Als vor fünf Jahren der greise Weierstraß in dem unbestrittenen Ruhme des ersten Analysten seiner Zeit aus dem Leben schied, da war bereits seit lange glänzender Ersatz geschaffen in dem Manne, dessen plötzlichen Heimgang wir jetzt beklagen, in Fuchs, dessen Name in der Geschichte der Mathematik mit einer der wichtigsten Disziplinen der Analysis, der Theorie der linearen Differentialgleichungen, stets ruhmreich verknüpft sein wird.
Das oft zitierte Wort aus der Erwiderung auf seine Antrittsrede als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, daß er dem mathematischen Königreiche eine neue Provinz hinzugefügt habe, konnte später bei der Überschau der großen Reihe bedeutungsvoller Ergebnisse, die bei dem Aufbau und der Durchforschung des Gebietes in regster Wechselbeziehung mit den verwandten Disziplinen gewonnen wurden, dahin ergänzt werden, daß die Theorie der linearen Differentialgleichungen seit ihrer Begründung einem großen und wichtigen Teile der analytischen Forschung ihr Gepräge aufgedrückt hat.
Die Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen von Fuchs, die nicht allein durch die Zahl ihrer Ergebnisse, sondern auch durch Stellung neuer Probleme und Einführung neuer Methoden hervorragen, ist eine Aufgabe, von der ich mir nur zu wohl bewußt bin, wie wenig ich ihr gewachsen bin, und wenn ich der ehrenvollen Aufforderung des Mathematischen Vereins, die Gedächtnisrede zu halten, gefolgt bin, so habe ich meine Bedenken zurückgedrängt in dem tiefen Gefühl der Dankbarkeit für die Freundschaft, die der Dahingeschiedene, zu dem ich stets mit Verehrung aufgeblickt, mehr als 50 Jahre mir geschenkt hat.
Immanuel Lazarus Fuchs ist den 5. Mai 1833 zu Moschin in der Provinz Posen geboren. Schon in dem frühen Alter von 14 Jahren verließ er das Elternhaus, um das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Posen zu besuchen, wobei er genötigt war, bei den dürftigen Verhältnissen, in denen sich seine Eltern befanden, neben der Arbeit für die Schule für seinen Unterhalt zu sorgen. Die ausgezeichneten Fortschritte, die er trotz mangelhafter Vorbereitung auf dem Gymnasium machte, ermöglichten es ihm sehr bald, durch Unterricht sich Erwerb zu schaffen. Er war ein gesuchter Lehrer, ausgezeichnet durch die Kunst, im Schüler die verborgenen Fähigkeiten zu erwecken und zu entwickeln, und den Eltern empfohlen durch den Ernst, zu dem er in dem schwierigen Kampfe mit der Not des Lebens weit vor seinen Altersgenossen herangereift war. Zu dieser Zeit war es, wo er zuerst mit Koenigsberger in Berührung kam. Als Erzieher in dessen Haus berufen, verstand er es, in seinem Zögling das Interesse für Mathematik zu erwecken. Der mächtige Einfluß, den er dadurch über ihn gewann, war ausschlaggebend dafür, daß sich Koenigsberger der wissenschaftlichen Berufsbahn zuwendete, die sich so glänzend gestalten sollte.
1853 erhielt er das Zeugnis der Reife, blieb aber dann zunächst ein Jahr in Posen als Hauslehrer im Koenigsbergerschen Hause. Auf der Universität hatte er noch das Glück, zu den Füßen Dirichlets zu sitzen. Außerdem hörte er Kummer, Borchardt und von 1856 an Weierstraß. Neben dem Hören von Vorlesungen studierte er fleißig Gauß' Disquisitiones arithmeticae, sowie die Werke der französischen Meister, wie Fourier, Laplace. Hervorheben möchte ich noch, daß ich als junger Student ihn besonders eifrig mit Cauchys Exercices beschäftigt fand, die er als außerordentlich instruktiv pries. Es scheint mir das vorbedeutend für seine spätere wissenschaftliche Richtung, die ja doch vornehmlich von den Cauchyschen Prinzipien bestimmt wurde. Auf der Universität machte er sich bemerkbar durch eine Bewerbung um eine Preisaufgabe, bei der er den zweiten Preis davontrug. Sie betraf das Gebiet der Geometrie, und zwar den Teil desselben, der mit der Theorie der partiellen Differentialgleichungen zusammenhängt. Mit dieser Arbeit promovierte er auch 1858. Abgesehen von einer zweiten Arbeit auf demselben Gebiete bewegten sich seine ersten selbständigen Arbeiten auf dem Felde der Zahlentheorie. Die Wahl der Aufgabe in einer derselben, die Bestimmung der Klassenzahl der aus den Einheitswurzeln gebildeten komplexen Zahlen von periodischem Verhalten, zeigt, wie tief er in die Kummersche Theorie eingedrungen war.
Nachdem er an mehreren Anstalten Hilfslehrer gewesen war, auch an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule Unterricht erteilt hatte, trat er in das Kollegium der Friedrichs-Werderschen Gewerbeschule ein. 1865 habilitierte er sich an der hiesigen Universität als Privatdozent. Zu Ostern desselben Jahres erschien in dem Programm der Friedrichs-Werderschen Gewerbeschule eine Arbeit von Fuchs unter dem Titel: ,,Zur Theorie der linearen Differentialgleichungen mit veränderlichen Koeffizienten'', die zuerst die Aufmerksamkeit der mathematischen Welt auf ihn lenkte und ihm auch bald darauf die außerordentliche Professur eintrug. Sie begründet die moderne Theorie der linearen Differentialgleichungen. Das neue Licht, das von Riemanns wegen der Originalität und Tiefe gleich bewundernswerten Methoden und Prinzipien ausging und auf alle Gebiete der Analysis seine glänzenden Strahlen warf, sollte auch hier seine zündende Kraft bewähren. Die ihm eigentümliche Bestimmungsweise einer Funktion durch Grenz- und Unstetigkeitsbedingungen hatte Riemann, wie in der Theorie der Abelschen Funktionen, so auch für die Untersuchung der durch die Gaußsche Reihe darstellbaren Funktionen in Anwendung gebracht. Die Abhandlung über den letzteren Gegenstand war schon im Jahre 1857 erschienen. Doch noch war die neue Denk- und Anschauungsweise zu wenig in weitere Kreise eingedrungen, und so blieb diese jetzt so berühmte Schrift ohne merkbaren Einfluß. Selbst Kummer, mit dessen Arbeit über die hypergeometrische Reihe die Abhandlung die nächste Beziehung hatte, konnte Fuchs auf sein Befragen keine Auskunft über den Inhalt derselben geben. Das eindringliche Studium dieser Schrift veranlaßte Fuchs zu seinen Untersuchungen über lineare Differentialgleichungen. Hier entwickelt er zum ersten Male präzis den Begriff eines Fundamentalsystems von Integralen, zeigt, daß die Integrale eines solchen Systems bei Umläufen der unabhängigen Variablen um die singulären Punkte, die hier mit den Koeffizienten der Differentialgleichung gegeben sind, in lineare homogene Verbindungen ihrer selbst übergehen, woraus dann folgt, daß es stets Integrale giebt, die bei einer Umkreisung eines singulären Punktes in sich selbst mit einer Konstanten multipliziert übergehen. Der Augenblick ist mir in lebhafter Erinnerung, da Fuchs den Satz fand. Wir wohnten zur Zeit vorübergehend zusammen, und ich hörte, wie er, mitten in der Arbeit sich aufrichtend, in freudiger Erregung sagte: ,,Eben habe ich einen schönen Satz gefunden.'' Da er vor der Veröffentlichung einer Arbeit sich nie über dieselbe äußerte, so mußte ich mich schon gedulden, bis die Arbeit publiziert war. Dieser Satz war in der That fundamental für die Theorie der linearen Differentialgleichungen; denn er führte unmittelbar zu dem Ergebnis, daß sich die Integrale in der Umgebung singulären Punkte wie Potenzen und Logarithmen verhalten. Von der größten Wichtigkeit war die Abgrenzung einer gewissen wohldefinierten, jetzt sogenannten Fuchsschen Klasse von linearen Differentialgleichungen, bei der nach dem heutigen Ausdruck die Integrale keine Unbestimmtheitsstellen besitzen und daher in ihren Eigenschaften den algebraischen Funktionen am nächsten kommen. Für sie beherrscht man das Verhalten der Integrale für alle Werte der unabhängigen Variablen. Namentlich konnte man auf algebraischem Wege die Exponenten des Anfangsgliedes in der Entwickelung der Integrale in der Umgebung der singulären Punkte bestimmen.
Nachdem die Grundlagen der Theorie der linearen Differentialgleichungen entwickelt waren, zeigte sich bald, daß dieselbe nicht nur auf bereits erforschte Gebiete neues Licht warf, sondern auch zu neuen Problemen und Zielen hinzuführen geeignet war. In einer nachfolgenden Abhandlung betrachtet Fuchs die Periodizitätsmoduln des hyperelliptischen Integrals als Funktionen eines Parameters, indem die Verzweigungspunkte des Integrals als von einem Parameter abhängig angenommen werden. Diese Funktionen genügen einer linearen Differentialgleichung der Fuchsschen Klasse, deren Herleitung gegeben wird. Um aber die Anwendung der neu gewonnenen Prinzipien fruchtbar zu gestalten, wird das neue Problem gestellt, aus der Integralform selbst die Veränderungen zu bestimmen, die die Funktion bei beliebigen Umläufen erfährt. Die Lösung dieses Problems mittels der von ihm begründeten Methode der veränderlichen Integrationswege, kombiniert mit den erwähnten Prinzipien, bietet das Mittel dar, die Periodizitätsmoduln als lineare homogene Funktionen der Elemente eines beliebig fixierten Fundamentalsystems der Integrale der linearen Differentialgleichung darzustellen. Die erhaltenen Resultate werden später auf die Periodizitätsmoduln Abelscher Integrale ausgedehnt. Für die Periodizitätsmoduln eines elliptischen Integrals als Funktionen des Moduls führt Fuchs die Untersuchung in einem klassischen Aufsatz, der an Hermite gerichtet ist, weiter fort, und indem er umgekehrt den Modul als Funktion des Quotienten der Periodizitätsmoduln betrachtet, gewinnt er für den Fall, daß das elliptische Integral von der ersten Gattung ist, den Eingang in die Theorie der Modulfunktionen, für deren schon bekannte Eigenschaften, die aber hier aus einem weit allgemeineren Theorem abgeleitet werden, er so die wahre Quelle entdeckt. Damit im Zusammenhange steht eine neue Reihe von Untersuchungen, die die Verallgemeinerung des Jacobischen Umkehrungsproblems im Auge haben, und wo es sich um die Frage handelt, welcher Art die Funktionen sein müssen, die die Stelle der algebraischen Funktionen einnehmen dürfen, wenn die Umkehrbarkeit erhalten bleiben soll. Ich hebe daraus nur den Fall hervor, wo es sich, um Funktionen handelt, die durch Umkehrung der Integrale zweier Lösungen linearer Differentialgleichungen zweiter Ordnung entstehen. Hier wird ebenfalls die unabhängige Variable als Funktion des Quotienten der beiden Lösungen eingeführt und einer eingehenden Behandlung unterworfen, wobei sich ergiebt, daß dieselbe unter den für die Umkehrbarkeit erfüllten Bedingungen eine eindeutige Funktion dieses Quotienten ist. Diese Arbeit hat Herrn Poincaré zu seinen ausgezeichneten Untersuchungen über die Funktionen, welche durch lineare Substitutionen unverändert bleiben, den direkten Anlaß gegeben. Mit Hilfe dieser Funktionen, von denen er eine gewisse Klasse mit dem Namen der Fuchsschen Funktionen bezeichnet, gelingt es ihm zur Bewunderung der mathematischen Welt zu zeigen, wie man abhängige und unabhängige Variable einer linearen Differentialgleichung mit algebraischen Koeffizienten und ebenso zwei durch eine beliebige algebraische Gleichung verknüpfte Veränderliche als eindeutige Funktionen eines Parameters darstellen kann.
Die Frage nach der algebraischen Integrierbarkeit linearer Differentialgleichungen war für die spezielle Differentialgleichung, der die Gaußsche Reihe genügt, zum ersten Male von Herrn Schwarz in einer berühmten Abhandlung gelöst worden. Fuchs löste diese Frage für die allgemeine lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung. Die Methode, die er dabei anwandte, ergab Beziehungen zur Invariantentheorie algebraischer Formen. Bei Gelegenheit der Herstellung der dabei in Frage kommenden sogenannten Primformen stellt er den Algebraikern das Problem, die Formen n-ten Grades zu bestimmen, deren Kovarianten von niedrigerem als n-ten Grade verschwinden. Denn durch diese Eigenschaft konnten die Primformen definiert werden. Die Lösung dieses Problems würde ihm die Bestimmung der Primformen, die er auf einem anderen Wege gab, erleichtert haben. Herr Gordan löste in der That später das gestellte Problem. Für die linearen Differentialgleichungen höherer als zweiter Ordnung nahm Fuchs die Frage auf andere Weise in Angriff, indem er die Voraussetzung machte, die für algebraische integrierbare Differentialgleichungen stets erfüllt ist, daß zwischen den Elementen eines Fundamentalsystems eine oder mehrere homogene Gleichungen höheren als ersten Grades bestehen, und sich die Aufgabe stellte, die Natur der Integrale unter dieser Voraussetzung zu ergründen. Er führte die Untersuchung für den Fall der dritten Ordnung aus, wo nicht mehr als eine solche Relation bestehen kann, Ohne auf das Nähere hier einzugehen, will ich nur bemerken, daß gerade diese Arbeit eine große Anzahl von Mathematikern zur Nachfolge anregte. Die Differentialausdrücke invarianter Natur, die hier eine Rolle spielen, die sogenannten Differentialinvarianten, sind infolge dieser Anregung Gegenstand eingehender Untersuchungen geworden.
Auch auf nichtlineare Differentialgleichungen richtete Fuchs seine Aufmerksamkeit. Hier ist wiederum die präzise Fragestellung und der methodische Gang seiner Untersuchung bezeichnend. Die linearen Differentialgleichungen sind dadurch ausgezeichnet, daß die Ver- zweigungspunkte ihrer Integrale von den gewählten Anfangswerten unabhängig sind. Fuchs stellt nun die Frage allgemein nach den Differentialgleichungen, deren Integrale sich derselben Eigenschaften erfreuen, und beantwortet sie für die Differentialgleichungen erster Ordnung, indem er die Form einer solchen Differentialgleichung und die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Koeffizienten genau feststellt. Es zeigt sich dabei, daß das Geschlecht der Differentialgleichung als algebraischer Gleichung für die Funktion und ihre erste Ableitung, in der die unabhängige Variable als Parameter angesehen wird, eine Rolle spielt. Diesen Gedanken faßt Herr Poincaré auf und gelangt zu der überraschenden Entdeckung, daß, falls das Geschlecht größer als Eins ist, das Integral einer solchen Differentialgleichung stets algebraisch ist. Eine schöne Reihe von Arbeiten deutscher und französischer Mathematiker, die der betretenen Bahn folgten und die Methode auf Differentialgleichungen höherer Ordnung auszudehnen suchten, wobei allerdings so abschließende Resultate nicht zu erlangen waren, zeigt die Fruchtbarkeit der gewählten Fragestellung. Denn das ist eben das Bemerkenswerte an dem Gange seiner Untersuchungen, daß sie auch den mitstrebenden Mathematikern ein dankbares Arbeitsfeld erschließen. Kurz berühren will ich noch die Anregung, die Fuchs ebenfalls auf dem Gebiete der nicht linearen Differentialgleichungen dadurch zur weiteren Forschung gegeben hat, daß er auf manche Lücke in den Entwickelungen von Briot und Bouquet aufmerksam gemacht hat, namentlich in der Frage, ob das holomorphe Integral, das durch gewisse Anfangswerte definiert ist, auch wirklich das einzige ist, welches diesen Anfangsbedingungen genügt, wie Briot und Bouquet bewiesen zu haben glaubten. Die Untersuchung ergab, daß es in der That im allgemeinen mehr als ein Integral giebt, das vorgeschriebenen Anfangsbedingungen entspricht.
Eine ganz neue Reihe von höchst folgenreichen Untersuchungen über lineare Differentialgleichungen beginnt mit der Einführung der sogenannten Assoziierten einer linearen Differentialgleichung, denen die Unterdeterminanten, die aus der Determinante eines Fundamentalsystems von Integralen der ursprünglichen Differentialgleichung gebildet werden können, genügen. Hier faßt Fuchs besonders den Fall ins Auge, daß die ursprüngliche Differentialgleichung zu denen gehört, deren Substitutionsgruppe von einem in den Koeffizienten auftretenden Parameter unabhängig ist. Nun gehören zu den Differentialgleichungen der bezeichneten Kategorie diejenigen, welchen die Periodizitätsmoduln der hyperelliptischen und überhaupt der Abelschen Integrale genügen. Für den Fall, daß das Geschlecht gleich 2 ist, findet Fuchs die Reduktibilität der zweiten Assoziierten in dem von Herrn Frobenius fixierten Sinne, dem man überhaupt die Einführung des wichtigen Begriffs der Reduktibilität in die Theorie der linearen Differentialgleichungen verdankt. Hieraus ergeben sich die Weierstraßschen Relationen zwischen den Periodizitätsmoduln der hyperelliptischen Integrale erster und zweiter Gattung, so daß auch für diese berühmten Relationen eine neue Quelle in der Theorie der linearen Differentialgleichungen gefunden war. Fuchs hatte die große Freude, daß sein Sohn in seiner Doktordissertation die analoge Untersuchung für die Differentialgleichungen, denen die Periodizitätsmoduln der hyperelliptischen Integrale von beliebigem Geschlecht genügen, durchführte, indem er den Reduktibilitätssatz auf alle Assoziierten ausdehnte. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchung folgen die Weierstraßschen Relationen im allgemeinen Falle.
Abgesehen von dieser Anwendung ist die Betrachtung der Kategorie von linearen Differentialgleichungen, deren Substitutionsgruppe von einem in den Koeffizienten auftretenden Parameter unabhängig ist, an sich nach zwei Seiten hin von Wichtigkeit. Einmal giebt sie Aufschluß über die Eigenschaften gewisser simultaner partieller Differentialgleichungen, die bereits von anderer Seite her den Mathematikern sich dargeboten hatten, und hier hatte wieder Fuchs die Freude, daß die jüngst im Programm des Bismarck-Gymnasiums erschienene Arbeit seines Sohnes es sich zur dankenswerten Aufgabe machte, die Darstellung der bezüglichen Untersuchungen in einer durchsichtigen, weiteren Kreisen zugänglichen Weise zu geben, wobei er den Gegenstand von neuen Gesichtspunkten aus behandelt und zu einem wichtigen ohne Beweis gegebenen Satze den Beweis hinzufügt. Andrerseits ergiebt sich die allgemeine Bedeutung der bezeichneten Kategorie von Differentialgleichungen durch die neuesten Arbeiten des Herrn Schlesinger, in denen er ein Problem, das bereits Riemann, wie aus seinen nachgelassenen Schriften hervorgeht, beschäftigt hatte, mit den neu gewonnenen Hilfsmitteln wieder aufnimmt. Das Problem besteht darin, ein System von n Funktionen zu bestimmen, für welche die Lage ihrer Verzweigungspunkte und die Gruppe der linearen Substitutionen, welche sie bei Umläufen der unabhängigen Variablen erfahren sollen, willkürlich vorgeschrieben sind. Unter gewissen Bedingungen, die nur die Substitutionen betreffen, erbringt Herr Schlesinger den Existenzbeweis für die Funktionen dieselben genügen einer linearen Differentialgleichung n-ter Ordnung Betrachtet man jetzt die Substitutionen als fest gegeben, die Verzweigungspunkte aber als variabel, etwa als Funktionen eines Parameters, so werden wir hier gerade auf Differentialgleichungen geführt deren Substitutionsgruppe von dem in ihren Koeffizienten enthaltenen Parameter unabhängig sind. Demnach erscheinen, wenn man vom Riemannschen Problem ausgeht, die Differentialgleichungen der bezeichneten Kategorie als der allgemeine Fall, während sie, von Seiten der Differentialgleichung angesehen, sich als besonderen Fall darstellen — eine Erscheinung, die auch auf anderen Gebieten der Mathematik oft beobachtet wird.
Indem ich hiermit die gegenüber der Fülle des Stoffs nur zu lückenhafte Schilderung der wissenschaftlichen Werke von Fuchs schließe, ist es mein Wunsch, daß es mir gelungen sein möge, Ihnen von dem Reichtum, der Tiefe und der Fruchtbarkeit seiner Schöpfungen eine Vorstellung zu geben.
Sein Lebensgang erfuhr 1869 eine Wendung, indem er nach Greifswald als ordentlicher Professor berufen wurde. Vorher aber war ein beglückendes Ereignis in sein Leben eingetreten, indem er die Erkorene seines Herzens, Marie Anders, als Gattin heimführte. Sie verlieh der zweiten Hälfte seines Lebens sonnigen Glanz durch die sorglichste Pflege, die sie in unbegrenzter Verehrung ihm widmete, und durch die muntere Lebhaftigkeit ihres Geistes, mit der sie sein Gemüt erhellte und, alles Widrige von ihm fernhaltend, die Bahn für sein geistiges Schaffen ebnete. 1874 kam er nach Göttingen und im Jahre darauf nach Heidelberg, der Stadt, in der seine Erinnerungen am liebsten weilten. Hier traf auch alles zusammen, was seinem Geist und Gemüt im Innersten zusagte: Herrlichkeit der Naturumgebung, für die er bei seinem ausgeprägten tiefen Naturgefühl besonders empfänglich war, der persönliche Verkehr mit den Studenten, die Freiheit, mit der er als der einzige ordentliche Professor in seinem Fache seiner wissenschaftlichen Denkweise Geltung verschaffen konnte — wie denn auch die meisten Schüler, die sich einen Namen gemacht haben, von da entstammen — endlich und nicht zum mindesten die herzlichen Beziehungen zu den Kollegen aus den verschiedensten Fakultäten, die auch über die Zeit seines Aufenthalts erhalten blieben. 1884 kehrte er, einem ehrenvollen Rufe folgend, nach Berlin zurück, wo er denn allerdings erst den seiner Bedeutung angemessenen Wirkungskreis fand.
Von seiner Lehrthätigkeit als Dozent rühmen seine Hörer die Klarheit seines Vertrags, der in langsamer Rede dahinfloß. Es kam ihm nicht darauf an, seine Hörer mit einer Fülle von fertigen Resultaten zu belasten; er war vielmehr darauf bedacht, ihnen den Weg zur präzisen Stellung des Problems zu weisen und die entsprechende Methode der Untersuchung einzuprägen — die beste Weise, den Empfangenden zur selbständigen Forschung anzuregen. Als bemerkenswert verdient hervorgehoben zu werden, daß Fuchs in Berlin zuerst in seinen Vorlesungen die Studierenden in die Riemannsche Anschauungsweise einführte, für deren Kenntnis sie vor ihm auf Lehrbücher angewiesen waren.
Wie er in der Wissenschaft auf Strenge hielt, so war er auch als Mensch durch Gediegenheit seines Wesens und Liebe zur Wahrheit ausgezeichnet. Bei allen Fragen seines Faches hatte er nur die Sache und die Würde der Wissenschaft im Auge, persönliche Rücksichten lagen ihm fern. Für seine Person strebte er nicht nach äußeren Ehren. Er war stets der Ansicht, daß der wahre Lohn der Arbeit in der Freude an dieser selbst liege. ,,Dieser Lohn'', so schrieb er mir einmal, ,,ist invariabel und namentlich keine Funktion des Wohlwollens der Mitmenschen.'' Wahres Verdienst erkannte er gern bei anderen an. Namentlich verfolgte er mit großer Teilnahme die Fortschritte jüngerer Talente, die er in jeder Beziehung zu fördern suchte. Für seine Studierenden war sein gastfreies Haus jederzeit offen. Viele werden gern der geselligen Zusammenkünfte in seinem Hause gedenken, wo er durch sein gemütliches Wesen im Verein mit der Liebenswürdigkeit seiner Gattin eine wohlthuende Behaglichkeit um sich verbreitete, gewürzt durch einen feinen Humor, mit dem er aus dem reichen Schatz seiner Erinnerungen so manches zum Besten gab.
Er hatte ein weiches Gemüt, das sich demjenigen erschloß, der das Glück hatte, ihm näher zu treten, und in der Freundschaft erwies er sich treu wie Gold. Er war ein überaus zärtlicher Gatte und Vater, und seine Liebe wurde ihm von den Angehörigen mit Verehrung und Dankbarkeit vergolten. Das reine Glück, das er in der Familie fand, wurde durch einen schweren Schlag getrübt, da ihm ein prächtig entwickeltes Kind, der Liebling des Hauses, im zarten Alter durch den Tod entrissen wurde. Den Schmerz darüber hat er nie verwunden und das Andenken an den Heimgegangenen bis zu seinem letzten Atemzuge heilig gehalten.
Wenn er aber in den letzten Tagen seines Lebens an der Seite der geliebten Gattin um sich blickte, so konnte er wohl die vollste Befriedigung empfinden. Zwei liebe Töchter waren an treffliche Männer verheiratet, und zwei Enkelinnen durfte er in seine Arme drücken. Drei erwachsene wohlgeratene Söhne bildeten seinen Stolz den ältesten sah er bereits in Amt und Würden und als treuen und erfolgreichen Mitarbeiter in der Wissenschaft seines Faches. Die jüngste Tochter, der Sonnenstrahl des Hauses, war die Erquickung seines Herzens. Er selbst war noch in rüstiger Schaffenskraft, voll von Gedanken und Entwürfen, als ihn der Genius des Todes mit sanftem Flügelschlag dem irdischen Sein entrückte.
Das Bild des teuren Entschlafenen wird in unserem Herzen
fortleben, durch seine Werke hat er sich ein Denkmal für alle Zeiten
errichtet.
Hamburger, Meyer:
Gedächtnisrede auf Immanuel Lazarus Fuchs
In: Archiv der Mathematik und Physik. -
3. Reihe, Bd. 3 (1902),
S. 177-186
Signatur UB Heidelberg: L 5::3:3
Meyer Hamburger, * 5.4.1838 in Posen, † 9.6.1903 in Berlin. H. studierte Mathematik, Physik und Philosophie an der Univ. Berlin. Von 1864 bis an sein Lebensende war er Oberlehrer an der jüdischen Knabenschule in Berlin. 1883 wurde er außerdem Professor an der TH Berlin; 1895 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.
Letzte Änderung: Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
Zur Inhaltsübersicht Historia Mathematica Homo Heidelbergensis Lazarus Fuchs