Gedenkrede
gehalten zur hundertsten Wiederkehr
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Hochverehrte Anwesende!
Säkular ist die Feier, zu der wir uns hier zusammengefunden, aber auch monumental das Lebenswerk des großen Mannes, dem sie gilt. Eine verehrungswürdige, überragende Gestalt gehört Moritz Cantor einer stolzen Vergangenheit an, lebt er aber auch fort als der große Forscher und Lehrer im Gedächtnis unserer Zeit und im Herzen seiner Schüler. Wie in sonniges Jugendland blicken wir zurück, wenn wir des edlen Mannes gedenken.
Weiß wie Firnschnee wäre heute sein Haupt, aber zeitlos und ewig jung spricht seine Seele zu uns aus seinen Werken, wie in den Stunden, da wir das Glück hatten ihm Zuhörer zu sein, da er uns lehrte des Forschens Arbeit zu lieben und wachzuhalten die Sehnsucht, die faustische Leidenschaft nach Wahrheit und Klarheit, welche ins innerste Universum dringt zum Reich der Ideen und an der Wissenschaft ewig sprudelnden Quell.
Die geistigen Güter einer Nation sind ein Hort, der ihr Stolz ist, von dem sie der Welt austauschend mitteilen kann ohne ihn zu erschöpfen. Aber es bedarf des Schatzbehalters dieser geistigen Werte, irgendwo und irgendwann sind sie zusammengetragen worden, von einem sichtenden Kenner, von einem glücklichen und erfolgreichen Sammler in unermüdlicher Lebensarbeit.
Ein solcher Hüter und Mehrer, ein Großer im Reiche der Wissenschaft war Moritz Cantor. Einmal nur in einem Jahrhundert kommt ein Standard-Werk zustande wie seine vielbändige Geschichte der Mathematik, welche die des Franzosen Montucla ablöste und Deutschland den seiner würdigen Platz sicherte in der Historie einer Wissenschaft, welche bei ihrem synthetischen Charakter niemals ihrer Traditionen entraten kann.
Ein weites Gebiet der Geistesgeschichte hat Moritz Cantor durchdacht in seinen kulturhistorischen und entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen; mit feinem nacherlebendem Verständnis und aus dem Reichtum seiner schöpferischen Kraft hat er die Gedankengänge der großen Mathematiker von der Antike bis in die Epoche von Gauß überschaut.
An seinem hundertsten Geburtstag ziemt es die klassischen Werte, welche Cantor geschaffen und geprägt in Erinnerung zu rufen und seine Persönlichkeit wiedererstehen zu lassen an der Stätte seines Wirkens, welches gleichermaßen der großen Welt, wie seiner Heimat Baden und unserer Ruperto-Carola angehörte. — Ein Zeugnis für die internationale Wertschätzung über den Tod hinaus ist die Ehrung, welche dem Meister im Mai dieses Jahres anläßlich des Kongresses für Geschichte der Wissenschaften in Paris in Verbindung mit der Erinnerungsfeier für Frankreichs größten Historiker der Mathematik Paul Tannery zuteil wurde, eine Fortsetzung gleichsam der Huldigungen, welche dem Lebenden zum 70. und 80. Geburtstag in Gestalt von Festschriften mit Beiträgen von Forschern der ganzen Welt dargebracht worden waren. — In den schwersten Zeiten Deutschlands konnte Cantor noch seinen 90. Geburtstag begehen. Der 9. April 1920 wurde sein Todestag.
Sechzig Jahre hat Cantor an unserer Hochschule gelehrt, erleuchtet von heiliger Begeisterung und in selbstloser, inniger Hingabe an seine Wissenschaft; sie befähigte ihn zu der wundervollen harmonischen Gestaltung seiner Stoffe aus der Tätigkeit des wahren Historikers heraus ein Vergangenes nachzuerleben und zur wirksamen Gegenwart zu erheben. Dazu kam die Gabe sich weiteren Kreisen verständlich zu machen, ohne je der ernsten Wissenschaft etwas zu vergeben. So wurde sein Werk wahrer Kulturbesitz, eingefügt in die großen Zusammenhänge auch fremder Nationen und doch bodenständig, erwachsen auf dem sicheren Ankergrund seiner badischen Heimat. Hier war er zuhause, und geboren ist er im nahen Mannheim, wo er auch das Gymnasium besuchte, das er als einer der besten Schüler im Jahre 1848 mit der Universität Heidelberg vertauschte. Gern erzählte er aus seinen Kindheitsjahren von denen er auch einige in Frankfurt verbrachte. Er war ein schwächliches Kind, das erst durch Hauslehrer unterrichtet wurde und niemand hätte gedacht, daß er das hohe Alter von neunzig Jahren einst erreichen würde. Aber eine weise Lebensführung gab ihm Gesundheit und Kraft die Ziele seiner Jugend sehr bald zu erreichen. Neben seiner Aktivität bei der Burschenschaft Arminia in Göttingen arbeitete er sehr fleißig und hatte das Glück im Wintersemester 1850/51 noch den großen Gauß zu hören im Kolleg „Ueber die Methode der kleinsten Quadrate“. Schöne Erinnerungen aus dieser Zeit sprechen aus einem Briefe Dedekinds an Cantor und er selbst hat sie 50 Jahre später in seinen „Beiträgen zur Lebensgeschichte von Carl Friedrich Gauß“ niedergelegt. Gauß selbst hat er auch in der allgemeinen deutschen Biographie ein literarisches Denkmal gesetzt. Viermal hat er zum Andenken an den princeps mathematicorum die Feder ergriffen.
Von Göttingen nach Heidelberg zurückgekehrt erwarb er schon mit 22 Jahren den Doktorgrad im Herbst 1851 mit der Dissertation: „Ueber ein weniger gebräuchliches Koordinatensystem“, worin er zur Geometria intrinseca Stellung nahm. Seine Studien setzte er im Sommersemester 1852 bei Dirichlet und Steiner in Berlin fort und habilitierte sich 1853 in Heidelberg. Seine Wendung zur Geschichte begann mit einer Arbeit im 1. Jahrgang der Zeltschrift für Mathematik und Physik des Themas: „Ueber die Einführung unserer gegenwärtigen Ziffern in Europa“. Vorträge auf der 33. Naturforscherversammlung in Bonn und auf der 34. in Karlsruhe folgten wiederum mit historischen Themen. Mit dem 4. Jahrgang 1859 trat Cantor selbst in die Redaktion der Zeitschrift für Mathematik und Physik ein, die er mit Kahl und Schloemilch zusammen von 1861-1893, mit Schloemilch allein von 1893-1896 und mit Mehmke 1896-1900 bis zum 44. Jahrgang leitete. Cantor war der Redakteur des historisch-kritischen Teils und in jedem dieser Bände finden wir Beiträge aus seiner fleißigen Feder teils in Form von Abhandlungen teils von ungezählten Rezensionen, die eine wertvolle mathematische Literaturgeschichte dieses Zeitraumes bilden. Daneben arbeitete er auch für Grunerts Archiv, für die Nouvelles Annales de Mathématique und für die Verhandlungen des Naturwissenschaftlich-medizinischen Vereins in Heidelberg. In den fünfziger Jahren besuchte er Paris, wo er mit Chasles, dem damaligen Senior mathematischer Geschichtsschreibung und mit Bertrand, dem Sekretär der Pariser Akademie verkehrte. Chasles scheint Cantor starke Anregungen für seine historischen Neigungen zu verdanken, aber auch dem deutschen Historiker der Philosophie Eduard Röth ist er verpflichtet. In der Rezension von dessen zweiten Band einer Geschichte der abendländischen Philosophie spricht Cantor dies mit den Worten aus: „Mit einem gewissen Stolze führe ich an, daß es seine Aufmunterung ganz besonders war, welche mich in die historisch-mathematischen Forschungskreise hinüber wies.“ !
Im Sommersemester 1860 liest Cantor erstmals über Geschichte der Mathematik und begründete damit die von ihm in der ersten Form geschaffene Disziplin an unserer Hochschule. Sein im Jahre 1863 erschienenes Werk: „Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker“ brachte ihn in Berührung zu Maximilian Curtze, dem Neuentdecker von Nicole Oresme, dem bedeutendsten Autor des 14. Jahrhunderts. Die von Curtze in der Thorner Gymnasialbibliothek gefundene Handschrift bildete den Ausgangspunkt einer bis zum Tode Curtzes im Jahre 1903 lebhaft durch 40 Jahre zwischen beiden Männern geführten Korrespondenz, welche wissenschaftlich recht wertvoll bald von uns herausgegeben werden soll. Um die Wette bauten Cantor und Curtze von nun an am stolzen Turm der mathematischen Historie, welche nach Montuclas Werk nun kritisch fundiert wird. Terquem hatte kurz vorher sein Bulletin gegründet. Die Zahl von Cantors Arbeiten wird immer dichter in glücklicher Berührung mit seinen Vorlesungen. Vorarbeiten zu seiner umfassenden Darstellung der Geschichte der Mathematik charakterisieren sein Arbeitsgebiet zu Ende der 60er und anfangs der 70er Jahre, und auch die zahlreichen Vorträge dieser Zeit lassen sich als Skizzen zu seinem Monumentalwerk auffassen. Sie lassen das organische Wachsen ahnen und zeigen das zielbewußte Schaffen eines großen, in seine Aufgabe sich einfühlenden Geistes. Das Jahr 1875 füllte mit dem Buche über die römischen Agrimensoren eine Lücke aus in dem großen Plane; der sichere Faden durch die spätrömische und mittelalterliche Mathematik war nach dem Urteile seines ältesten Schülers Sigmund Günther darin gefunden. Mit dem Jahre 1875 begann für Cantor auch die Mitarbeit an von Liliencrons „Allgemeiner deutscher Biographie“. Hunderte von ausgezeichneten Mathematikerbiographien hat er mit feinem Kolorit dafür geschaffen.
Die von ihm zur Selbständigkeit gebrachten Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik, welche später besonders Arbeiten seiner Schüler Raum boten, zeigen das Erstarken der Forschertätigkeit auf seinem eigensten Gebiete und bewiesen, daß der dreisemestrige 1875 begonnene Lehrvortrag an der Universität den Zaubertrank aus dem Bronn der Geschichte willkommen bot. Siebenmal hatte Cantor diesen Kursus abgehalten, als ihm Treutlein so rührend dankte: „daß er einzig an einer deutschen Hochschule die reichen Schätze historischen Werdens den Studierenden darreiche“.
Inzwischen war im Jahre 1880 der erste Band der Vorlesungen über Geschichte der Mathematik erschienen. Mit der Freude des bewundernden Freundes rühmte Maximilian Curtze die künstlerische Darstellung und Abrundung des Bandes, der die antiken Kulturvölker, Klostergelehrsamkeit und Mittelalter, die Mathematik der Inder, Chinesen und Araber brachte. Nur ein Meister wie Cantor konnte mit seiner von Paul Stäckel so gerühmten souveränen Beherrschung der Quellen, seinem rastlosen Fleiße, seiner ruhigen Geduld, seiner plastischen Darstellungskraft die weiteren Bände ebenso glanzvoll gestalten. Von seiner Kunst der Berichterstattung zeugen die klassischen Kapitel der Künstler-Mathematiker der Renaissance, die Schilderung der Erfindung der Dezimalbrüche und der Logarithmen, der Anfänge der Indivisibilienmethoden, der Schöpfung der Analysis durch Leibniz und Newton, der Zeiten der Bernoullis und der Epoche Eulers. 1892 kam der zweite, 1898 der dritte Band heraus. Rasch folgten neue Auflagen des Standardwerkes, das Cantor persönlich bis zum Jahre 1758 fortführte, für die Fortsetzung bis zum Jahre 1799 gelang es ihm eine Kommission von neun Historikern zu gewinnen, sodaß ihm die Genugtuung der Vollendung bis zum Erscheinen von Gauß' Doktorarbeit im Jahre 1799 wurde. Mit dem von Cantor selbst redigierten Schlusse wollte er seinem Ideal einer Geschichte der Ideen nahekommen in Richtung auf die Einheit der sich ihrer stets wieder bewußten Weltvernunft. Damit war sein Lebenswerk gekrönt, das in der ganzen Welt gekannt und gebraucht ist.
Wohl hatte es eine scharfe Kritik zu bestehen, besonders durch eine mehr bibliographisch orientierte Richtung, die sich um Gustaf Eneström gruppierte. Aber es erstanden ihm sachkundige Apologeten, ich brauche nur H. Bosmans in Belgien zu nennen, oder Gino Loria in Italien, dessen gewaltiger Arbeitskraft die Wissenschaft Fagnanos und Torricellis gesammelte Werke dankt, der erst kürzlich den Ausspruch tat: „Cantors Werk ist eine Zielscheibe von so gewaltigen Dimensionen, daß es nicht des Auges und der Hand eines Wilhelm Teil bedurfte, um sie zu treffen“. Cantor selbst beruhigte sich einem oft kleinlichem Kritiker gegenüber in seinem milden Idealismus mit einem von ihm manchmal zitierten Wort: „Wer an den Weg baut hat viele Meister“. Er war sich bewußt, daß sein Leben Mühe und Arbeit gewesen und die internationale Hochschätzung, die ihm von Männern wie Paul Tannery, dem Herausgeber von Fermat und Diophant, von dem großen Galileiforscher A. Favaro, von Zeuthen, Heiberg, Pierre Duhem, von den Herausgebern der großen Huyghensausgabe in Holland, die alle seine Korrespondenten waren, zuteil wunde, zeigte ihm, daß sein Schaffen anerkannt war auf dem ganzen Erdkreis. Kuno Fischer sagte einst von seinem Kollegen: „Der Cantor ist ein großer Kenner der Geschichte der Mathematik“. Und Paul Tannery konnte schon in der grande Encyclopédie über Cantor urteilen: „II n'en est pas moins le véritable chef d'école, dont l'imitation se perptétuera à l'avenir“ nachdem er ihn als „Esprit ingénieux et hardi, qui s'est pondéré avec l'age d'une exactitude et d'une conscience parfaites, doué de tous les talents de l'écrivain“ gerühmt hat.
Die Feier der Erneuerung unserer Ruperto Carola im Jahre 1903 gab Cantor Gelegenheit für den Festband: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, in trefflichen Strichen das Leben und Wirken von Ferdinand Schweins und Otto Hesse zu schildern, neben denen er zu Beginn seiner Lehrtätigkeit noch gewirkt hatte. Auch schrieb er für die deutsche Literaturzeitung, für welche er im Jahre 1880 schon gearbeitet hatte und für das Archiv der Mathematik in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wertvolle Referate. Dem Fortschritt der Wissenschaft trugen für die dritte Auflage des 1. Bandes die Arbeiten Rechnung: Ueber die älteste indische Mathematik, Archiv 8. Band, worin sieh Cantor mit Bürks Arbeit über die in ihrer Entstehung viel weiter ins 5. und 6. vorchristliche Jahrhundert hinaufrückenden Culvasûtras und der Frage, ob der Pythagoraeische Satz aus Indien stamme, auseinandersetzte, sowie die weitere: Ueber die babylonischen Quadrat- und Kubikwurzeln im Hinblick auf die Funde der Pennsylvania Universität.
Cantor s letztes Werk war eine schöne Biographie von Feuerbach, dem Entdecker des Neunpunktekreises, wie er auch seinen vor ihm dahingegangenen Freunden Curtze und Schloemilch und dem großen Leibnizforscher Carl Immanuel Gerhardt ihrer würdige Nekrologe nachgesandt.
Drei Ruhmestitel müssen wir noch gesondert hervorheben, seine Teilnahme an der Galileiforschung, die ihn mit Wohlwill in Verbindung und Briefwechsel brachte, sein Vorwort für Menzzers Uebersetzung der Revolutiones des Koppernikus und seine Mitarbeit an der Entzifferung des Papyrus Rhind durch den Heidelberger Aegyptologen August Eiseulohr, dieser ältesten Urkunde der antiken Mathematik. Cantor wußte auch die Grabungen auf assyrischem Boden für sein Werk nutzbar zu machen, wie die Arbeit des Spatens in Hilprechts Hand ihn mächtig interessierte und mit Bezold befreundete.
Denn auch dem vergleichenden Sprachforscher und dem Philologen hat Cantor vieles zu geben, wie sein philologisches Feingefühl seinem Streben nach Universalität sich zuordnet, wenn wir das Wesen und die Kunst des Sprachforschers nach einem Ausspruch Boeckhs darin erblicken, das von anderen Erkannte wieder zu erkennen, sich in fremde Gedanken und Erinnerungen hineinzuleben und sie in voller Klarheit wiederzugeben. Deshalb wohl auch seine Freundschaft mit Hultsch und Heiberg und später mit Boll, den er sehr hoch schätzte. War doch auch die Palaeographie für Cantor eine unentbehrliche Wissenschaft. Und hier war es der Codex Arcerianus der Wolfenbüttler Bibliothek, den er für seine römischen Agrimensoren durchforschte, wo er zu dem Resultat geführt wurde: „Daß überhaupt etwas von Geometrie in die Barbarei des frühen Mittelalters sich herüberretten konnte, das ist das unschuldige Verdienst der römischen Feldmesser.“ Ein Objekt seiner Studien bildete auch die Geometrie Gerberts in einem aus dem 12. Jahrhundert herrührenden Exemplar des Benediktinerstiftes von St. Peter in Salzburg. Noch als Greis erinnerte er sich gern des ihm mit der Hergabe dieser kostbaren Handschrift geschenkten Vertrauens. Auch über einen Codex des Klosters Salem schrieb er, den Tropfke in seiner Geschichte der Elementarmathematik heute als Heidelberger Handschrift bezeichnet. „Ein würdig Pergamen“ mußte sich ihm erschließen, wie ihm überhaupt die Urkunde als der Ausgangspunkt aller historischen Forschung heilig war. Interessen dieser Art hatten ihn schon mit dem Fürsten Boncompagni verbunden, dem mächtigen Mäzen, der von 1867-1887 jene großartige Zeitschrift schuf, die als das erste „Bulletin“ heute noch dem Historiker der Mathematik unentbehrlich ist. Auch mit ihm hatte Cantor korrespondiert, ein warmer Nachruf und die Beschreibung von des Fürsten kostbarer Privatbibliothek im Zentralblatt für Bibliothekswesen haben Cantor zum Verfasser. Auch Cantors eigene Bibliothek barg Schätze und noch in seinen letzten Lebenstagen sprach er beglückt von seinem ganzen Newton. Da stand auch die große Huyghensausgabe, die ihm von der holländischen Regierung geschenkt worden war. Aber viele seiner neueren Bücher waren in fleißiger Rezensionsarbeit erworben.
Moritz Cantor war eine zu liebenswürdige Gelehrtennatur, als daß er nicht gern von den Resultaten seiner Forschungen weiteren Kreisen mitgeteilt hätte. Der von ihm mit Hausrath, Laband, Oncken, Wattenbach, Wilhelm Wundt, Zeller, G. Weber, Bluntschli gegründete philosophisch-historische Verein bot die dankbare und verständnisvolle Gemeinde für seine Vorträge und manches Summarium von seiner Hand findet sich in den Protokollbüchern dieser Gelehrtenvereinigung. Aber über die engere Heimat hinaus war Cantor auch Mitglied der Akademien von Petersburg, Wien, Turin. Immer mehr wurde er als der Altmeister der mathematischen Historie geehrt. Aber sein Wesen blieb schlicht und einfach. Mit einer tief poetischen Weltauffassung verband er einen starken Wirklichkeitssinn, der ihn auch seine übrigen Lehrverpflichtungen kraftvoll ausfüllen ließ; durch Jahrzehnte lag ihm der Unterricht in politischer Arithmetik ob, aus dem das noch heute geschätzte Werkchen gleichen Titels hervorgegangen ist. Und schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts widmet er sich der Volksbildung in vorbildlicher Weise. Für sein Handeln war Lessings Wort bestimmend: „Genug, er war ein Mensch!“ Diese Freundlichkeit war ihm in allen Dingen eigen und in seinem gastfreundlichen Hause liefen nicht nur die literarischen Fäden zusammen, welche ihn mit der ganzen Welt verbanden, sondern mancher Besucher aus fernem Land machte dort eine Station, um den geistvollen Mann persönlich zu sprechen. Der mathematische Verein in Heidelberg, unsere heutige Markomannia, verehrt in Cantor einen ihrer Begründer, und immer stand sein Haus und sein Rat jüngeren und älteren Kommilitonen offen.
Wenn unser gütiger Professor saecularis, den wir sub spezie aeternitatis heute in der Heimat der Weisen aller Zeiten wissen, zu uns hereinträte, er würde sich freuen, daß in dem Jahrzehnt seit seinem Heimgang neues Leben aus den Ruinen des Weltkrieges blüht, daß die von ihm zur Selbständigkeit geführte Hochschuldisziplin auf dem besten Wege ist sich durchzusetzen, daß ein aufstrebendes Forschungsinstitut der Geschichte der Naturwissenschaften in der Reichshauptstadt den Mittelpunkt bildet für alle historische Arbeit auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften, daß so mancher Stein eingefügt worden ist in dem reichen Mosaik des Bildes der Vergangenheit, den er noch missen mußte, daß Deutschland den Mut gefunden zu neuen großen Ausgaben der Werke seiner größten Geister, wie sie für Cusanus und Leibniz im Entstehen sind, daß die Galileiforschung durch sprachgewaltige Vertreter der Wissenschaft unter ganz neuen Gesichtspunkten weitergeführt wurde, daß die Antike mit ganz neuen Auffassungen bereichert wird und daß so manches neue Dokument aus dem Dunkel der Bibliotheken und Archive zur Beglückung der wissenschaftlichen Welt neu erobert wurde.
Ganz besonders würde unser Meister sich freuen, daß Deutsche wieder teilnehmen an den großen Weltkongressen, von denen er einen hier in Heidelberg einst so glanzvoll eröffnete, wozu ihn die vollendete Beherrschung auch der lebenden Sprachen und alle Völkersyimpathien so ganz besonders praedestinierten. Er würde sich freuen, daß neue Zeitschriften deutscher und außerdeutsoher Zunge seines Faches, ich brauche nur an Schusters Archiv in Berlin, an Mielis Archeion, an Sartons Isis, an die in Amerika neu erstehende Bibliotheca, an Toeplitz neu begründete Zeitschrift zu erinnern, Ersatz gewähren für die in den Stürmen des Krieges untergegangenen. Moritz Cantor würde sich freuen über das Interesse der akademischen Jugend für sein Fach, das in den Lehrplan aufgenommen von der heimischen Hochschule im Geist seiner großen Traditionen gepflegt wird. Er würde aber auch den Ruf an diese von ihm so geliebte Jugend richten, der aus seinem Munde wie ein Vermächtnis klingt: Daß immer neue und neue Mitarbeiter sich finden mögen das Feld zu bebauen und umzugraben, das ihm so reiches Erntefeld geworden, noch ist es nicht erschöpft, noch lohnt auf ihm die Arbeit.
Heute kränzen wir das Bild des Jubilars mit dem wohlverdienten Lorbeer und
geloben von neuem sein Erbe zu hüten und zu mehren als ein hohes Palladium
deutscher Wissenschaft und des ewig lebenden deutschen
Idealismus, der unsere Hochschulen beseelt und sie den Mut und die Hoffnung
finden läßt zur zielbewußten rastlosen Weiterarbeit im Sinne unserer großen
Meister.
Letzte Änderung: Mai 2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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