Beiträge Moritz Cantors zum
Naturhistorisch-Medizinischen Verein zu Heidelberg

Moritz Cantor zählte zu den Gründungsmitgliedern des 1856 gegründeten   Naturhistorisch-medicinischen Vereins.   In den Verhandlungen des Vereins sind zwischen 1856 und 1863 mehrere Vorträge Moritz Cantors dokumentiert.


Band 1 — Seite 5

4. Vortrag des Herrn Dr. Cantor „über Porismen“, am 21. Nov. 1856.

Diese mathematisch-historische Untersuchung sollte hauptsächlich zeigen, wie alle Divinatoren der Porismen des Euclid immer nur den Inhalt in ihnen vermutheten, mit dem sie selbst sich meistens beschäftigten. Diesen Nachweis zu führen, wurden zuerst die Stellen des Pappus, Diophant, Proclus mitgetheilt, auf die jene Divinatoren sich stützten und dann eine kritische Zusammenstellung der Hauptansichten gegeben. Den Schluss bildete die Conjectur, es dürfte ein besseres Verständniss der Porismen erzielt werden, wenn man die Interpretation nicht vom geometrischen Standpunkte, sondern von dem der Analysis aus versuche. Dann aber lasse sich folgende Analogie neuerer und älterer Untersuchungen behaupten: Eigenschaften einer Funktion finden, gibt das Theorem an, Werthe der Funktion bei gegebenem Argumente leitet das Problem ab; endlich aus Eigenschaften auf die Art der Funktion schliessen, lehrt das Porisma. —

Anmerkung:
Ausführlicher ist das Thema im Aufsatz   Ueber die Porismen des Euclid und deren Divinatoren abgehandelt, der im 2. Band der Literaturzeitung der Zeitschrift für Mathematik und Physik 1857 erschienen ist.
(Dörflinger, Universitätsbibliothek Heidelberg, 2011)


Band 1 — Seite 164-165

59. Vortrag des Herrn Dr. Cantor über die Mathematik des Pythagoras am 29. November 1858.

Durch einen Abriss der Lebensbeschreibung des Pythagoras wurde nachgewiesen, wie die mathematischen Kenntnisse desselben einen doppelten Ursprung haben, welchen sie auch durch Verschiedenheit des Inhaltes deutlich erkennen lassen. Aus Aegypten stammen die geometrischen Kenntnisse, aus Babylon Alles, was auf Zahlen sich bezieht.

Die Bedeutung der Geometrie des Pythagoras liegt nicht bloss in den Sätzen, welche freilich an sich schon wichtig genug sind; sie liegt ganz besonders in der formellen Methode, derjenigen Methode, welche unter dem Namen Synthesis verbreitet ist, und welche eine ähnlich kategetische Ausdrucksweise besass, wie sie in allen Lehren des Pythagoras sich vorfindet.

Inhalt der geometrischen Sätze war die Theorie der Paralell-Linien und daran anknüpfend der Verwandlung der Figuren. Ferner Untersuchungen über regelmässige Polygone und Polyeder, wobei auch schon die Sternpolygone in Betracht gezogen wurden. Es ist nicht unwichtig, dass letzterer Gegenstand auch bei Boethius wieder auftritt. Dadurch tritt die von dem Vortragenden bei verschiedener Gelegenheit verfochtene These von der Autorität des Boethius für die Einführung der Ziffern durch Pythagoras in ein neues Licht. Und ähnlicherweise controlirt die Darstellung der geometrischen Methoden des Phythagoras die Ansichten, welche der Vortragende früher über die Porismen des Euclid aufgestellt hatte.

In Bezug auf die Zahlenlehre mussten zunächst die neuesten Untersuchungen angedeutet werden, welche den indirect babylonischen Ursprung der Zahlzeichen unabweisbar erscheinen lassen. Es wurde alsdann gezeigt, wie China (vielleicht das ursprüngliche Vaterland der Ziffern) schon in vorpythagorischer Zeit den Satz kannte dass Seiten von der Länge 3, 4, 5 ein rechtwinkliges Dreieck bilden; dass ferner zahlentheoretische Untersuchungen im Oriente zu den verbreitetsten gehören. Daher durfte die Hypothese aufgestellt werden : Pythagoras habe sich mit derjenigen unbestimmten Aufgabe beschäftigt, welche in modernen Zeichen

x² + y² = z²
heissen würde; er habe eingesehen, dass die Zahlen 3, 4, 5 unter Anderen ihr genügen, und dadurch habe der chinesische Satz, der sich auf dieselben Zahlen bezog, Interesse für ihn gewonnen. Er habe ihn zu beweisen gesucht, und da dieser Beweis, wie früher gezeigt, nur geometrisch sein konnte, so habe er den Satz entdeckt, welcher seinen Namen führt. Diese Hypothese allein erklärt Alles, was bisher noch dunkel oder widersprechend: schien, und namentlich in Röth's sonst vortrefflicher Schilderung des Pythagoras und seiner Mathematik noch sehr mangelhaft ist.

Besonders einleuchtend wird es jetzt, wie der Satz vom rechtwinkligen Dreiecke weit weniger zu geometrischen als zu zahlentheoretischen Consequenzen führte, wie aus ihm der Begriff der Irrationalzahlen fliessen musste u. s. w.

Die Auflösung der Gleichung

x² + y² = z²
scheint in der Weise geliefert worden zu sein, dass man daraus
x² = (z+y) · (z-y)
folgerte und alsdann für z+y und z-y ähnliche Flächenzahlen einsetzte , etwa   z + y   =  α · β²,   z - y  =  α · γ²,   woraus die Werthe
x = α · β · γ
y = α/2 (β² - γ²)
z = α/2 (β² + γ²)
folgen. Aus diesen Werthen ergeben sich wenigstens am Einfachsten die zwei Auflösungen, welche die Alten schon dem Pythagoras-und dem Plato zuschrieben; aus ihnen folgt ebenso auch die Bedeutung, welche das Hetoromekeis genannte Product n(n + 1) bei diesen Mathematikern besass.


Band 2 — Seite 67-68

30. Vortrag des Herrn Dr. Cantor „über die Lebenszeit des Zenodorus“, am 26. October 1860.

Herr Professor Nokk in Freiburg veröffentlichte als Programm des dortigen Lyceums eine Uebersetzung der isoperimetrischen Untersuchungen des Zenodorus, wozu er den Text den gleichlautenden Auszügen entnahm, wie sie bei Theon von Alexandrien und bei Pappus sich finden. Er knüpfte daran Untersuchungen über die Lebenszeit des Zenodorus, und bewies, dass derselbe des Archimedes Schriften angeführt habe, also jedenfalls später als 250 v. C. gelebt haben müsse. Der Vortragende suchte nun die eigentliche Lebenszeit jenes griechischen Mathematikers noch näher zu bestimmen, welche wegen der Wichtigkeit seiner Forschungen von Interesse ist, insofern es bedeutsam erscheinen muss, wann so tiefe Untersuchungen zuerst geführt wurden. Die Historiker waren seit Ramus übereingekommen, in Zenodorus einen Schüler des Oenopides von Chios zu sehen, und setzten ihn mit geringen Verschiedenheiten von 552 - 452 v. C. Wenigstens finden sich diese Angaben bei Blancanus, Heilbronner, Montucla u. A. Etwas später setzte ihn Baldi, nämlich in's Jahr 398 v. C., indem er ihn Schüler des Andron und Anhänger der Lehre des Oenopides nennt. Vossius spricht zwar von Oenopides, ohne jedoch den Namen des Zenodorus zu erwähnen. Diese Angaben, welche sämmtlich schon durch die Beweisführung des Herrn Nokk als unhaltbar sich ergeben, stützen sich sämmtlich auf eine Stelle des Proclus, welche im Urtexte der Basler Ausgabe folgendermassen lautet:
Der Vortragende schlug dazu zwei andere Lesarten vor: τòν μαϑητην und Zηνóδoτoν. Für die erstere spricht schon der bessere Sinn, für die zweite besonders die Uebersetzung des Barocius, welcher bekanntlich ausser dem Basier Drucke noch mehrere bessere Manuscripte zu Grunde liegen; dann auch die schon von Herrn Nokk angeführte Stelle der Bibliotheca Graeca des Fabricius (tom. IV. pag. 84). Die Veränderung von Zenodotus in Zenodorus macht aber keine Schwierigkeit, indem ganz ebenso Diodorus und Diodotus synonim gebraucht werden. Damit würde also Zenodorus in bestimmten Fragen der Schule des Oenopides angehören; sein unmittelbarer Lehrer wäre aber Andron, auf dessen Zeit Alles ankäme. Der einzige Mathematiker dieses Namens wurde aber in der von J. Capitolinus verfassten Biographie des Kaisers M. Antoninus Philosophus aufgefunden, wo Andron als Lehrer des Kaisers in den mathematischen Disciplinen genannt wird. Nach Zedler (Universallexicon Bd. II. S. 208) soll Andron aus Catanea auf Sicilien gebürtig sein. Er muss am Anfange des 2. Jahrhunderts n. C. gelebt haben und somit wäre Zenodorus ein etwas älterer Zeitgenosse des Ptolemaeus, was für die Beiziehung im Commentare des Almagest gleichfalls stimmen würde. Dass von jenem Andron Nichts weiter bekannt ist, als dass er Lehrer des Kaisers Antoninus war, kann fast als negative Unterstützung angesehen werden, indem er späteren Mathematikern unbekannt, der frühen Nachkommenschaft (Proclus schrieb etwa 100 Jahre nach Capitolinus) als Lehrer jenes Kaisers noch erinnerlich genug war. Was endlich den Einwurf betrifft, ob der bei Proclus angeführte Gegenstand des Zenodorus würdig gewesen, und ob nicht daraus hervorgebe, dass der genannte Mathematiker von dem Verfasser der isoperimetrischen Untersuchungen verschieden sei, so ist einmal zu bedenken, dass Proclus, bei welchem die Stelle sich findet, selbst weit weniger Mathematiker als Philosoph war, und desshalb einen andern Maassstab des Werthes anlegen mochte, dann aber auch, dass in der That die philosophische Begründung der Mathematik ihre Rechte hat und von den tüchtigsten Mathematikern bis in die neueste Zeit (Legendre: Theorie der Parallelen, Gauss: Theorie des Imaginären u. s.w.) gepflegt wurde.


Band 3 — Seite 5-6

3. Vortrag des Herrn Dr. Cantor „über Zahlzeichen und Rechenmethoden der Araber“, am 19. Dezember 1862.

(Das Manuscript wurde am 15. März 1863 eingereicht.)
In einer kurzen Einleitung zeigte der Vortragende, worauf es ihm wesentlich ankomme. Es handle sich wiederholt um die Geometrie des Boethius und den in derselben enthaltenen Abacus mit eigentümlichen Zahlzeichen. Man habe von gegnerischer Seite diesen Abacus eine Interpolation Gerberts genannt, der selbst aus arabischen Quellen geschöpft habe. Der Vortragende hat nun den heute nicht zur Sprache bringenden Beweis geliefert, 1) dass jener Abacus mit seinen Zeichen wirklich dem Boethius angehöre; 2) dass er keinenfalls von Gerbert herrühre. Kann nun noch ferner gezeigt werden 3) dass der betreffende Abacus sicherlich nicht arabischen Ursprunges sein könne, so ist der Gegenbeweis wider die angedeutete Meinung in einer Vollständigkeit geliefert, wie er nur immer verlangt werden kann.

Dieser letzte Theil des Beweises bildete den Gegenstand des heutigen Vertrages. Es wurde gezeigt, wie die mathematische Bildung der Araber weit späteren Datums ist, als man anzunehmen geneigt ist, wie die Quelle dieser Kenntnisse eine doppelte war, theils aus Indien, theils aus Griechenland entstammend. Es wurde daraus gefolgert, dass es nicht unmöglich sei, dass ursprünglich Griechisches, oder doch wenigstens den Griechen Bekanntes bei den Arabern sich ähnlich weiter entwickelt habe, wie bei den Römern und den mittelalterlichen Schriftstellern, ohne dass diese letzteren es gerade den Arabern entlehnen mussten. So rechtfertigte sich das Auftreten der sogenannten Apices bei Boethius und der fast ganz übereinstimmenden Gobarziffern. Dass eine Entlehnung hier nicht stattfinden konnte, wurde durch die Rechenmethoden ausser Zweifel gesetzt, welche an und mit jenen Ziffern bei beiden Schriftstellerkreisen geübt wurden. Der Vortragende setzte zu diesem Zwecke die von ihm sogenannte complementäre Division des Boethius aus einander und zeigte, dass dieselbe sich weit in's Mittelalter hinein fortlebte, bei den Arabern dagegen nicht bekannt war. Diese bedienten sich vielmehr der wissenschaftlich weit niedriger stehenden Divisionsmethode, die heute noch dem täglichen Gebrauche dient. Zur Begründung seiner Darstellung des arabischen Rechnens benutzte der Vortragende 1) eine Uebersetzung der Arithmetik des Mohammed ben Musa wahrscheinlich von Atelhart von Bath herrührend; 2) eine Bearbeitung derselben Schrift von Johann von Sevilla; 3) die Essenz der Rechenkunst von Beha-Eddin. Ausserdem berief er sich noch auf die Algorithmiker des 13. Jahrhunderts, namentlich auf den geistreichen und gelehrten Johann von Sacrobosco, dessen durch Haliwell herausgegebene ars numerandi er in einem noch nicht genauer bestimmten Manuscript der Grossh. Darmstädter Hofbibliothek wieder entdeckt zu haben glaubt. Weitere Untersuchung dieser letzteren Angabe wurde vorbehalten. Ausführlichere Mittheilung der ganzen Untersuchung, auch der in diesem Vortrage nur citirten Beweise finden sich in den demnächst der Presse vorlassenden Buche des Vortragenden: „Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker.“


Band 3 — Seite 61-62

12. Vortrag des Herrn Dr. Cantor „über die Kenntnisse der Griechen in der Zahlantheorie“, am 24. April 1863.

(Das Manuscript wurde am selben Tage eingeliefert.)
Nachdem der Vortragende den Unterschied angedeutet hatte, welcher zwischen der Arithmetik der Griechen und der der neueren Mathematiker existirt, indem jene unserer modernen Zahlentheorie entspricht, schilderte er in Kürze die Schriftsteller, welche uns arithmetische Werke hinterlassen haben. Euklides, Archimedas, Apollonius, Nikomachus, Theon von Smyrna, Jamblichus, Diophantus wurden hauptsächlich erwähnt; neben diesen auch Pythagoras, Thymaridas, Plato. — Der Ursprung der Arithmetik wurzelt in durch die Notwendigkeit des Geschäftsverkehrs hervorgerufener Gewandtheit mit Zahlen umzugehen. Der Entstehungsort ist Babylon. Dorthin verweisen die Analogien, besonders die sogenannte harmonische Analogie oder Proportion, dahin auch die zahlensymbolisch gleiche Benutzung der Zahlen 36 und 40 bei Chinesen und Griechen, dahin der zahlentheoretische Ursprung des pythagoräischen Lehrsatzes, welchen der Vortragende schon früher einmal zu schildern Gelegenheit nahm. Aus den Proportionen entstanden nämlich die Progressionen, wovon Euklides und Archimedes ausführlich handeln, während Plato's Timäus als Quelle für die Betrachtungen über stetige geometrische Proportionen dient. Die arithmetische Reihe und deren Summirung führte zu Dreieckszahlen, zu Quadratzahlen und heteromeken Zahlen, die Summirung der Quadratzahlen zum pythagoräischen Lehrsatz. Von diesem selbst aus gelangte man zur Kenntniss der Jurationalzahlen, und namentlich zwei Dreiecke, bei welchen je 2 Seiten rational sind, die dritte irrational ist, spielen bei Plato, bei Aristoteles und bei Euklides eine wichtige Rolle.

Ausser den Quadratzahlen und den heteromeken Zahlen beschäftigte die griechische Arithmetik sich noch mit Flächenzahlen im Allgemeinen, sowie mit Körperzahlen. Flächenzahlen (resp. Körperzahlen) im engeren Sinne nannte man die Producte von 2 (resp. 3) einfachen Faktoren. Die Untersuchung wandte sich nun auf solche einfache Faktoren oder Primzahlen, welche Eratosthenes bereits durch die Methode des Aussiebens zu entdecken lehrte. Zur Zerlegung in Faktoren selbst diente die Einmaleinstabelle, welche dadurch ein integrirender Bestandteil arithmetischer Schriften wurde. Die Summirung der Faktoren vermittelte die Untersuchungen über vollkommene Zahlen und über befreundete Zahlen. Dieses der Inhalt der eigentlich zahlentheoretischen Kenntnisse der Griechen. Thymaridas und Diophantus schlugen eine mehr algebraische Richtung ein.


Quelle:
Verhandlungen des naturhistorisch-medicinischen Vereins zu Heidelberg


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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