Leo Koenigsberger in seiner Autobiographie Mein Leben über Lazarus Fuchs

Posen 1837-57

So war ich nun glücklich Sekundaner geworden, und ein gütiges Schicksal fügte es, daß damit auch mein ganzes Leben eine völlige Umgestaltung erfahren sollte.

Ostern 1853 hatte an demselben Gymnasium ein völlig unbemittelter, äußerst talentvoller Schüler sein Abiturexamen gemacht. Lazarus Fuchs, der später berühmt gewordene Mathematiker der Berliner Universität, war nachdem er sich, schon nicht mehr ganz jung, zunächst bei seinem Vater, einem armen jüdischen Lehrer in Moschin bei Posen, die notwendigsten Elementarkenntnisse angeeignet, von unbezwingbarer Lernbegierde getrieben, nach Posen gekommen, um sich selbst dort weiter fortzubilden. Nur notdürftig konnte er von der kleinen Unterstützung leben, welche ihm eine entfernt verwandte wohlhabende Familie zuteil werden ließ, und das ihm für jede Woche von einem Gymasiasten der oberen Klassen, dem späteren Berliner Arzte Citron aufgegebene Pensum lateinischer Übungsstücke waren die einzige Anleitung für seine durchaus selbständige Fortbildung. Er hatte Unterkunft bei einem in den dürftigsten Verhältnissen lebenden Barbier gefunden, Kaffee und Brot waren Monate lang seine einzige Nahrung, und bei etwas besser situierten Bekannten mußte er sich Lichtstümpfchen zusammenbetteln, um sich die Nächte hindurch für die Aufnahme in die oberen Gymnasialklassen vorzubereiten. Bei seinen ungewöhnlichen Anlagen gelang es ihm, schon nach 1 1/2 Jahren in die Untersekunda aufgenommen zu werden, und indem er die Obersekunda übersprang, machte er bereits Ostern 53 ein ausgezeichnetes Abiturientenexamen. Nachdem er mir schon im Winter vorher Nachhilfestunden erteilt hatte, verwendeten sich gemeinsame Bekannte, als er nun das Gymnasium verlassen und wegen gänzlicher Mittellosigkeit die Universität nicht beziehen konnte, bei meinen Eltern dafür, ihm für ein Jahr eine Hauslehrerstelle bei uns anzubieten, und es ihm durch ein wenn auch bescheidenes Honorar zu ermöglichen, seine Studien wenigstens Ostern 54 zu beginnen. Es wurde ihm, der früher weder Zeit noch Mittel gehabt, um viel Wert auf die Politur seines äußeren Menschen zu legen, nicht leicht, sich in die Formen eines wohlhabenden Hauses zu finden, aber dank des liebevollen und feinfühligen Entgegenkommens meiner Mutter lebte er sich sehr bald bei uns ein. Wie er sich um mich verdient gemacht, konnte ihm von meinen Eltern und mir nie genug gedankt werden; aus dem interessenlosen Jungen hat er einen strebsamen, fleißigen und gewissenhaften Gymnasialschüler herangebildet, und als er Ostern 54 mit Geld und Empfehlungen von meinen Eltern versehen nach Berlin ging, um Mathematik zu studieren, war ich bereits imstande, ohne jede Nachhilfe derart weiter zu arbeiten, daß ich, der als letzter nach Untersekunda versetzt wurde, schon als zweiter der Klasse in die Obersekunda eintreten durfte. In diesem einen Jahre hatte ich unter seiner Leitung schnell meine Lücken in den alten Sprachen ergänzt, und nachdem er mich dazu angeleitet, das, was der mathematische Unterricht auf der Schule mir nicht bieten konnte, aus Büchern selbständig zu erlernen, bemächtigte sich meiner ein solches Interesse und eine solche Freude an der Beschäftigung mit der Mathematik, daß ich schon als Obersekundaner fest entschlossen war, mich dem Studium dieser Wissenschaft zu widmen. Mein weiteres Schülerleben, das sich im wesentlichen auf den Umgang mit zwei Mitschülern Senftleben und Ziehlke beschränkte, die sich später als höhere Justiz- und Intendanturbeamte eine hochangesehene Stellung erwarben, war ganz durch fleißige Arbeit und die überaus häufige Korrespondenz mit Fuchs ausgefüllt, der überdies zweimal jährlich in den Universitätsferien mehrere Wochen in meinem elterlichen Hause zubrachte, um dank der sorgfältigen Pflege meiner Mutter die während des Semesters durch allzudürftige Existenzmittel in Berlin entstandenen Defekte wieder auszugleichen. Mit Pietät, Liebe und Wehmut gedenke ich der Abendstunden, in denen Fuchs im Winter 53/54 mit der Lektüre von Tobias Mayers Differentialrechnung oder der analytischen Geometrie von Umpfenbach beschäftigt mit mir an einem Tisch des uns beiden gemeinsamen kleinen Zimmers saß, während ich mich nach Absolvierung der Schulaufgaben zum Teil unter seiner Leitung in der Auflösung geometrischer Aufgaben nach Wiegand übte; niemand störte uns, außer daß Hamburger, der spätere ausgezeichnete Mathematiker, der bereits Unterprimaner war, Fuchs bisweilen besuchte, um sich dessen Rat in mathematischen und sprachlichen Fragen zu erbitten.

Bis zu meinem Abiturientenexamen blieb ich auch in der Prima der zweite der Klasse und hatte durch den anregenden Unterricht des bekanntes Gräzisten Martin und des berühmten Altertumsforschers, unseres damaligen Gymnasialdirektors und späteren Direktor der Gothaer Hofbibliothek Marquardt, das lebhafte Interesse auch für die alten Sprachen gewonnen; meine Privatstudien wandten sich jedoch ausschließlich der Mathematik zu, und die in den Universitätsferien täglichen Vorträge, die mir Fuchs nach der Theorie des Funktionen von Cournot hielt, bereiteten mich genügend für das Studium auf der Universität vor.

Berlin 1857-64

Nachdem ich das Maturitätsexamen bestanden, durch eine Prämie (Müllers Kosmische Physik) ausgezeichnet worden, und von Marquardt ein recht gutes Abiturientenzeugnis erhalten hatte, ... bezog ich Ostern 57 die Universität Berlin, wo ich bis Ostern 64 mit meinem verehrten Lehrer und Freunde Fuchs in einer überaus großen Anzahl stets wechselnder Wohnungen dasselbe, je nach dem Preise mehr oder weniger geräumige Zimmer bewohnte; mein geringer Wechsel sowie die noch längere Zeit nicht sicher basierten, lediglich auf Erteilung von Privatstunden beruhenden Einkünfte von Fuchs zwangen uns, wenigstens die ersten Jahre hindurch, zu einem überaus einfachen und bescheidenem Leben.

Dirichlet war bereits in Göttingen, Kummer sein Nachfolger in Berlin, und Weierstraß, der erst kurz vorher von Braunsberg an das Berliner Gewerbe-Institut berufen war, hatte als außerordentlicher Professor an der Universität erst im Winter 56/57 eine kleinere Vorlesung über die Gaußsche Theorie der Dispersion gehalten, die Fuchs mit sehr wenigen anderen Zuhörern auch gehört hat. Als ich Ostern 57 nach Berlin kam, war ich so weit vorbereitet, daß ich Weierstraß' erste Vorlesung über die Theorie der elliptischen Funktionen hören konnte, von deren Inhalt ich als einziger noch lebender Zuhörer erst vor zwei Jahren eine kurze Skizze veröffentlicht habe. Die geringe Zahl der Zuhörer in dieser Vorlesung hatte sich allmählich auf 4 bis 5 Hörer reduziert, zu denen auch Fuchs und bisweilen Bolzani gehörten.


Fuchs war während seiner Studienzeit Kummer auch persönlich näher getreten, und dessen Vorlesung über die Theorie der krummen Linien und Flächen veranlaßten ihn, sich auf seinen Rat als Thema der Dissertation die Aufsuchung der Krümmungslinien für verschiedene Flächengattungen zu wählen. Kummer hatte ihn zunächst auf das Studium von Monge's applications de l'analyse à la géométrie hingewiesen, aber die Anschaffung dieses Werkes erforderte eine für seine Verhältnisse damals unerschwingliche Ausgabe; auf den Leihzetteln der königlichen und Universitäts-Bibliothek fand sich stets der Vermerk ,,verliehen'', und auch ich war erst, nachdem ein Teil seiner Dissertation bereits fertig gestellt war, in der Lage, mir dieses Werk antiquarisch zu erwerben. So trat Fuchs, meist nur mit den aus Cournot gewonnenen Kenntnissen ausgerüstet, an die Behandlung der Aufgabe heran, und es gelang ihm, nachdem er manches, was bereits bekannt war, wiedergefunden, durch selbständige und geistvolle Überlegungen die Krümmungslinien neuer Flächengattungen zu ermitteln. Weingarten, damals noch Lehrer an der Gewerbeschule, später eine der Zierden der Berliner technischen Hochschule, ein stud. Fischer und ich, der dreisemestrige Student, waren Opponenten in den damals noch üblichen Kontroversen der öffentlichen Disputation bei der am 2. August 58 mit der Dissertation:  ,,De superficierum lineis curvaturae''  erfolgten Promotion. Während nun Fuchs, nachdem er unmittelbar darauf sein Oberlehrerexamen gemacht, Hilfslehrerstellen an der Gewerbeschule und der Luisenstädtischen Realschule bekleidete, hörte ich in den folgenden Semestern außer einer physikalischen und philosophischen Vorlesung bei Dove und Trendelenburg noch die wenigen übrigen mathematischen Vorlesungen, welche die Berliner Universität damals bot. ... Indem ich noch Kenntnisse sammelte, beschäftigte sich Fuchs bereits mit seinen ersten zahlentheoretischen Untersuchungen im Anschluß an die berühmten Kummerschen Arbeiten über ideale Zahlen.

Die Zahl unserer Bekannten war gering; wiewohl noch Student wurde ich von Fuchs in ein kleines mathematisches Kränzchen eingeführt, dem früher auch Riemann angehörte, und in dem sich jetzt regelmäßig die Mitglieder versammelten.


Aber meine glückliche und rasche Überwindung der verschiedenen Stadien aller dieser Prüfungen konnte die Hindernisse nicht aus dem Weg räumen, welche in der politischen und kirchlichen Anschauungen der damaligen Blütezeit der Reaktion tief begründet waren, und welche auch Fuchs noch immer in seiner schweren und dürftigen Stellung als nicht etatmäßigen Hilfslehrer festbannten. So mußten Fuchs und ich sich die Frage vorlegen, ob wir den herrschenden, engherzigen Anschauungen der Regierung unser ganzes wissenschaftliches Leben und unsere Existenz überhaupt zum Opfer bringen oder, nachdem wir längst alle religiösen Vorurteile abgestreift, zum Christentum übertreten sollten. Fuchs hatte bereits drei Jahre in ewigem Zaudern und Schwanken verstreichen lassen, da er Rücksichten der verschiedensten Art auf seine Familie nehmen mußte, während ich, da mein elterliches Haus jeder streng religiösen Richtung fern stand, von derartigen Fesseln frei war; und so hatte mein fester Vorsatz auch für Fuchs, der sein ganzen Leben hindurch bei jedem entscheidenden Entschlusse ängstlich und zaghaft gewesen, die Folge, daß auch seine Zukunft gerettet wurde. Durch unsere verehrten Lehrer Kummer und Weierstraß in unserer Absicht bestärkt, traten wir beide, dank dem von wahrhaft religiöser und im edelsten Sinne freiheitlicher Gesinnung getragenen Entgegenkommen des Predigers Müllensiefen in unserm Gewissen nicht beschwert, zum Christentum über.
So waren es hauptsächlich die Abend- und Nachtstunden, die mir in den nächsten vier Jahren für mathematische Studien übrig blieben.

Häufig kamen in dieser Zeit Fuchs und ich mit Roethig, dem Verfasser einiger schönen Potentialarbeiten, sonders aber mit Natani, Weingarten, Paul du Bois-Reymond und Hamburger, die nicht Mitglieder unseres Kränzchens waren, meist in dem Bierlokal von Donny am Dönhofsplatz — der Arbeitsstätte von Natani, Weingarten und du Bois — zusammen, um einige Stunden in anregender und fruchtbringender, wissenschaftlicher Unterhaltung zu verplaudern.


So vergingen meine ersten Jahre nach vollendetem Studium in ernster angestrengter Arbeit in engem Zusammenleben mit Fuchs, der sich schon Ende 63 mit Riemanns Arbeit über die Differentialgleichung der hypergeometrischen Reihe zu beschäftigen begann. ...

Im übrigen verlief unser arbeitsvolles Leben ruhig und ohne Zwischenfälle und erhielt nur Freude und Anregung von außen durch politische Diskussion und wissenschaftliche Dispute; die Unzufriedenheit einiger aus unserm Kreise mit der schulmeisterlichen Tätigkeit, die mir persönlich recht gut behagte, gab der Unterhaltung Heiterkeit und Würze. Fuchs mußte der vielen Privatstunden wegen auch die Ferien in Berlin zubringen, während ich, nachdem ich wegen eines vorübergehenden Magenleidens beim Militär der Ersatzreserve überwiesen worden, regelmäßig in den freien Wochen meine Eltern besuchte und dank ihrer liebevollen Pflege bald wieder gesundete.


Freilich konnte ich dabei ein unangenehmes Gefühl Fuchs gegenüber, zu dessen wissenschaftlicher Bedeutung ich stets hinaufgesehen, nicht unterdrücken, und es fiel mir die Trennung von ihm, mit dem ich mit kurzen Unterbrechungen fast 10 Jahre zusammengelebt, sehr schwer.

Greifswald 1864-69

Inzwischen war in Berlin beschlossen worden, an der Universität ein Extraordinariat für Mathematik zu besetzen; Fuchs hatte sich bereits, wenn auch im Widerstand gegen gewisse engherzige Anschauungen, die eine Vereinigung der Lehrtätigkeit am Gymnasium und der Universität nicht für zuträglich hielten, durch Weierstraß' Fürsprache habilitiert, und es lag nahe, daß er, dessen große fundamentale Untersuchungen über die linearen Differentialgleichungen aus den Jahren 65 und 66 in der mathematischen Welt Aufsehen erregt hatten, in das neu zu kreierende Extraordinariat einrücke. Ich freue mich, mit Befriedigung auf meine Verhandlungen mit Weierstraß darüber und auf mein direktes Eingreifen bei dem Minister v. Mühler zurückblicken zu können, durch welches die sofortige Ernennung von Fuchs ermöglicht, und ihm auf Weierstraß' energische Fürsprache ein Gehalt bewilligt wurde.
Am 24. November erhielt ich mein Anstellungsdekret aus Karlsruhe, und nun trat die bei der Entfremdung, welche zwischen Grunert und mir immer größer geworden, schwierige Aufgabe an mich heran, für meinen Nachfolger Sorge zu tragen. Von den hervorragendsten deutschen Mathematikern wurden mir die tüchtigsten jungen Gelehrten, welche sehr bald zu unseren bedeutendsten Förderern der Wissenschaft gehörten, in Vorschlag gebracht — Richelot interessierte sich für die Berufung von Rosenhain — aber für mich gab es keine Wahl — mit voller Energie brachte ich Fuchs in Vorschlag, dessen Name als der eines der hervorragendsten Analytikers bereits seit mehreren Jahren festgegründet war, und der sich noch immer in der Zwitterstellung eines Gymnasiallehrers und außerordentlichen Universitätsprofessors befand. Mein Vorschlag wurde von der Fakultät angenommen, nachdem ich ihr das nachfolgende Schreiben von Weierstraß vorgelegt hatte: ... und nun, nachdem die Fakultät meinen Vorschlag angenommen und zu meiner Kenntnis gelangt war, daß sich verschiedene Einflüsse von hervorragender Seite in Berlin bei der Regierung gegen die Berufung von Fuchs geltend machten, benutzte ich die Gelegenheit, Mühler persönlich meine Berufung nach Heidelberg anzuzeigen, um seine Aufmerksamkeit und sein Interesse auf Fuchs zu lenken, und erhielt auch von ihm die Versicherung, alles, was in seinen Kräften steht, tun zu wollen, um Fuchs für Greifswald zu gewinnen. Kurz darauf erfolgte in der Tat dessen Ernennung zum ordentlichen Professor in Greifswald, und ich war von dem drückenden Gefühl befreit, Ordinarius in Heidelberg zu sein, während der Mann, zu dem ich früher, damals und später nicht nur in Dankbarkeit sondern in größter wissenschaftlicher Verehrung emporgeblickt, für die freie Entfaltung seiner reichen Gaben die geeignete Stellung noch immer nicht hatte finden können.

Heidelberg 1869-74

Die Frage, wer mein Nachfolger in Heidelberg werden sollte, machte viele und schwierige Verhandlungen nötig. Nachdem Aronhold, wie er mir im November 74 schrieb, einen von der Badischen Regierung mit einem hohen Gehalt an ihn ergangenen Ruf abgelehnt, schlug ich der Fakultät Fuchs, P. Gordan und A. Mayer in der bezeichneten Reihenfolge vor; die Fakultät akzeptierte meine Vorschläge und bezeichnete die Berufung von Fuchs auf mein Andringen als besonders wünschenswert. Die Verhandlungen mit demselben gestalteten sich aber sehr schwierig, teils durch die ihm angeborene Unentschlossenheit, teils durch eine zu weitgehende Rücksichtnahme auf die finanziellen Verhältnisse seiner Familie. Am 3. Januar 75 erhielt ich von Weierstraß folgendes Schreiben:

,,So eben erhalte ich von Herrn Göppert die durch Verschulden der Post verspätete Benachrichtigung, daß er noch am 31., nachdem auch er von Fuchs eine telegraphische Anfrage erhalten, darauf telegraphisch geantwortet und zugleich an den Curator der Göttinger Universität geschrieben habe. Seitdem sei er ohne Nachricht. Hieraus ziehe ich den Schluß, daß Fuchs wirklich, wie er mir schrieb, am 1. nach Karlsruhe abgereist ist, weswegen ich es vorziehe, Ihnen diese Mittheilung zukommen zu lassen. Ich hatte Fuchs gebeten, daß, wenn er einen Ruf nach Heidelberg erhalten sollte, mich davon sofort in Kenntniß setzen zu wollen. Er hat dies nicht gethan; ich habe daher kein Recht, ihm in dieser Angelegenheit einen Rat zu geben. Da er aber weiß, welch lebhaftes Interesse ich stets an allem, was ihn betraf, genommen habe, so wird er es mir nicht übel deuten, wenn ich ihn bitte, doch bedenken zu wollen — falls es nicht zu spät ist — daß er sich, wenn er die so eben erst angetretene ehrenvolle Stelle und die Mitgliedschaft einer altberühmten Societät um einer Differenz von 100 Thaler willen aufgiebt, er sich dadurch die Rückkehr nach Preußen, die ihm doch früher oder später einmal wünschenswert erscheinen kann, auf das Wesentlichste erschwert. Sie haben sich in Ihrem Falle mit vollem Recht gekränkt gefühlt, daß Ihr Minister auf die Anzeige von dem erhaltenen Rufe nach Dresden Ihnen in keiner Weise zu erkennen gegeben habe, daß er auf Ihr Verbleiben in Heidelberg Werth lege und Sie haben mir gesagt, daß Sie nach einer derartigen Erklärung geblieben sein würden auch ohne Gehaltsaufbesserung. Nun Fuchs hat eine solche Erklärung sofort erhalten und außerdem das Anerbieten einer Gehaltsverbesserung, durch welche er finanziell besser gestellt worden wäre, als irgend ein mathematischer Docent auf den übrigen Preußischen Universitäten. Daß unter diesen Umständen sein Zögern, eine bestimmte Erklärung abzugeben, und seine Abreise nach Karlsruhe, die als erfolgt angesehen wird, ohne die binnen wenigen Tagen in Aussicht stehende Entscheidung des Ministers abzuwarten, hier einen üblen Eindruck gemacht, werden Sie begreiflich finden.''

Da ich aber wußte, daß Heidelberg mit all seinen Lebensbedingungen den Anschauungen und Wünschen von Fuchs weit besser behage als der Aufenthalt in Göttingen, und daß es nicht sein Ehrgeiz sei, eine große Schule heranzubilden, wie es dann den ausgezeichneten Göttinger Mathematikern gelungen, so mußte ich ihm trotzdem zureden, den Ruf nach Heidelberg anzunehmen und wandte mich persönlich zum Zwecke der Förderung der Angelegenheit nach Karlsruhe. So wurde Fuchs mein Nachfolger in Heidelberg, wo er, wie er häufig äußerte, die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hat. Noch im Jahre 86 schrieb er mir aus Berlin:

,,Ich kann Dir die Versicherung geben, daß ich noch jetzt fast täglich mit einem gewissen Heimweh an Heidelberg zurückdenke. Wo ist die schöne Zeit hin, wo ich noch in der Lage war, ruhig zu arbeiten, ruhig einen Gedankenfaden für längere Zeit abzuspinnen! Wo soll ich jetzt meine Grillen lassen, die ich sonst in alle Winde zerstreuen konnte, wenn ich die ersten 1000 Fuß Höhe passirt hatte!''

Wien 1877-84

Schon anfangs 82 war, wie mir Kirchhoff schrieb, die Berufung von Fuchs nach Berlin beschlossen, und nur der Zeitpunkt war noch nicht definitiv festgestellt.

Heidelberg 1884-...

Das 500jährige Jubiläum der Universität im Jahre 86 mit all seinen Freuden und Leiden ist mir durch die Anwesenheit Hermite's, der acht Tage in meinem Hause zusammen mit Fuchs und Zeuner wohnte, in freudigster Erinnerung geblieben ...
Im Jahre 1900 reiste ich zur 200jährigen Jubelfeier der Akademie nach Berlin, um zugleich Fuchs und meine Mutter wiederzusehen, welche nach dem Tode meines Vaters zu meinen beiden verheiraten Schwestern nach Berlin gezogen war, — es war das letztemal! meine Mutter starb schon wenige Monate darauf in ihrem 84 Lebensjahr, nachdem ihr mein Vater 74 Jahre alt schon im Jahre 81 vorausgegangen; Fuchs starb 68 Jahre alt im Jahre 1902.

Koenigsberger, Leo: Mein Leben. - Heidelberg, 1919. - 217 S.     Volltext
Signatur UB Heidelberg: 71 A 1404


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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