Zum siebenzigsten Geburtstage Moritz Cantors.

Von Maximilian Curtze in Thorn.

Am 23. August 1899 waren siebenzig Jahre verflossen, seit MORITZ CANTOR das Licht der Welt erblickte. Was er für den Teil der Wissenschaft bedeutet, welchem die Bibliotheca Mathematica gewidmet ist, kennt die Welt, aber dieser Zeitschrift gebührt es durch Darbringung ihrer nachträglichen Glückwünsche und ihrer Huldigung für ihn zu jenem Ehrentage seine Bedeutung für die mathematisch-historische Forschung besonders hervorzuheben. Lassen wir, soweit es uns möglich ist, kurz das Leben und Wirken CANTORS an unserem Blicke vorüberziehen.

Die Wiege CANTORS stand in Mannheim, doch siedelten seine Eltern bald nach Frankfurt a/M. über. Bei dem beabsichtigten Eintritt des Knaben in das dortige Gymnasium stellte sich schon nach wenigen Tagen heraus, daß er den Schulbesuch nicht zu ertragen vermochte, und so erhielt er seine Ausbildung zunächst durch Hauslehrer. In späteren Jahren trat er dann in die oberen Klassen des Gymnasiums zu Mannheim ein. Hier gehörte er stets zu den besten Schülern und bezog 1848 nach bestandenem Examen die Universität Heidelberg, welche er später mit Göttingen vertauschte. Hier wurde er bei der damaligen Verbindung und jetzigen Burschenschaft Arminia aktiv. An seinen Aufenthalt in Göttingen und seine Studien unter GAUSS und WEBER denkt er, wie er dem Verfasser dieser Zeilen oftmals versichert hat, noch mit dem lebhaftesten Interesse zurück. GAUSS in der Allgemeinen Deutschen Biographie ein Gedächtnis stiften zu dürfen, gereichte ihm zu hoher Genugthuung.

Im Herbst 1851 holte er sich in Heidelberg die Würde eines Doktors der Philosophie. Seine Dissertation: Über ein wenig gebrauchtes Koordinatensystem läßt freilich nichts von dem ahnen, wodurch er später der Schöpfer einer neuen Hochschuldisziplin werden sollte. Ehe er aber Ostern 1855 sich ganz der akademischen Karriere widmete — ein Staatsexamen hat er überhaupt nie gemacht — begab er sich nochmals zum Studium nach Berlin, wo er besonders die Vorlesungen LEJEUNE-DIRICHLETS besuchte. Auch die nach seiner Habilitation in Heidelberg als Leitfaden bei seinen Vorlesungen ausgearbeiteten Grundzüge einer Elementararithmetik (1855) deuten nur entfernt jene Richtung seiner Studien an, welche seine späteren Veröffentlichungen zu klassischen gemacht haben.

Diese Richtung tritt zum ersten male deutlich in der Abhandlung zu tage, welche gleich im ersten Bande der Zeitschrift für Mathematik und Physik veröffentlicht ist: Über die Einführung unserer jetzigen Ziffern in Europa, ein Thema, das er stets von Neuem mit Liebe behandelt hat, und das wie ein Leitmotiv durch alle seine späteren Veröffentlichungen hindurch klingt. Nun folgten in kurzen Fristen die Abhandlung Über die Porismen EUKLIDS und ihre Divinatoren, die beiden Vorträge auf den Naturforscherversammlungen zu Bonn und Karlsruhe: PETRUS RAMUS, MICHAEL STIFEL, HIERONYMUS CARDANUS, drei mathematische Charakterbilder aus dem 16. Jahrhundert und Zur Geschichte der Zahlzeichen, sowie der an den ersten Vortrag anknüpfende Aufsatz: RAMUS in Heidelberg.

Im Jahre 1858 hatte er mit KEKULÉ, LEWINSTEIN und EISENLOHR zusammen die „Kritische Zeitschrift für Chemie, Physik und Mathematik“ begründet, die leider aus Kleinmut des Verlegers schon nach dem ersten Jahrgang eingestellt wurde. Dafür trat er 1859, nach dem Tode BENJAMIN WTTZSCHELS, in die Redaktion der Zeitschrift für Mathematik und Physik ein, deren Leitung in ihrem historisch-kritischen Teile er bis heute mit immer mehr gesteigertem Erfolge in Händen behalten hat.

Seine eingehenden geschichtlich-mathematischen Studien verwertete er dann in jenem grundlegenden Werke mit dem bescheidenen Titel: Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker (Halle 1863), dessen Resultate, wenn auch von ihm selbst mehrfach nach späterer, besserer Einsicht modifiziert, noch heute ihre Geltung behalten haben, so vielfach sie auch von Berufenen und Unberufenen angegriffen und für unrichtig erklärt sind. Sie waren auch die Ursache, daß ich 1864 mit CANTOR in nähere Berührung trat. Durch Zufall war mir eine mathematische Handschrift des 14. Jahrhunderts in die Hände geraten, und inbetreff dieser bat ich CANTOR, den Verfasser des von mir sozusagen fast verschlungenen Werkes, um Belehrung über mir aufgestoßene Schwierigkeiten des Textes. Mit seiner unübertrefflichen Liebenswürdigkeit beantwortete er umgehend meine Fragen, und seit jener Zeit hat sich das Verhältnis des Beraters zu dem jüngeren Fachgenossen zu dauerndem Freundschaftsbunde verdichtet, der mich in demselben Maße immer mehr beglückt, je näher und inniger derselbe geworden ist.

In die fünfziger Jahre gehört auch ein vorübergehender Aufenthalt CANTORS in Paris, wohin ihn verwandtschaftliche Bande gezogen hatten, der ihn in Berührung mit den großen französischen Mathematikern brachte, vor allen mit MICHEL CHASLES und JOSEPH BERTRAND. Er konnte mir gegenüber nicht genug die Liebenswürdigkeit CHASLES' rühmen, mit welcher dieser Senior der Geschichtschreibung der Mathematik ihn, den Novizen, aufnahm, der kaum eine oder die andere Abhandlung veröffentlicht hatte. Auf seinem Landgute wurde er mit BERTRAND bekannt gemacht. CHASLES ließ auch einen Brief CANTORS an ihn über das Zeitalter ZENODORS in den Comptes Rendus der Pariser Akademie veröffentlichen. CANTOR kam dabei zu statten, daß er das Französische wie seine Muttersprache beherrscht.

In Heidelberg hatte er während dessen angefangen Vorlesungen über Geschichte der Mathematik zu halten, und mancher seiner Hörer ist der von ihm ausgehenden Anregung treu geblieben, und hat in diesem Fache Hervorragendes geleistet. Statt aller Beispiele nenne ich mir den einen Namen: SIEGMUND GÜNTHER. Während durch diese Vorlesungen der Plan reifte, eine umfassende Geschichte der Mathematik zu schreiben, veröffentlichte er eine ganze Reihe von Vorarbeiten dazu. Erwähnen will ich nur: Über einen Kodex des Klosters Salem, (l867), EUKLID und sein Jahrhundert (1867), Die Römischen Agrimensoren und ihre Stellung in der Geschichte der Feldmeßkunst (1870), Graeco-Indische Studien (1877), und mache zugleich auf seine eingehenden Besprechungen einschlägiger Werke in seiner Zeitschrift aufmerksam, welche stets selbst zur Aufklärung und Richtigstellung der darin niedergelegten Thatsachen beigetragen haben.

Die Zeitschrift, in welcher vorn 20. Jahrgange an, vielleicht auf Grund einer von mir ausgehenden Anregung, der geschichtlich-Iitterarische Teil vollständig von dem rein wissenschaftlichen getrennt wurde, hat sieh immer mehr und mehr zum führenden Organ auf dem Gebiete der Geschichte der exakten Wissenschaften emporgeschwungen, so daß in neuerer Zeit sich das Bedürfnis nach umfangreichen Supplementheften geltend gemacht hat.

Im Jahre 1880 erschien endlich der erste Band der längst angekündigten und mit Spannung erwarteten Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, welcher diese von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1200 n. Chr. fortführt. Es gab nur eine Stimme über die vortrefflichen Eigenschaften dieser Leistung was den Inhalt, aber auch was die Form derselben betrifft. Die Fülle des Gebotenen, die künstlerische Darstellung und Abrundung, die vielfachen neuen Gesichtspunkte, welche in diesem Werke geboten werden, ließen auch für die Fortsetzung Großes erwarten. Länger freilich als die Ungeduld des Publikums es fast zu ertrugen vermochte, verzögerte sich die Ausgabe des zweiten Bandes, der erst 1892 die Presse verließ, noch während des Druckes durch den großen Setzerstreik in Leipzig weiter aufgehalten. Aber CANTOR wurde dabei die große Genugthuung, daß während der Ausarbeitung des zweiten Bandes sich die Notwendigkeit herausstellte, eine zweite Auflage des ersten vorzubereiten, welche denn auch unmittelbar nach Ausgabe des zweiten Bandes in Angriff genommen wurde. Sie erschien 1894 in allen Teilen durchgesehen und vermehrt, um 80 Seiten den Umfang der ersten Auflage übertreffend. Noch in demselben Jahre konnte der erste Abschnitt des dritten Bandes dem Drucke übergeben werden; ihm folgte 1896 der zweite, 1898 der dritte Abschnitt. CANTOR hat seine Geschichte bis zum Auftreten LAGRANGES 1758 fortgeführt. In der Vorrede des dritten Bandes überläßt er die Weiterführung seiner Vorlesungen jüngeren Kräften, sich selbst nur die Vervollkommnung und Neubearbeitung seiner drei Bände vorbehaltend. Schon ist der zweite Band, der 1892 erschien, in diesem Jahre in neuer Auflage ausgegeben worden, und es soll schon das Bedürfnis nach einer zweiten Auflage des dritten hervorgetreten sein.

Über den Wert der Arbeit hier auch nur ein Wort zu sagen, ist überflüssig. Jeder Leser dieser Zeilen kennt sie ja persönlich, hat sie selbst als Führer bei seinen Studien benutzt und hat gesehen, wie CANTOR die neuen Untersuchungen, die zu den durch ihn und vor ihm bekannten Thatsachen hinzugetreten sind, gewissenhaft geprüft seinem Werke einverleibt hat. Es ist der große Vorzug der Darstellung CANTORS, daß er sich in den jeweiligen wissenschaftlichen Geist der Zeit, welche er gerade behandelt, hineinzuversetzen vermocht hat, daß er nicht die Arbeiten früherer Epochen mit dem Maßstab des 19. Jahrhunderts mißt, und so nicht gegen die großen Männer der Vorzeit ungerecht wird, ihnen aber auch nicht Sachen und Gedanken unterlegt, welche wir vom Standpunkte unseres Wissens aus in ihren Werken finden können, die ihnen selbst aber sicher niemals gekommen sind.

Als es bekannt wurde, daß am 23. August 1899 die 70. Wiederkehr des Tages seiner Geburt herannahe, traten eine größere Zahl von Freunden und Verehrern CANTORS zusammen, um durch eine Sammlung von Arbeiten zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften, welche ihm an diesem Tage überreicht werden sollte, ihren Freundschafts- und Dankesgefühlen Ausdruck zu geben. So mancher bedauerte außerdem, durch Berufsgeschäfte, hohes Alter oder Krankheit abgehalten zu sein, sein Scherflein zu dieser Ehrengabe beitragen zu können. So wurde ihm denn an jenem Tage der Band überreicht, welcher unter dem Titel: Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik. Neuntes Heft die Arbeiten von 32 Männern aus allen Teilen der wissenschaftlichen Welt vereinigt, an dessen Zustandekommen aber auch der Verleger seiner Schriften, Herr B. G. TEUBNER in Leipzig, hervorragenden Anteil genommen hat. Der 41 Bogen umfassende Band enthält Abhandlungen sowohl zur allerältesten Geschichte unserer Wissenschaft wie zu ihren neuesten Phasen. Er ist mit dem wohlgelungenen Bildnis CANTORS in Lichtdruck geschmückt, auch ist ihm ein, soweit möglich, vollständiges Verzeichnis seiner Schriften angehängt.

Jener Festtag, den ich den Vorzug hatte, in seinem Hause verleben zu dürfen, die Liebe seiner Schüler, die Ehrungen der Universität, der Akademien und der verschiedenen wissenschaftlichen Vereine, denen er angehörte, der Stadt, der er als langjähriger Stadtverordneter und Vorsteher derselben seine Kräfte gewidmet hatte, der politischen Partei, deren eifrigstes Mitglied er stets gewesen ist, vor allem aber sein häusliches Glück mit anzusehen, wird mir stets eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens bleiben.

Möge ihm, dem nun Siebenzigjährlgen, noch lange vergönnt sein, zum Wohle der Seinen, zum Segen der Wissenschaft und zur Freude seiner Verehrer und Freunde weiter in der Rüstigkeit und Frische des Körpers und Geistes thätig zu sein, die man au jenem Tage und bei den Verhandlungen der letzten Naturforscherversammlung in München an ihm zu bewundern Gelegenheit hatte.

Thorn, 1. Dezember 1899.


Curtze, Maximilian (1837-1903):
Zum siebenzigsten Geburtstage Moritz Cantors
In: Bibliotheca mathematica. - 3. Folge, 1 (1900), S. 227-231
Signatur UB Heidelberg: L 15-7::3.F.:1.1900


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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