Erinnerungen an Siegmund Günther

[von Christoph Beck]
Geboren zu Nürnberg am 6. Februar 1848, gestorben zu München am 4./5. Februar 1923. Zuerst Privatdozent für Mathematik in Erlangen und in München, dann Gymnasialprofessor in Ansbach, seit 1886 Professor der Erdkunde am Polytechnikum in München, ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, lange Jahre Führer der Freisinnigen Partei in Bayern.
Es war in den Jahren 1896/97, als die drei fränkischen Kreise liberale Abgeordnete wie Dr. Casselmann, Dr. Aub, Bolzano (Würzburg), Martius (Leimershof bei Breitengüßbach), Stöcker (Langenfeld bei Neustadt a. A.), rechtsk. Bürgermeister Keller (Ansbach), Neuner (Kulmbacher Gegend) nach München geschickt hatten. Während sie im Abgeordnetenhause in enger Fühlung mit ihren Parteigenossen aus den übrigen Teilen des Bayernlandes blieben, schlossen sie sich für ihre geselligen Unterhaltungen zu einem Frankenkreis zusammen, der seine Sitzungen, in denen an Stelle der hohen Politik der „Schafkopf“ herrschte, meist im „Bamberger Hof“ oder in den „Drei Raben“ abhielt. Durch den freisinnigen Abgeordneten meines Heimatortes Pretzfeld, den Posthalter Kleophas Schmitt, wurde ich, damals in den ersten Semestern an der Universität, des öfteren zu diesem Kreise zugelassen, durfte, wenn der vierte Mann fehlte, beim „Schafkopf“ einspringen, was mir mit meinen paar Nickeln in der Tasche manchmal nicht ganz einerlei war, und durfte zum Mettrinken oder in eine Aufführung mitgehen.

Nicht oft, aber dann umso lieber gesehen und geehrt, stellte sich auch der „Herr Professor“ an diesen Abenden ein; es war Siegmund Günther. Wenn der kam, dann wurde es lebhafter; dann wurden die Karten zur Seite geschoben, es wurde dafür erzählt und politisiert. Heiter und geistsprühend wandte sich da der Günther bald zu diesem oder jenem. Von seiner fränkischen Heimat hörte und sprach er am liebsten. Da fragte er den „Kleophas“, ob denn das hübsche Wirtstöchterchen in Pretzfeld neben der Kirche noch lebe; die war unterdessen eine Wirtsfrau mit stattlichem Körperumfang geworden und erinnerte sich gerne an den früheren Erlanger Studenten. Und der Kleophas, stets ein feiner Beobachter und mit besonders gutem Gedächtnisse für Personen begabt, erzählte dann, wie der Günther, während die anderen Studenten gleich in die Wirtsstube zum Bier einschwenkten, sich erst in das Postzimmerchen begab, um da die eben eingetroffenen Zeitungen frisch von der Post weg zu lesen.

Infolge der erwähnten Beziehungen hatte ich auch das Glück, G. im engsten Familienkreise zu beobachten. Über zwei Jahre durfte ich einmal wöchentlich, am Freitag, zusammen mit einem Studierenden des Polytechnikums, der ebenfalls aus Oberfranken kam, im Hause Günthers am Familientische speisen. Das war für uns Musensöhne, die wir für gewöhnlich in einer Abfütterungskneipe ein „Menu“ zu 40, bzw. 50 Pfennig verzehrten, jedesmal ein Festtag, wenn wir uns aus den vollen Schüsseln, von den solid und schmackhaft zubereiteten Speisen der Frau Professor nach Herzenslust nehmen durften, ganz abgesehen von der Ehre, der regelmäßige Gast des gefeierten Mannes zu sein.

Das Herzliche des Familienlebens Günthers tat uns, die wir uns sonst meist nur in der etwas rauhen Luft der Studenten bewegten, nicht weniger wohl. Da herrschte ein Glück, wie es uns aus der Zeit der Romantiker entgegenweht; Gatte und Gattin standen sich wie Freunde gegenüber, denen die Kinder, drei Söhne, welche das Gymnasium besuchten, und ein Töchterchen von zehn Jahren, in Gehorsam und Liebe anhingen. Man fühlte, daß die Mutter aus einem Pfarrhause, der Vater aus einem vornehmen Handelshause hervorgegangen waren; abgeklärte, fromme Ergebung mischte sich in heiteres, unternehmendes Wesen; es war die Art, wie sie besonders im Frankenland einheimisch ist.

Der Liebling des Vaters unter den Söhnen war der jüngste, der ihm am meisten nachschlug. Sein Alles war jedoch das einzige Töchterchen. Ihr galt der erste Gruß des Vaters, wenn er aus seinem Arbeitszimmer, oder unmittelbar vom Abgeordnetenhause in den Speisesaal trat, ihm der letzte, wenn er nach dem Essen sich zurückzog. Sie mußte vor und nach der Mahlzeit das kurze Tischgebet sprechen. Da, eines Tages wurde sie vom Scharlachfieber befallen, und nach wenigen Tagen davon hinweggerafft. Der Vater, damals selbst von einem Gichtanfall aufs Krankenbett geworfen, war von diesem Schlag wie gebrochen. Nie werde ich vergessen, wie der Mann, dessen Haare schon zu ergrauen begannen, am offenen Grabe seines Kindes stand und schluchzte.

Günther hat, wie jeder führende Politiker und jede ausgesprochene Persönlichkeit, Gegner gehabt, die das Gute an ihm nicht gelten ließen; seine Herzensgüte mußten jedoch alle, auch der Feind, wenn er einen solchen überhaupt hatte, anerkennen. Einmal, als wir bei Tische saßen, kam das Dienstmädchen herein und meldete, daß ein Mann draußen sei, der den Herrn Professor selbst zu sprechen wünsche. G. geht sofort hinaus und kommt nach einiger Zeit zurück, um seine Gattin zu fragen, ob sie nicht einen abgetragenen Rock von ihm habe; draußen stehe ein Mann in einem erbärmlichen Anzuge. Die Frau erwiderte, sie habe den letzten vorige Woche hergegeben. Was tun? G. überlegt nicht lange; er geht wieder hinaus und zieht unterwegs den Geldbeutel. Aus seiner Miene beim Wiedererscheinen konnte man schließen, daß er dem Manne jedenfalls soviel gegeben hatte, wie ein einfacher neuer Rock kostete.

Es ist bekannt, welches Wohlwollen und welche Nachsicht G. zuerst seinen Ansbacher Gymnasiasten und später seinen Münchener Studenten bewies. Wer wegen einer Dissertation in Not war, wandte sich an ihn, und er sah sich nicht verlassen, und der in Examensnöten seufzende Kandidat fand an G. einen Retter. Als ere einmal bei Tisch das Gespräch auf die rigorose Art mancher Examinatoren kam, da sagte G.: „Ich verstehe das nicht; ein Examinator ist doch darauf aus, dem Kandidaten zu helfen. Nichts ist leichter, als einen anderen durchfallen zu lassen. Ich habe erst kürzlich einem Universitätsprofessor erklärt, daß es mich keine besondere Mühe kosten würde, ihn durchzuwerfen, was dieser auch zugab.“ Und er fügte hinzu: „Nur ein einziges Mal habe ich einen Kandidaten durchwerfen müssen, und das war einer vom realistischen Lehramt. Es ist da nicht leicht, die erste Note zu bekommen, es ist aber auch ebenso schwer durchzufallen. Herr N.N. hat letzteres fertig gebracht.“ Das berührte ihn so unangenehm, daß er sich nicht entschließen konnte, eine Versammlung zu besuchen, die dieser Durchgefallene einmal leitete.

Das waren ungefähr die Stoffe, mit denen er uns Studenten bei Tisch unterhielt. Natürlich fragte er uns gerne nach dem Fortgang unserer Studien. Dabei stellte sich heraus, daß er in der älteren französischen Literatur, soweit sie sich auf Mathematiker und Philosophen, wie P. Ramée, Descartes, Pascal, Montaigne bezog, besser beschlagen war, als mancher Neuphilologe. Das Italienische hatte er besonders liebgewonnen. Dagegen hörte ich ihn nie über Englisch sprechen. Als ich ihm einmal mein Erstaunen ausdrückte, daß er neben seiner Dozenten- und politischen Tätigkeit noch die Zeit fände ganze Zyklen von Vorträgen, wie über Afrika usw. vorzubereiten, da erklärte er, solche Vorträge brauche er nicht erst einzustudieren; man müsse sein Wissen jederzeit parat liegen haben; wenn man in der Nacht aufgeweckt werde, müsse man Rede und Antwort stehen können. Er schreibe sich nichts auf, als Jahreszahlen oder gewisse Namen; dabei zeigte er mir ein Zettelchen, das er aus der Tasche nahm.

Ich habe Universitätslehrer gekannt, die nicht einmal einen Satz frei vortragen, ja nicht einmal an die Tafel schreiben konnten, ohne mehrmals ins Kollegheft zu schauen. Und Günther mißglückte in einem einstündigen freien Vortrag nicht ein Satz.

Seiner fränkischen Heimat, im besonderen seiner Heimatstadt Nürnberg, ist G. bis zum Tode treu geblieben. Dem Ruf seiner fränkischen Landsleute an einem ihrer Feste teilzunehmen, oder in einer ihrer Versammlungen als Redner aufzutreten, leistete er stets gern Folge. Bei der Nürnberger Thomaskneipe seiner Bubenreuter fehlte er wohl selten; da schlug ihm das Herz höher und die Rede floß ihm da noch freier als sonst. Noch wenige Jahre vor seinem Tode suchte er in den Wäldern der mittelfränkischen Keuperebene Genesung und Erholung.

Siegmund Günther war einer von den Männern, die Liebe gesät, die stets geholfen und gefördert, den einzelnen, wie die Gesamtheit, die das Goethesche Ideal des Menschen aufs schönste erfüllt haben; er hat geistige Fäden gezogen, die mit seinem Tode nicht zerrissen. Mit ihm ist einer unserer fränkischen Landsleute dahingegangen, wie sie nicht alle Jahre geboren werden, wie sie sich einen ersten Platz in den fränkischen Herzen und im fränkischen Pantheon gesichert haben.

B.      


Quelle:
Beck, Christoph (1874-1939): Erinnerungen an Siegmund Günther
In: Fränkische Heimat. - Nürnberg. - Bd. 2 (1923), S. 33-35
Signatur UB Heidelberg: B 4597-7-1::2.1923


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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