Lazarus Fuchs †

Nachruf von Georg Wallenberg.

Am 26. April d. J. verschied ganz plötzlich und unerwartet am Herzschlage der Geheime Regierungsrath Prof. Dr. Lazarus Fuchs, und es trauern um ihn nicht nur seine nächsten Angehörigen, aus deren Mitte der unerbittliche Tod ihn kurz vor seinem 70. Geburtstage so jäh gerissen, an seinem Grabe trauert die ganze mathematische Welt, die in ihm einen der wenigen wirklichen Pfadfinder der mathematischen Wissenschaft verloren hat. Mit ihm wurde der letzte des glänzenden Dreigestirns Weierstrass- Kronecker-Fuchs zu Grabe getragen, das nach des greisen Kummers Rücktritt an der Berliner Universität erstrahlte und diese in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Sammelpunkt von Mathematikern der ganzen Welt gemacht hat.

Lazarus Fuchs wurde am 5. Mai 1833 in dem kleinen posenschen Städtchen Moschin als Sohn eines Lehrers geboren und hat sich aus den engsten Verhältnissen durch eigene Kraft zu seiner hervorragenden Stellung an der Berliner Universität emporgearbeitet: ein self-made man im besten Sinne des Wortes. Er besuchte das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Posen und gab schon während seiner Schulzeit gar manchen überraschenden Beweis seiner eminenten mathematischen Begabung; seinen Lebensunterhalt mußte er sich selbst durch Privatstunden erwerben, die er sehr gewissenhaft und mit großem Erfolge ertheilte.

Mit dem Reifezeugniß des Gymnasiums ausgerüstet, bezog er im Jahre 1854 die Berliner Universität und hat ihr während seiner ganzen Studienzeit als civis academicus angehört; zu seinen Universitätsfreunden zählte auch Königsberger, den er durch privaten Unterricht zu dem Studium der Mathematik zu begeistern gewußt, und Hamburger, mit dem er sogar eine Zeit lang zusammen gewohnt hat und mit dem ihn während seines ganzen Lebens enge Freundschaftsbande und gemeinsame wissenschaftliche Interessen verknüpften. — An der Berliner alma mater hörte Fuchs die Vorlesungen von Kummer, Weierstrass, Borchardt, Dirichlet, Encke und Martin Ohm; von diesem Mathematiker der alten Schule, dem Bruder des berühmten Physikers Simon Ohm, wußte er später seinen Studenten gar ergötzliche Anekdoten zu erzählen. Von seinen Universitätslehrern übten wohl Kummer und Weierstrass den größten Einfluß auf ihn aus; sein eigentlicher Lehrer aber ist ein Mann gewesen, der wie ein glänzendes Meteor an dem mathematischen Himmel auftauchte und den Fuchs zu seinem größten Leidwesen niemals persönlich kennen gelernt hat, es war der geniale Mathematiker Bernhard Riemann, der damals gerade im Zenithe seines Schaffens stand, dessen ganz neue und eigenartige Denkweise aber von seinen Zeitgenossen noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt werden konnte. Es gehört mit zu den schönsten Ruhmestiteln von Fuchs, daß er das Verständniß für Riemann, dessen Arbeit über die Gausssche Reihe damals den meisten Mathematikern ,,ein Buch mit sieben Siegeln'' war, durch Wort und Schrift in die weitesten Kreise getragen hat. Um dieses Verdienst ganz würdigen zu können, muß man sich davon überzeugen, wie befruchtend seitdem die genuinen Ideen Riemanns in allen Theilen der Mathematik gewirkt, welchen Aufschwung dieser Wissenschaft sie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hervorgebracht haben.

Im Jahre 1858 promovirte Fuchs mit der Dissertation ,,De superficierum lineis curvaturae'', die eine von ihm gelöste Preisaufgabe behandelte und einem in späterer Zeit weniger von ihm kultivirten Gebiete angehört. Nachdem er auch das Staatsexamen ,,pro facultate docendi'' bestanden, widmete er sich zunächst an verschiedenen Schulen Berlins dem Lehrfache; zuletzt gehörte er dem Kollegium der Friedrichswerderschen Gewerbeschule an, an welcher bereits vor ihm Männer wie Wöhler und Steiner gewirkt hatten. Zeitweise ertheilte er auch den mathematischen Unterricht an der Königlichen Artillerie- und Ingenieurschule. — Während seiner Thätigkeit an der Gewerbeschule schrieb Fuchs im Jahre 1865 seine epochemachende Programmarbeit über die homogenen linearen Differentialgleichungen mit veränderlichen Coefficienten, wie die von Kummer und Weierstrass wohl eine der besten Programmarbeiten die je an einer Schule geschrieben wurden. Diese Arbeit ist denn auch für die ganze künftige Laufbahn von Fuchs bestimmend geworden; zunächst erschloß sie ihm den Zugang zur akademischen Carrière; er habilitirte sich im Jahre 1865 als Privatdocent an der Berliner Universität und wurde bereits ein Jahr darauf zum außerordentlichen Professor ernannt. In dieser Zeit veröffentlichte er im Crelleschen Journale seine beiden klassischen Arbeiten über die Theorie der linearen Differentialgleichungen, die für dieses große Gebiet, für diese ,,dem mathematischen Königreiche neu hinzugefügte Provinz'' grundlegend geworden sind. Es mag hier beiläufig bemerkt werden, daß diese Arbeiten wohl zu den am meisten gelesenen der ganzen mathematischen Literatur gehören; wer sich davon überzeugen will, der braucht nur z. B. in der Königl. Bibliothek den 66. Band des ,,Crelle'' zur Hand zu nehmen: die Seiten der Fuchsschen Arbeit heben sich sofort durch ihre dunklere Färbung, eine Folge oftmaligen Lesens, in markanter Weise von ihrer Umgebung ab. — So konnte es denn nicht ausbleiben, daß Fuchs, der sich inzwischen auch seine Lebensgefährtin erkoren, die ihm sein ganzes Leben lang in Freude und Leid treu zur Seite gestanden hat, schon im Jahre 1869 als außerordentlicher Professor nach Greifswald berufen wurde; 1874 siedelte er nach dem durch Gauss, Weber, Dirichlet und Riemann zu hohem Ruhme gelangten Göttingen über, und im darauf folgenden Jahre zog Alt-Heidelberg, ,,die Stadt an Ehren reich'', wo noch kurz vorher ein Mann wie Helmholtz gelehrt und wo Kirchhoff und Bunsen die Spectralanalyse entdeckt hatten, ihn in ihren Bann. In der schönen Neckarstadt hat Fuchs, der ein großer Naturfreund war und längere Spaziergänge über alles liebte, sich als akademischer Lehrer am wohlsten gefühlt, wozu nicht am wenigsten das wahrhaft patriarchalische Verhältniß beitrug, in dem er dort mit seinen Hörern, insbesondere mit den Mitgliedern des mathematischen Vereins stand, die in jedem Semester mindestens einmal seine Gäste waren und die oft die Freude hatten, bei ihren Sitzungen und Festen den verehrten Lehrer in ihrer Mitte zu sehen. In Heidelberg hat Fuchs seine treuesten Schüler gewonnen, zu denen auch der Schreiber dieser Zeilen sich mit Stolz rechnet; viele von ihnen haben an dem Werke des Meisters weiter gearbeitet und sich dadurch in der mathematischen Welt einen geachteten Namen errungen.

Als Fuchs im Jahre 1884 an die Friedrich -Wilhelm-Universität in Berlin, die erste Stätte seiner akademischen Wirksamkeit, mit großen Ehren zurückberufen wurde — denn bald nach seiner Uebersiedelung wählte ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften, der er bereits seit 1881 als correspondirendes Mitglied angehörte, zu ihrem ordentlichen Mitglied —, da beklagte er es oft, daß die Verhältnisse der Großstadt eine solche innige Berührung zwischen dem Universitätslehrer und den Studenten nicht zuließen. In Berlin wirkte Fuchs zusammen mit Kronecker und Weierstrass; er erfreute sich eines außerordentlich großen Zuhörerkreises, dem er nunmehr — und das war wieder die gute Seite der Berliner Lehrthätigkeit — seine Specialfächer und seine eigenen Untersuchungen vortragen durfte, während er in Heidelberg als einziger ordentlicher Professor der Mathematik alle möglichen Collegia zu lesen gezwungen war: so hat dort Schreiber dieser Zeilen auch Algebra, analytische und sogar synthetische Geometrie bei ihm gehört. Besondere Sorgfalt wandte Fuchs, wie schon in Heidelberg, dem mathematischen Seminare zu, in dessen Leitung er sich mit den beiden oben genannten Forschern theilte; hier suchte er die Jünger der mathematischen Wissenschaft zu eigenen Forschungen heranzuziehen, und manche Doctordissertation ist aus diesen Uebungen und Vorträgen hervorgegangen.

Als Kronecker im Jahre 1891 starb, übernahm Fuchs die Redaction des Crelleschen Journals für die reine und angewandte Mathematik, die ihm ebenso wie seine Thätigkeit als Mitglied der Prüfungscommission viele Mühe und Arbeit verursacht hat. Im Jahre 1899 wurde Fuchs vom Senat der Berliner Universität zum Rector Magnificus erwählt und bald darauf zum Geheimen Regierungsrath ernannt. — Das ist in knappen Zügen der äußere Lebenslauf des großen Mathematikers.

Wenn ich es nunmehr unternehme, den Lesern der ,,Naturwissenschaftlichen Rundschau'' auch nur ein angenähertes Bild seines reichen Schaffens zu geben, so bin ich mir der Schwierigkeiten dieses Unternehmens wohl bewußt: gerade die Mathematik ist ja wie keine andere Wissenschaft eine ,,esoterische'', nur dem Eingeweihten verständlich, und wenn das große Publicum den Fortschritten dieser Wissenschaft nicht ganz verständnißlos gegenübersteht, so ist dies wohl hauptsächlich dem Umstände zuzuschreiben, daß auch die Physik und Technik ihrer nicht entrathen kann. Ich werde daher schon zufrieden sein müssen, wenn es mir gelingt, in großen Umrissen die Stellung zu kennzeichnen, welche Fuchs innerhalb seiner Wissenschaft einnimmt.

Seine ersten Arbeiten bewegten sich — abgesehen von der schon genannten Inauguraldissertation — auf zahlentheoretischem Gebiete. Seine eigentliche Domäne aber bildet die Theorie der Differentialgleichungen, insbesondere der linearen; vielleicht trägt dieser Umstand dazu bei, das, was er geschaffen, einem größeren Leserkreise näher zu bringen, denn so mancher Physiker, Chemiker oder Techniker wird wohl bei seinen theoretischen Untersuchungen und Berechnungen einmal auf eine Differentialgleichung gestoßen sein, die er nicht ,,integriren'' konnte. In diesem Reiche war Fuchs ein absoluter König; aber er hat das Reich der linearen Differentialgleichungen nicht einfach von seinen Vorgängern geerbt, er hat es, den Spuren Cauchys und Riemanns folgend, erst neu entdeckt und alle Fundamente selbst errichtet. Um sich einen Begriff davon machen zu können, was Fuchs hier geleistet hat, muß man sich den Standpunkt vergegenwärtigen, auf welchem vor seiner Zeit die Theorie der Differentialgleichungen sich befand: die Kunst des Integrirens bestand darin, die vorgelegte Differentialgleichung durch Quadraturen oder durch bekannte Functionen zu lösen; das gelang naturgemäß nur in den seltensten Fällen, da die meisten Differentialgleichungen durch Quadraturen nicht lösbar sind und neue Functionen definiren; die ganze Problemstellung war eben verfehlt. Es wurden zwar auch Reihenentwickelungen aufgestellt, aber bis zu Gauss und Cauchy kümmerte man sich nicht einmal um ihre Convergenz, wodurch allen möglichen Fehlern Thür und Thor geöffnet war. Daher wirkte die erste Fuchssche Abhandlung auf diesem Gebiete wie eine Offenbarung; die Eingangsworte derselben lauten: ,,Nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft stellt man sich in der Theorie der Differentialgleichungen nicht sowohl die Aufgabe, eine gegebene Differentialgleichung auf Quadraturen zurückzuführen, als vielmehr die, den Verlauf ihrer Integrale für alle Punkte der Ebene, d. h. für alle Werthe der unbeschränkt Veränderlichen, aus der Differentialgleichung selbst abzuleiten.'' In diesenWorten liegt, wie Schlesinger richtig bemerkt, die Formulirung dessen, was man in modernem Sinne unter der Integration einer Differentialgleichung zu verstehen hat, und die große Reihe glänzender Arbeiten, welche sich unmittelbar an diesen Gedanken anschlossen, zeigt, daß Fuchs hier in der That eine neue Epoche inaugurirt hat. Und dann ist er sein ganzes Leben lang thätig gewesen, das von ihm geschaffene Reich unter der bewährten Mitarbeit von Hamburger, Frobenius, Thomé u. A. nach allen Seiten auszubauen und derart zu erweitern, daß die mannigfaltigsten Beziehungen mit allen Nachbarreichen der Mathematik angeknüpft werden konnten: Zunächst gestattete die von ihm aufgestellte Theorie eine Anwendung auf diejenigen Differentialgleichungen, denen die Periodicitätsmoduln der hyperelliptischen Functionen genügen; die zwischen diesen bestehenden eigenartigen Relationen, welche Legendre für den einfachsten Fall der elliptischen Functionen entdeckt hatte — ein von allen Mathematikern angestauntes Wunder —, ergaben sich jetzt allgemein als eine einfache und natürliche Folge der ganzen Theorie. Mit den elliptischen Functionen hängen auch die schönen Untersuchungen über die Laméschen Differentialgleichungen zusammen, welche Fuchs in Gemeinschaft mit seinem großen französischen Freunde Hermite anstellte, der ihm im vorigen Jahre im Tode vorangegangen ist.

Ferner hat Fuchs durch seine tiefgehenden Untersuchungen über die algebraische Integrirbarkeit der linearen Differentialgleichungen, die in dem besonderen Falle der Gaussschen Differentialgleichung bereits von Schwarz behandelt worden war, die Invarianten- und Gruppentheorie, in deren Zeichen die ganze moderne Mathematik steht, mächtig gefördert; Forscher aller Nationen: Brioschi, Camille Jordan, Klein, Forsyth u. A., wurden dadurch zu eigenen Arbeiten angeregt. Ein ganz neues Gebiet der Functionenlehre aber wurde durch die von Fuchs formulirten Umkehrungsfragen erschlossen, welche einerseits zu einer Verallgemeinerung der Abelschen Transcendenten, andererseits zu den sogenannten automorphen Functionen führten; die Theorie dieser Functionen wurde von dem hervorragenden französischen Mathematiker Poincaré in grandioser Weise ausgebaut und gab ihm die Möglichkeit, ein nur in zwei ganz speciellen Fällen gelöstes Problem seiner lang ersehnten allgemeinen Lösung zuzuführen: nämlich, zwei durch eine beliebige algebraische Gleichung sowie durch eine lineare Differentialgleichung mit einander verknüpfte Veränderliche als eindeutige Functionen eines Parameters darzustellen. Poincaré, der in einem Briefe an Klein sagt, daß er hauptsächlich durch die einschlägigen Arbeiten von Fuchs zu seiner Schöpfung angeregt wurde, hat denn auch in gerechter Würdigung dieses Umstandes einem Theile seiner unsterblichen Gebilde den Namen ,,Fuchssche Functionen'' gegeben.

In dem letzten Jahrzehnt seines Lebens hat Fuchs, sein Werk von einer höheren Warte überschauend, nach dem Vorgange Riemanns ganze Klassen von linearen Differentialgleichungen einheitlich zusammengefaßt; die Betrachtung der mit der ursprünglichen Gleichung associirten Differentialgleichungen sowie die enge damit zusammenhängende Untersuchung derjenigen Differentialgleichungen, deren Substitutionsgruppe von den in den Coefficienten auftretenden Parametern unabhängig ist, warf ein ganz neues Licht auf die interessanten Relationen zwischen den Periodicitätsmoduln der Abelschen Integrale, durch deren Aufdeckung es Weierstrass möglich wurde, seine berühmte Theorie der Abelschen Functionen auf der Grundlage der allgemeinen Thetafunctionen aufzubauen. — So ergaben sich innige Berührungspunkte mit allen Zweigen der höheren Mathematik — durch die Arbeiten von Halphén, Goursat, Gino Fano u. A. selbst mit der entlegeneren Geometrie; daher kann Schlesinger in der Einleitung seines Handbuches mit Recht sagen, daß die Theorie der linearen Differentialgleichungen einem großen und wichtigen Theil der analytischen Forschung der letzten 30 Jahre und der Gegenwart ihr Gepräge aufgedrückt hat.

Fuchs hat noch die Freude erlebt, daß seine nächsten Angehörigen an dem weiteren Ausbau und der Vollendung seines Werkes gearbeitet haben: sein Sohn Richard hat die Theorie der associirten Differentialgleichungen weiter gefördert und die damit zusammenhängenden oben erwähnten, schwierigen Untersuchungen durch Vereinfachung der Beweise und klare, übersichtliche Darstellung einem weiteren Leserkreise zugänglich gemacht, und sein Schwiegersohn Ludwig Schlesinger, der schon früher mit einer Reihe wichtiger Arbeiten auf diesem Gebiete hervorgetreten war und in seinem Handbuch den gesammten Stoff mit einer erstaunlichen Beherrschung desselben zusammengefaßt hat, ist gerade in letzter Zeit dem einst Riemann vorschwebenden Ideale nahe gekommen, die Theorie der linearen Differentialgleichungen auf eine ähnliche Stufe der Vollendung zu heben wie die Theorie der algebraischen Functionen und ihrer Integrale.

Auch auf dem Gebiete der nichtlinearen Differentialgleichungen erster Ordnung hat Fuchs Großes geleistet. Er hat hier nur wenige Arbeiten veröffentlicht, aber sie sind von principieller Bedeutung: indem er die von Cauchy sowie von Briot und Bouquet gelassenen Lücken ausfüllte, führte er den Begriff des ,,Punktes der Unbestimmtheit'' ein und erweiterte dadurch die von Weierstrass gegebene, nur für eindeutige Functionen geltende Klassifikation der singulären Stellen; und indem er die schon von Hamburger gelegentlich hervorgehobene Unterscheidung zwischen festen und beweglichen Singularitäten zum Princip erhob, gelang es ihm mit Hülfe einer Reihenentwickelung von außerordentlicher Kühnheit, die wichtigen Untersuchungen von Briot und Bouquet über die algebraischen Differentialgleichungen erster Ordnung in einem wesentlichen Punkte zu erweitern. Die Tragweite dieser Untersuchungen zeigte sich wieder sofort dadurch, daß sie eine ganze Reihe weiterer, höchst bedeutender Arbeiten hervorriefen: Poincaré fand zu seiner eigenen Ueberraschung eine große Klasse algebraisch integrirbarer Differentialgleichungen; Hamburger wurde in den Stand gesetzt, zum ersten Male eine strenge Theorie der singulären Lösungen aufzustellen; Picard und Painlevé endlich konnten einen Vorstoß in das Gebiet der nichtlinearen Differentialgleichungen höherer Ordnung wagen, das bis dahin mit frommer Scheu gemieden worden war.

Fuchs hat seine Untersuchungen in Crelles und Liouvilles Journal, in Darboux' Bulletin, in den Annali di Matematica, in den Stockholmer Acta Mathematica und in den Schriften der Berliner, Göttinger und Pariser Akademie veröffentlicht. Es ist für alle seine Arbeiten charakteristisch, daß sie äußerst anregend auf die mitstrebenden Mathematiker gewirkt haben. Der tiefere Grund für diese Erscheinung ist wohl darin zu suchen, daß Fuchs ein Meister in der Problemstellung war, bekanntlich der größten Kunst des Mathematikers. In der Ersinnung der Probleme sowie in der Wahl der Voraussetzungen, die vollständig der Willkür des mathematischen Forschers überlassen bleiben, zeigt sich die schöpferische Kraft seiner Phantasie; hierin gleicht er — so paradox dies im ersten Augenblick klingen mag — dem wie er gleichsam aus dem Nichts schaffenden Dichter. Ist aber die Wahl der Voraussetzungen einmal getroffen, so tritt nunmehr die strenge, unerbittliche Logik in ihre Rechte, und dann muß es sich zeigen, ob jene Voraussetzungen einen entwickelungsfähigen Keim in sich tragen oder ob sie zwecklos und steril sind. Sehr treffend kommt dieses Verhältniß in einem Distichon zum Ausdruck, das, wenn ich nicht irre, in deutscher Fassung von Kronecker herrührt und, von Vahlen in klassisches Latein übertragen, also lautet:

Et mathematici veri natique poetae
Stint; sed, quod fingunt, hosce probare decet.
Fuchs besaß nun ein geradezu intuitives Gefühl für solche fruchtbaren Vorraussetzungen, für Probleme, die sich anpacken ließen und zu greifbaren Resultaten führten; darin liegt das Geheimniß der großen Wirkung, die er auf seine Fachgenossen ausgeübt hat und die ihn befähigte, der Begründer einer ganzen Schule zu werden.

Auch als Universitätslehrer war Fuchs ungemein anregend: er pflegte in seinen Vorlesungen nicht eine Fülle von fertigen Resultaten zu bringen — noa multa, sed multum! Seine Collegia waren keine Compendien, aber der in ihnen behandelte Gegenstand bildete stets ein in sich abgeschlossenes Ganzes; und was seinem langsamen, klaren Vortrage den größten Reiz verlieh: man lernte stets die Methode der Untersuchung kennen vermochte einen Einblick zu thun in die Geisteswerkstatt eines großen Mathematikers und wurde dadurch zu eigener Forschung angeregt. — Ich besitze eine große Reihe von Collegienheften über Vorlesungen, welche Fuchs in Heidelberg und Berlin gehalten hat, und jedesmal gewährt mir die Lectüre dieser Hefte von neuem einen großen, reinen Genuß, weil die Persönlichkeit des Vortragenden mir dabei immer wieder lebhaft vor Augen steht; jetzt ist dieser Schatz mir doppelt werthvoll als ein theures Vermächtniß meines hochverehrten Lehrers.

Die Mathematik ist im großen Publicum als die trockenste aller Wissenschaften verschrieen, und man meint, daß sie Jeden, der sich ihr ergeben, verknöchern müsse. Nun — Fuchs war das beste Beispiel dafür daß dies nicht der Fall ist; denn er war ein Mensch im edelsten Sinne des Wortes. Wie konnte er sieh über die Fortschritte junger, aufstrebender Talente und über eine neue Arbeit für das von ihm redigirte Journal freuen! Wie betrauerte er seinen einem Unglück in Danzig zum Opfer gefallenen Heidelberger Lieblingsschüler, meinen Landsmann Walter Raschke, dessen Andenken er ins schöner Weise durch Veröffentlichung seiner Doctorarbeit in den Acta Mathematica ehrte; und wie beklagte er den vorzeitigen Tod des jungen begabten Berliner Privatdocenten Günther! — Aber erst der, dem es vergönnt war, einen Blick zu thun in sein Heim, das seine treue Lebensgefährtin ihm so behaglich zu gestalten verstand, und in das dort herrschende innige Familienleben, konnte Fuchs als Menschen ganz kennen und schätzen lernen: er war ein treuer Freund, ein zärtlicher Gatte und seinen Kindern ein liebevoller Vater; den Tod eines Söhnchens hat er nie verwinden können, und sein jüngstes Töchterchen war sein ganzer Verzug. — Fuchs war ein Freund des Humors und froher Geselligkeit: wie schön waren die geselligen Abende in seinem allzeit gastfreien Hausens wie gemüthlich die Plauderecke in seinem Arbeitszimmer, wenn er mit feinem Lächeln und einem schalkhaften Aufblitzen seiner hellen Augen Anekdoten von Kopp, von Bunsen oder vom alten Ohm erzählte! — Die Stunden, welche ich dort in ernstem wissenschaftlichen Gespräch mit ihm verbringen durfte, gehören zu den anregendsten und fruchtbarsten meines ganzen Lebens.

So wird Fuchs in den Herzen aller derer, die das Glück hatten ihn persönlich zu kennen, fortleben. Durch seine Werke aber hat er sich selber ein Denkmal errichtet: aere perennius.


aus:
Naturwissenschaftliche Rundschau. - 17.1902, S. 293-296
Signatur UB Heidelberg: O 29-3 Folio::17.1902

Georg Wallenberg (1864-1924) war Lehrer und Mathematiker in Berlin. Er studierte vom Wintersemester 1881/82 bis zum Wintersemester 1882/83 in Heidelberg (Wohnung: Sandgasse 12 bei Frl. Hofmeister) und von 1883 bis 1885 in Berlin. Die Promotion (Beitrag zum Studium der algebraischen Differentialgleichungen erster Ordnung, deren Integrale feste Verzweigungspunkte besitzen, insbesondere diejenigen, welche die Abteilung bis zum dritten Grade enthalten) erfolgte 1890 in Halle an der Saale.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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