Lazarus Fuchs / Carl von Voit und Ferdinand Lindemann

Am 26, April 1902 starb in Berlin das korrespondierende Mitglied unserer Akademie, der Mathematiker Lazarus Fuchs.

Fuchs ward am 5. Mai 1833 in Moschin in der Provinz Posen geboren, und zeigte schon auf dem Friedrich-Wilhelmsgymnasium in Posen, wo er seine Vorbildung erhielt, eine besondere Neigung und Begabung für die Mathematik. Er studierte ausschliesslich an der Universität Berlin, wo besonders die Mathematiker Ernst Eduard Kummer und Carl Theodor Wilhelm Weierstrass seine Lehrer waren. Nachdem er im Jahre 1858 promoviert hatte, wandte er sich dem Lehrfach zu; er war zuerst Gymnasiallehrer, dann Lehrer an der Friedrich-Werderschen Gewerbeschule. Er habilitierte sich 1865 als Privatdozent an der Universität Berlin, ward im folgenden Jahre zum ausserordentlichen Professor daselbst ernannt und erteilte von 1867-1869 als Professor den mathematischen Unterricht an der Artillerie- und Ingenieur-Schule. Sodann wurde er 1869 als Ordinarius nach Greifswald, 1874 nach Göttingen, 1875 nach Heidelberg berufen; 1882 kam er nach Berlin zurück, wo er als Professor der Mathematik an der Universität und Mitdirektor des mathematischen Seminars sowie als Mitglied der Akademie der Wissenschaften eine ungemein fruchtbare Tätigkeit als Forscher und Lehrer entfaltete.

Ich verdanke die folgende Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen von Fuchs der kundigen Feder unseres verehrten Kollegen Ferdinand Lindemann.

Die Verdienste von Fuchs um die Mathematik liegen auf dem Gebiete der Funktionentheorie, in das er durch seinen Lehrer Weierstrass eingeführt war. An der Spitze stehen seine Arbeiten über lineare Differentialgleichungen, in denen die Koeffizienten rationale Funktionen der unabhängig Veränderlichen sind. Die analytische Darstellung ihrer Integrale und das Studium der Eigenschaften der letzteren wurden von Fuchs so vollständig durchgeführt, dass die Zurückführung eines Problems auf solche Differentialgleichungen heute als äquivalent mit der Lösung, desselben zu betrachten ist, wie sonst, wenn die Zurückführung auf sogenannte Quadraturen gelingt. Der ausgedehnte Gebrauch von dem Begriffe der analytischen Fortsetzung einerseits, von den Methoden der Potenz-Entwicklung anderseits sind die einfachen und fruchtbaren Hilfsmittel, welche Fuchs anwandte. Zahlreiche Schüler haben seine Arbeiten fortgesetzt und ausgeführt; die umfangreiche Literatur über lineare Differentialgleichungen, wie sie in den letzten Dezennien erwachsen ist, gibt Zeugnis von der Bedeutung des durch Fuchs gemachten Fortschrittes. Die Anerkennung, welche wir ihm dafür schulden, kann nicht dadurch herabgemindert werden, dass ein Teil seiner Ideen sich nachträglich auch in den nachgelassenen Papieren Riemanns gefunden hat; diese Anerkennung wird aber wesentlich gehoben durch den Umstand, dass die schönen und fruchtbaren Entdeckungen von Schottky und Poincaré sich vermutlich hauptsächlich auf die Fuchs'schen Arbeiten stützen. Insbesondere hat Fuchs die Periodizitäts-Moduln hyperelliptischer, später auch der allgemeinen Abel'schen Integrale in ihrer Abhängigkeit von den Parametern durch lineare Differentialgleichungen definiert und ihre Eigenschaften studiert. Ferner gelang es ihm, die bekannte Legendre'sche Relation zwischen ganzen elliptischen Integralen sowie den Jacobi-Weierstrass'sehen Satz über Vertauschung von Parameter und Argument bei Abel'schen Integralen wesentlich zu erweitern, indem er zeigte, dass analoge Relationen immer zwischen gewissen Integralen der Lösungen linearer Differentialgleichungen bestehen.

Im Zusammenhang mit den Arbeiten über Abel'sche Funktionen und Integrale steht auch der Versuch, das Jacobi'sche Umkehrproblem dieser Integrale auf andere Funktionen zu übertragen d. h. solche Funktionen φ und ψ zu bestimmen, dass sich aus den beiden Gleichungen

φ(z1) + φ(z2) = u1
ψ(z1) + ψ(z2) = u2
die Grössen z1 und z2 umgekehrt als in gewissen Gebieten eindeutige Funktionen der gegebenen Größen u1 und u2 berechnen lassen, wie dies eben durch Θ-Funktionen geschieht, wenn φ und ψ Abel'sche (hier ultraelliptische) Integrale darstellen. Es gelang Fuchs die Existenz solcher Funktionsklassen nachzuweisen und Bedingungen aufzustellen, denen sie zu genügen haben.

Auf Grund seiner allgemeinen Theorie der Differentialgleichungen hat Fuchs eingehend die Frage nach solchen Differentialgleichungen zweiter Ordnung behandelt, welche algebraische Integrale besitzen.

Von spezielleren Problemen, welche Fuchs behandelt hat, sei hier die Frage nach solchen Differentialgleichungen zweiter Ordnung hervorgehoben, welche algebraische Integrale besitzen; hier gab er den ersten Anstoss zu Untersuchungen, die Klein eleganter und vollständiger durchgeführt hat, und die wegen ihrem Zusammenhange sowohl mit der Theorie der konformen Abbildung von Kreisbogenpolygonen, wie sie Schwarz behandelt hatte, als mit der modernen Algebra und Invariantentheorie das Interesse weitester Kreise erregten.

Neue Gesichtspunkte gab Fuchs auch für die Behandlung der in der Physik so wichtigen Lamé'schen Differentialgleichungen, deren Theorie für den einfachsten Fall von Hermite so glänzend entwickelt war, während Fuchs dieselben als einen speziellen Fall einer allgemeinen Klasse erkannte, deren Besonderheiten sich durch seine allgemeinen Integrations-Methoden klar übersehen lassen.

Das Studium der gemeinsamen Eigenschaften aller linearen Differentialgleichungen einer und derselben Klasse (dieses Wort in dem aus Riemanns Nachlasse bekannten Sinne genommen) und der Abhängigkeit der singulären Punkte nicht-linearer Differentialgleichungen von den Integrations-Konstanten bildet den wesentlichen Inhalt der späteren Arbeiten von Fuchs.

Er beteiligte sich auch an der im Auftrage der Berliner Akademie ausgeführten Herausgabe der Schriften hervorragender Mathematiker, die einst Mitglieder der Akademie waren.

Der reinen Mathematik hat Fuchs sehr wesentliche Dienste geleistet und ist dadurch einer der hervorragendsten Mathematiker geworden.


In: Sitzungsberichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München. - 33.1903 (1904), S. 512-515
Signatur UB Heidelberg: H 93::33.1903

Carl von Voit war Ernährungswissenschaftler und lebte von 1831 bis 1908. Der Mathematiker Ferdinand Lindemann (1852 - 1939) bewies 1882 das π eine transzendentale Zahl ist.


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