Zum 100. Geburtstage von MORITZ CANTOR
(geb. 23. August 1829).

Von GUSTAV JUNGE in Berlin-Lichterfelde.

Wenn man eine Zählung veranstaltete, welche Bücher am häufigsten im Besitz der Mathematiker sind, oder auch welche sich am zahlreichsten in den Lehrerbibliotheken finden: wahrscheinlich würden CANTORS „Vorlesungen über Geschichte der Mathematik“ zu beiden gehören. In der Tat ist die Geschichte der Mathematik durch CANTOR beinahe zu einer populären Wissenschaft geworden, und jedenfalls hat sie durch das Wirken dieses Mannes nicht nur an innerem Reichtum, sondern auch an äußerer Geltung und Verbreitung sehr gewonnen. Wir wollen versuchen, dies näher darzustellen.

CANTOR ist in dem „freundlichen Mannheim“ geboren, in der Stadt, die damals, als GOETHE noch lebte, mehr als heute „gleich und weiter gebaut“ war. Freundlich und heiter ist die Art unseres Gelehrten bis zuletzt gewesen, gleichmäßig und ruhig sollte sein Leben im wesentlichen verlaufen. Seine Laufbahn war die typische des Gelehrten. MOBITZ CANTOR besuchte das Mannheimer Gymnasium, bestand 1848 die Abiturientenprüfung und ging als Student anfangs nach Heidelberg, zwei Jahre darauf nach Göttingen. Hier hörte er auch bei GAUSS, dem er später, wie so vielen anderen Mathematikern, in der „Deutschen Biographie“ ein Denkmal gesetzt hat. Schon 1851 promovierte CANTOR in Heidelberg mit einer Arbeit, die allerdings noch nicht historisch war; sie behandelte „ein weniger gebräuchliches Koordinaten-System“. In den nächsten Jahren hörte er noch in Berlin Vorlesungen, und von STEINERS Sicherheit im Vorstellen geometrischer Figuren sowie von DIRICHLET und seinem Diskontinuitätsfaktor hat er später ebenfalls erzählt.

1855 habilitierte CANTOR, sich in Heidelberg, doch erst 1860 las er zum ersten Male über Geschichte der Mathematik. Angeregt zu historischen Studien hat ihn nach seiner eigenen Aussage namentlich sein Heidelberger Kollege RÖTH, von dessen „Geschichte unserer abendländischen Philosophie“ der erste Band 1846 erschienen war. Einflußreich war auch die persönliche Bekanntschaft mit CHASLES, die er in den 50er Jahren machte. 1856 wurde die „Zeitschrift für Mathematik und Physik“ begründet, in deren Redaktion CANTOR bald eintrat. In dieser Zeitschrift hat er zahlreiche historische Studien niedergelegt. Wir wollen von seinen Arbeiten aus dieser Zeit nur zwei größere erwähnen, die in Buchform erschienen sind: ,.Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker“, Halle 1863 und „Die römischen Agrimensoren und ihre Stellung in der Geschichte der Feldmeßkunst“, Leipzig 1875.

So war CANTOR durch jahrzehntelange Studien wohl vorbereitet, sich an eine umfassende Geschichte der Mathematik zu wagen. 1880 erschien der erste Band der heute so bekannten „Vorlesungen“, 1892 der zweite; der dritte Band war 1898 vollendet. Gegenwärtig liegt der erste Band in dritter Auflage von 1907 vor, der zweite in zweiter Auflage von 1900. der dritte ebenfalls in zweiter Auflage von 1901. Von allen drei Bänden hat die Teubnersche Buchhandlung in den Jahren 1922 und 23 unveränderte Nachdrucke veranstaltet. Der dritte Band führt bis zum Auftreten LAGBANGES 1748. Ein vierter Band, der mit dem Jahre von GAUSS' Dissertation, 1799, abschloß, erschien 1904 — freilich das Werk mehrerer Mitarbeiter und von CANTOR nur herausgegeben; ein Nachdruck folgte 1924.

In den letzten Jahrzehnten seines Lebens hatte CANTOR die Freude zahlreicher Ehrungen. Zu seinem 70. Geburtstage wurde ihm eine große Festschrift überreicht, zu der fast alle, die irgend an der Geschichte der Mathematik mitarbeiteten, einen Beitrag geliefert hatten. Auch zum 80. Geburtstag erschien eine Festschrift im Rahmen des neubegründeten „Archivs für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik“. Sogar den 90. Geburtstag durfte CANTOR noch erleben, doch nicht lange danach wurde er abberufen, am 9. April 1920.

Die „Vorlesungen“ sind es vor allem, die CANTORS Namen bekannt gemacht haben. Sie haben die Geschichte der Mathematik leicht zugänglich gemacht, sie wurden wirklich viel gelesen, ja sie sind noch heute ein unentbehrliches Hilfsmittel.

Wir dürfen aber die herbe Kritik nicht vergessen, der das Werk seit 1900 ausgesetzt war, nämlich in der Bibliotheca mathematica, deren dritte Folge in diesem Jahre begann Der Herausgeber ENESTRÖM richtete darin die besondere Abteilung der „kleinen Bemerkungen1' ein mit dem ausschließlichen Zweck, Fehler in CANTORS „Vorlesungen“ zu berichtigen. Diese Bemerkungen brauchten ja an sich den Ruhm CANTORS nicht zu schmälern, denn bei einem so umfassenden Werke konnten Fehler im einzelnen nicht ausbleiben. So wurden denn auch in den ersten Jahren von den verschiedensten Seiten Beiträge zu den Bemerkungen geliefert. Allmählich wurde aber der Ton von seiten ENESTRÖMS immer härter und unfreundlicher, und in demselben Maße verkleinerte sich übrigens die Zahl der Mitarbeiter, so daß schließlich der Herausgeber ziemlich allein seine kritischen Zusätze schrieb. Auch in besonderen Abhandlungen führte ENESTRÖM aus, was schließlich die Grundstimmung seiner Bemerkungen geworden war: CANTOR habe nicht die nötigen mathematischen Kenntnisse für ein so großes Unternehmen besessen, und auch seine ganze Arbeitsweise könne billige Ansprüche nicht befriedigen.

Wir wollen auf den unerquicklichen Streit nicht weiter eingehen, sondern nur daran erinnern, daß CANTOR, als er seinen dritten Band und die Neuauflagen der beiden ersten Bände fertig stellte, doch allmählich alt wurde und schon wegen des abnehmenden Augenlichts nicht so arbeiten konnte wie ein jüngerer. Vor allem aber wollen wir fragen: wie konnten CANTORS Vorlesungen so stark wirken, selbst wenn Schwächen der angegebenen Art vorlagen?

Als CANTOR 1880 seinen ersten Band herausgab, hatte er seit 25 Jahren auf dem Gebiete gearbeitet. Er war nicht der einzige auf dem Felde, namentlich hatte der damals blühende Humanismus zahlreiche Arbeiten zur griechischen Mathematik hervorgebracht. CANTOR war auch nicht der einzige, der sich an einer allgemeinen Geschichte der Mathematik versuchte: 1873-75 war in Zürich die „Geschichte der mathematischen Wissenschaften“ von SUTER erschienen. Es ist immerhin ein günstiges Zeichen für CANTOR, daß durch sein Buch das von SUTER durchaus in den Schatten gestellt wurde, wenn wir auch gern zugeben, daß der viel jüngere SUTER — er war 1848 geboren — nicht viel Zeit gehabt hatte, die ungeheure Materie zu durchdringen und durch Veröffentlichungen schon bekannt zu werden.

Im übrigen aber gab es seit MONTUCLAS Werk, dessen zweite Auflage 1802 abgeschlossen war, bis zu CANTORS Vorlesungen keine mit diesen Werken vergleichbare Geschichte der Mathematik. Das war der erste Glücksfall CANTORS. Der andere war der, daß gerade um die Zeit, als die Vorlesungen herauskamen, drei hervorragende Forscher auftraten, die alle dazu beitrugen, das Interesse für die Geschichte unserer Wissenschaft rege zu halten, ohne doch CANTORS Ansehen zu vermindern. Waren sie doch alle auf Spezialgebieten tätig, auch alle erheblich jünger als CANTOR und schon aus diesen beiden Gründen geneigt, CANTOR in seinem Ansehen zu belassen. ZEUTHEN (1839 geboren) gab 1885 seine „Lehre von den Kegelschnitten im Altertum“ heraus, zunächst in dänischer Sprache. Bald folgte eine deutsche Uebersetzung dieses Buches und auch andere feinsinnige Werke über die Entwicklung der Mathematik in den beiden Blütezeiten der Vergangenheit, nämlich im griechischen Altertum und in der Renaissance. Von TANNERY (geb. 1843), dem großen Kenner der exakten Wissenschaften im Altertum, erwähnen wir nur zwei Bücher: „Géometrie Grecque“ und „Science Hellène“, beide von 1887. HEIBEBG (geb. 1854) gab seit 1880 sämtliche großen griechischen Mathematiker heraus, meist in griechischer und lateinischer Sprache: ARCHIMEDES, EUKLID, APPOLLONIUS, auch PTOLEMAEUS und noch mehrere andere. Doch keiner dieser Forscher erstrebte die Universalität CANTORS. ZEUTHENS Ziel war es, die mathematische Idee zur Zeit ihres reichsten Lebens zu erfassen; darüber mußten die überwiegenden Perioden geringerer Fruchtbarkeit, auch die Verknüpfung der Mathematik mit den Zeitverhältnissen und den Lebensumständen der Mathematiker zurücktreten. HEIBEBG war durchaus Philologe und auch bei TANNERY steht die Mathematik selten im Mittelpunkt; außerdem hat seine Vorliebe für philologische Untersuchungen wie Alters- und Echtheitsfragen leicht die Folge, daß die großen einfachen Tatsachen zurücktreten und die Darstellung reich an gewagten Hypothesen wird.

Jedenfalls brachte die Zeit von 1880 bis zum großen Kriege ein wahres Aufblühen der mathematischen Historie und niemand kann leugnen, daß CANTOR viel dazu beigetragen hat. Auch nach dem Kriege erwachte das Interesse bald wieder, wie schon die große Anzahl zusammenfassender Darstellungen beweist, viele deutschen, andere amerikanischen Ursprunges. Die deutschen Bearbeitungen sind schon wegen der Not der Zeit nur kurze Abrisse and reichen nicht entfernt an den Umfang und die Vollständigkeit der CANTORschen Vorlesungen; aber auch bei den amerikanischen ist dies nicht der Fall. — Für das rege Interesse zeugen auch die Zeitschriften. Sind doch anstatt ENESTRÖMS Bibliotheca mathematica. die 1914 einging, schon zwei neue Zeitschriften für Geschichte der Mathematik erschienen, eine dritte in Vorbereitung.

So herrscht in der Gegenwart der regste Eifer für das Gebiet, dem einst CANTOR ein arbeitsreiches Leben geweiht hat und immer noch fehlt es an einem Werke, das seines ersetzen könnte. So wird es wohl noch eine Weile dabei bleiben, daß der „alte CANTOR“ zwar oft getadelt, doch noch öfter zu Rate gezogen wird; immer neue Leser werden sich an der behaglichen und schlichten Darstellung erfreuen, die ein Ausdruck der Wesensart unseres CANTOR selbst war.



aus:
Junge, Gustav: Zum 100. Geburtstag von Moritz Cantor
In: Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften. - 35 (1929), S. 239-241
Signatur UB Heidelberg: N 4696-7::35


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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