden aufforderte, mit allen Mitteln die Regierung zu bekämpfen. Unter den Anwesenden befand sich sicher auch Graf von Arco, der Mörder Eisners. Die Anregung zu seiner Mordtat hat er von Günther empfangen; Günther ist also als der eigentliche Mörder Eisners anzusehen. Das souveräne Volk wird sich seiner Gegner zu entledigen wissen. Günther wohnt Nicolaistraße 1.“ Betroffen, aber nicht erschrocken gab Günther dem Freunde das Blatt zurück; niemals habe er einen gewaltsamen Widerstand gegen die Regierung Eisners vertreten. Er wisse zu genau, daß Gewalttaten nur das Gegenteil von dem erreichen, was sie bezwecken. Doch stimmte er der Ansicht des Freundes zu, daß er sich vor dem drohenden Arm der Rache in Sicherheit bringen müsse. Es wurde vereinbart, nach Cham in der Oberpfalz zu fahren, wo der Freund ein Haus besaß. Dort sollte Günther die Wiederkehr ruhigerer Zeiten abwarten. Das Unternehmen glückte: unangefochten gelangten beide nach Cham. Die Frucht der Muse in Cham war eine kleine Schrift: „Lehren der Revolution“ (Duncker u. Humblot, München).
Im Jahre 1921 wurde überall in München die 50. Wiederkehr des Tages der Kaiserproklamation in Versailles, des 18. Januar 1871, feierlich begangen. Wie ganz anders hatte man sich diese Feier früher vorgestellt! Immerhin durfte man froh sein, daß der wesentlichste Bestandteil der Gründung Bismarcks, das Deutsche Reich, die furchtbaren Stürme des Zusammenbruchs im Kriege und der Revolution mit Erfolg bestanden hatte.
Bei der akademischen Feier der Technischen Hochschule wurde das Amt des Festredners Günther als dem einzigen Mitglied des Lehrerkollegiums, das den Feldzug 1870/71 aktiv mitgemacht hatte, übertragen, eine feinsinnige Ehrung, die ihn herzlich erfreute. In der ihm eigenen, zu Herzen gehenden Weise entledigte er sich, wie immer frei sprechend, seiner Aufgabe. Auch hier war brausender Beifall sein Dank. Die Rede wurde mitstenographiert und im Druck herausgegeben. Am Abend des gleichen Tages war großer Festkommers (Seite 219) der Alten Burschenschaften Münchens im großen Häckerbräusaale. Die offiziellen Reden waren verklungen, da forderte lauter Zuruf Günther, der auch hier der einzige anwesende aktive Mitkämpfer aus dem Einigungskrieg war, auf, das Wort zu ergreifen. Und wieder wußte er an die Herzen zu rühren, als er von der großen Vergangenheit sprach, als er an den Heldenkampf der jungen Akademiker bei Langemarck 1914 erinnerte.
Von nun an nahmen Günthers Körperkräfte einen raschen Verfall: ein schmerzliches Gallenleiden quälte ihn sehr, andere Störungen im Wohlbefinden kamen dazu; die Ärzte wußten sie nicht zu erklären. Trotz der hingebenden Pflege seiner Gattin siechte Günther immer mehr dahin, mehrere Tage lang lag er teilnahmslos auf seinem Bette. In der Nacht vom 3. zum 4. Februar 1923 erlöste ihn ein sanfter Tod von seinem Leiden. Am 6. Februar 1923, seinem 75 Geburtstag, wurden Günthers irdische Überreste dem Familiengrab auf dem alten nördlichen Friedhof übergeben. Noch 7 Monate, und er hätte das Fest der goldenen Hochzeit mit seiner treuen Lebensgenossin feiern dürfen. Nun blieb sie allein zurück; die Pflege der Erinnerung an den Toten, der Verkehr mit den Enkeln bildeten ihren Lebensinhalt. Am 16. Februar 1927 entführte auch sie ein sanfter Tod aus diesem Leben. An der Seite des Gatten ruht sie im Familiengrab.
Überblickt man das inhaltsreiche Leben Güntheres, so muß man gestehen, daß es ein gesegnetes war. Eine überaus harmonische Ehe verband ihn mit seiner Gattin; ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen war sein Lebenswerk. Sie dankte es ihm dadurch, daß sie die vielen kleinen Aufregungen eines Familienlebens nach Möglichkeit fernhielt. Drei Söhne und eine Tochter sind dieser Ehe entsprungen.
Quelle: Lebensläufe aus Franken / hrsg. von Anton Chroust. Bd. 4 (1930), S. 204 – 219
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