Cantor, Moritz

Bopp, Karl: Cantor, Moritz
Enth. Verzeichnis der Vorträge Cantors
In: Deutsches biographisches Jahrbuch. - 2 (1928), S. 509-513.
Signatur UB Heidelberg: IZA Biog C-DE 008

Cantor, Moritz, Historiker der Mathematik, o. Honorarprofessor der Universität Heidelberg, * am 23. August 1829 in Mannheim, † am 9. April 1920 in Heidelberg. — C. war Schüler von Gauß und Lejeune-Dirichlet, Steiner und Stern, bezog die Universität Heidelberg 1848, hörte im Wintersemester 1850/51 Gauß' Kolleg über die Methode der kleinsten Quadrate, promovierte im Herbst 1851 mit der Dissertation: »Über ein weniger gebräuchliches Koordinatensystem«, studierte in Berlin weiter und habilitierte sich 1853 in Heidelberg, wo er für seine Vorlesungen »Grundzüge einer Elementararithmetik« verfaßte. Angeregt durch Stern, M. Chasles und Bertrand auf einer Reise nach Paris, und den Philosophen Eduard Röth (»Mit einem gewissen Stolze führe ich an, daß es seine Aufmunterung ganz besonders war, welche mich in die historisch-mathematischen Forschungskreise hinüberwies«), las C. schon im Sommersemester 1860 an der Ruperto-Carola über Geschichte der Mathematik. Seine Vorträge auf der 33. und 34. Naturforscherversammlung in Bonn und Karlsruhe, sein Eintritt in die Redaktion der Zeitschrift für Mathematik und Physik 1859 erweiterten das Feld seiner Tätigkeit, seine tiefer dringenden Studien in der Geschichte schufen das Werk: Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker, welches ihm 1863 den Professortitel brachte und der Ausgangspunkt wurde für den bis 1903 dauernden Briefwechsel mit seinem Fachgenossen und Freunde Maximilian Curtze in Thorn, dem Entdecker von Nicole Oresme. In glücklichem Wetteifer bauten beide in Deutschland am stolzen Turm der mathematischen Historie, welche nach Montuclas Werk nun kritisch fundiert wurde. In Italien begründete nach Terquems schüchternen Anfängen Fürst Boncompagni sein Bulletino 1867, trat Antonio Favaro auf den Plan, der nachmalige große Herausgeber der Galilei-Ausgabe. Die Italiener korrespondierten eifrig mit C., welcher den historisch-kritischen Teil der Zeitschrift für Mathematik und Physik bestritt. Er entwickelte eine gewaltige Rezensionstätigkeit und die Zahl seiner mathematisch-historischen Arbeiten wuchs in glücklicher Berührung mit seiner eifrigen Lehrtätigkeit. Die Tafel seiner Vorträge, die wir als Skizzen und Vorarbeiten zu seinem Monumentalwerke charakterisieren können, lassen das organische Wachsen ahnen und zeigen das stille und zielbewußte Wirken eines großen, schaffenden, in seine Aufgabe sich einfühlenden Geistes, der, nach kurzem Familienglück, allein in rastloser Arbeit Ersatz fand. Das Jahr 1875 füllte mit dem Buche über die römischen Agrimensoren eine Lücke aus in dem großen Plane seines Monumentalwerkes; der leitende Faden durch die Geschichte der spätrömischen und mittelalterlichen Mathematik war nach dem sicheren Urteil eines seiner ältesten Schüler, Siegmund Günther († 1923), darin gefunden. Die Mitarbeit an von Liliencrons »Allgemeiner deutscher Biographie« begann für C. mit dem Jahre 1875 ebenfalls; Hunderte von ausgezeichneten Mathematikerbiographien hat er mit seinem zielsicheren Kolorit dafür geschaffen. Die von ihm zur Selbständigkeit gebrachten Abhandlungen über Geschichte der Mathematik bewiesen das Erstarken der Forschungsarbeit auf seinem eigensten Gebiete und zeigen, daß der seit 1875 von ihm begonnene dreisemestrige Lehrvortrag an der Universität die reichen Schalen des Zaubertranks einer klassischen Vergangenheit mit Begierde schlürfen ließ. Im Jahre 1880 erschien der I. Band der Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik. Mit der Selbstlosigkeit des bewundernden Freundes rühmte Max Curtze die Fülle des Gebotenen, die künstlerische Darstellung und Abrundung dieses Bandes, welcher die antiken Kulturvölker, Klostergelehrsamkeit und Mittelalter, die Mathematik der Inder, Chinesen und Araber behandelte. Nur ein Meister wie C. konnte mit seiner von Paul Stäckel so gerühmten souveränen Beherrschung des Quellenmaterials, seinem rastlosen Fleiß, seiner Sammlergeduld, seiner plastischen Darstellungskraft die weiteren Bände ebenso glanzvoll gestalten. Von seiner Kunst der Berichterstattung zeugen die klassischen Kapitel der Künstlermathematiker der Renaissance, die Schilderung der Erfindung der Logarithmen, der Anfänge der Indivisibilienmethoden, der Schöpfung der Analysis durch Leibniz und Newton, die Zeiten der Bernoullis und die Epoche Eulers. 1892 kam der II., 1898 der III. Band heraus. Rasch folgten neue Auflagen des Standardwerks, das C. bis zum Jahre 1758 persönlich fortführte. Er stand in reger Korrespondenz mit Paul Tannery in Paris, dem Herausgeber von Diophants, Fermats und Descartes' Werken, und dieser Briefwechsel wird demnächst in den monumentalen Mémoires scientifiques von Madame Tannery pietätvoll publiziert werden (vgl. tome VI} Sciences modernes, S. 501). Die friedliche erfolgreiche Zusammenarbeit der Nationen an der Geschichte der Mathematik zeigten die großen Kongresse der nächsten Jahre in Paris, Rom und Heidelberg. Nachdem schon zu der ersten Festschrift zu C.s 70. Geburtstag zweiunddreißig Forscher der bedeutendsten Namen aller Kulturnationen sich vereinigt hatten, gelang es C. für den IV. Band seines Werkes eine neungliedrige Kommission der Herren S. Günther, V. Bobynin, A. v. Braunmühl, Fl. Cajori, E. Netto, G. Loria, V. Kommerell, G. Vivanti und C. R. Wallner zu gewinnen, so daß er die Genugtuung der Weiterführung desselben bis 1799, dem Erscheinungsjahre von Gauß' Doktorarbeit, im Jahre 1907 erlebte. Mit dem von ihm redigierten Schlußabschnitt wollte er seinem Ideal einer Geschichte der Ideen nahekommen in Richtung auf die Einheit der sich selbst stets bewußten Weltvernunft. Damit war sein Lebenswerk gekrönt, das in der ganzen Welt gekannt ist. Wohl hatte es eine scharfe Detailkritik durch Gustav Eneström in dessen Bibliotheca Mathematica zu bestehen; aber es fand überzeugte und beredte Apologeten; ich brauche nur H. Bosmans in Belgien zu nennen oder Gino Loria, dessen gewaltiger Arbeitskraft die Wissenschaft Fagnanos und Torricellis gesammelte Werke dankt. Zu C.s Weggenossen gehörten H. G. Zeuthen, Pierre Duhem, A. Favaro. Er war Mitglied der Akademien von Petersburg, Turin, Wien, Heidelberg. Er durfte zu seinem 80. Geburtstag noch die Ehrung einer zweiten Festschrift, die Glückwünsche seiner über den Erdkreis verteilten Freunde, seiner Hochschule und seiner Vaterstadt empfangen. Er erreichte beinahe sechzig Jahre akademischer Lehrtätigkeit, Generationen von Schülern saßen begeistert zu seinen Füßen, des für alles Große und Schöne der Welt in heiliger Liebe erleuchteten Lehrers. Eine schöne Feuerbach-Biographie war sein letztes Werk, nachdem er noch seinen Freunden Boncompagni, Max Curtze, Schloemilch, dem großen Leibniz-Forscher C. I. Gerhardt schöne Würdigungen nachgesandt hatte. Viermal hat er zu Ehren seines großen Lehrers Gauß die Feder geführt und mit Dedekind pflegte er brieflich diese Erinnerungen, wie er auch zur Einweihung des Gauß-Weber-Denkmals am 16. Juni 1899 nach Göttingen eilte. Im Lichte eines milden Idealismus sah er das Leben, aber aller unfruchtbaren Spekulation abhold, verband er mit seiner oft poetischen Weltauffassung einen tiefen Wirklichkeitssinn, der ihn auch seine anderen Lehrverpflichtungen der Mathematik des bürgerlichen Lebens literarisch und pädagogisch kraftvoll ausfüllen ließ. Schon in den achtziger Jahren widmete er sich, wie wiederum aus der Tafel seiner Vorträge ersichtlich, der Volksbildung in hingebender Weise; der philosophisch-historische Verein (vgl. dessen Protokollbücher Sign. 369 mit Cs. hdschrl. Summarien der Vorträge) welcher von ihm mit gleichgesinnten Männern wie Hausrath, Laband, W. Oncken, Wattenbach, Wilhelm Wundt, Zeller, G. Weber, Bluntschli gegründet wurde, bot ihm die verständnisvolle Gemeinde. Kuno Fischer sagte einst von seinem Kollegen: »Der C. ist ein großer Kenner der Geschichte der Mathematik« und immer mehr wurde er als der Altmeister der mathematischen Historie verehrt. Ein universales Werk wie das C.s wirkt schulebildend, und so konnte schon Paul Tannery in seinem Artikel der Grande Encyclopédie von ihm sagen: »II n'en est pas moins le véritable chef d'école, dont l'Imitation se perpétuera à l'avenir, et si quelques-unes de ses opinions peuvent prêter mutière à contestation, son nom ne leur en donne pas moins une singulière autorité«, nachdem er ihn als »Esprit ingenieux et hardi, qui s'est pondéré avec l'âge, d'une exactitude et d'une conscience parfaites, doué de tous les talents de l'ecrivain«, gerühmt hat, Charakterzüge, welche die Familie C.s von Portugal nach Dänemark und von da nach Amsterdam mitgebracht hatte.

Eine Bibliographie von Moritz C.s Schriften hat Curtze in der ersten Festschrift zum 70. Geburtstag gegeben, und ich habe dieselbe im V. Bande von Poggendorffs Handwörterbuch über diese Zeit hinaus ergänzt. Als ich kurz vor C.s Heimgang auf seinen Wunsch wie in Alâ-ed-Dîns Schatzhöhle tretend seine reiche Bibliothek ordnete, welche unter anderem auch die ihm von Holland geschenkte Huygens-Ausgabe enthielt, fand ich die meisten Originale seiner Schriften vor, welche mir die Einordnung seiner Vorträge in die zerstreuten Arbeiten bei Curtze ermöglichte.

Literatur: Moritz C.s Vorträge mit Angabe der Veröffentlichung: Über die Mathematik des Pythagoras, Heidelb. Jahrbücher 1858, S.921. — Über die Zahlzeichen der Araber, ibid. 1863, S. 245. — Über die Zahlentheorie der Griechen, ibid. 1863, S. 801..— Über die Lebenszeit des Zenodor, ibid. 1861, S. 161. — Über den Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibnitz, Sybels Historische Zeitschrift, betitelt: War Leibniz ein Plagiator? Bd. X, S.67-159.— Über Petrus Ramus, Monatsblätter 1867. — Über Galileo Galilei, Grenzboten XXIV, I. Sem. 1865, S. 422/36. — Über Benjamin Franklin, unveröffentlicht. — Über die neuesten Entdeckungen des Galileischen Prozesses, Korresp. mit den Rezensionen von Wohlwill und Gebier, Zeitschr. für Math, und Phys., Bd. XVI und XXI. — Über Blaise Pascal, Preußische Jahrbücher XXXII, 1873, S.212-237. — Über Regiomontanus (1874), vgl. die Rezension von Zieglers Regiomontan, Zeitschr. für Math, und Phys. XIX, 1873, S.41-53.— Über Heron von Alexandria (1874), vgl. das I.Kapitel von C.s Roemischen Agrimensoren. — Über römische Feldmesser, s. Selbstreferat im Repertorium von L- Koenigsberger und H.Zeuner, Bd. I, S. 117-128. — Zur Geschichte der Erdbeben, Referat über die Schrift A. Pavaros von 1875.— Über die Nationalität des Kopernikus, Münch. Allg. Ztg. 1876, Nr. 214, S. 280/83. Übersetzung durch Sparagna, Bullet Boncomp. IX, S.701-16.— Über einen wissenschaftlichen Streit des 16. Jahrhunderts, vgl. die Rezension von Garbieri, I sei cartelli di matematica disfida tra Tartalea e Ferrari, Zeitschr. für Math, und Phys. XXII, S. 133-150, Übersetzung von A. Favaro, Bullet. Boncomp. XI, S. 177/96.— Über Leonardo da Vinci (1876), Westermanns Monatshefte XII, 1878, 128. — Rückblicke auf das Gauß-Jubiläum, Münch. Allg. Ztg., Beilage 156 (1877), S.2357.— Über neue Untersuchungen des Galileischen Prozesses, Münch. Allg. Ztg, 1876, Nr. 93, S. 1413/14 und 94, S. 1422/23, »Der Prozeß des Galilei«. — Über die letzten Forschungen Wohlwills zum Galilei-Prozeß, Gegenwart XII, 1877, betitelt: Die Aktenfälschung im Prozeß gegen Galilei. — Über die Mathematik der Babylonier, vgl. den 1880 erschienenen I. Band der Vorlesungen C.s. - Über Abraham Gotthelf Kaestner, Allgemeine Deutsche Biographie, 1882, Bd. XV: Abraham Gotthelf Kaestner, S. 439/41. — Feuer- und Lebensversicherung im Volksbildungs-Verein Heidelberg, Karlsruher Ztg. 1881, 18. bis 23. Januar. — Aus dem Briefwechsel Galileis, vgl. das Referat von Campori Carteggio Galileano inedit. Modena 1881, Zeitschr. für Math, und Phys., XXVIII, 1882, S. 24-30. — Dividentenverteilung bei den Lebensversicherungsgesellschaften, Bremer Handelsblatt, 1883, Nr. 1635, Vortrag im Volksbildungs-Verein Heidelberg. — Aus Universitätkreisen, »Nord und Süd«, XXVIII. Bd., Heft 81, 1883, S. 343/50, korresp. mit dem Referat für Favaro, Galileo e lo studio di Padova, Zeitschr. für Math, und Phys., XXIX, S. 50/51. — Über Prowes Biographie des Koppernikus, Nationalzeitung, 37. Jahrg., Berlin 1884, Nr. 153 vom 9. März. - Über Volkszählungen und Sterblichkeitstabellen, 1885, unveröffentl. — Ein dreihundert jähriges Jubiläum 1886, betr. Stevins Schrift 1586, La Disme, Die Einführung der Dezimalbrüche als Grundlage der Einteilung von Maßen, Gewichten und Münzen. — Über vier berühmte Astrologen (Koppernikus, Brahe, Galilei, Kepler), Nord und Süd, XLV, 1888, April, S. 81-91.— Albrecht Dürer als Schriftsteller, 1888, Neue Heidelb. Jahrbücher I, 1891, S. 17-31.— Über Nikolaus von Cusa, 1889, Nord und Süd, LXIX, Mai 1894, betitelt: Kardinal Nikolaus von Cusa, ein Geistesbild aus dem 15. Jahrhundert.— Über Michael Stifel, vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, XXXVI. Bd., 1893, S- 208/16.— Zeit und Zeitrechnung, Neue Heidelb. Jahrbücher II, 1892, S. 190-211. — Die Geschichte des Rechenbrettes; vgl. Wie rechneten die alten Völker? Deutsche Revue 23, S. 84. — Zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung; vgl. den älteren Vortrag von 1877: Das Gesetz im Zufall, Sammlung gemeinverständl.- wissenschaftl. Vorträge, herausgeg. von Rud. Virchow und Franz v. Holtzendorff; XII. Serie, Heft 275. — Zahlensymbolik, Neue Heidelb. Jahrbücher V, 1895, S.25-45. — Nikolaus Kopernikus, ein Vortrag, Neue Heidelb. Jahrbücher IX, 1899, S.90-106. — Carl Friedrich Gauß, Neue Heidelb. Jahrbücher IX, 1899, S. 234-256. — Hieronymus Cardanus, ein wissenschaftliches Lebensbild aus dem 16. Jahrhundert, Mitteilung von Moritz C. an den Historikerkongreß in Rom, Neue Heidelb. Jahrbücher XIII, 1905, S. 131-144; vgl. dazu auch Atti del Congresso di scienze in Roma. Demselben Jahre entstammt die interessante Polemik gegen Dr. Hugo Eckener über Phantasie und Mathematik, veröffentlicht in der Deutschen Revue, Juni 1903.— Für weitere biographische und bibliographische Nachrichten vgl. besonders M. Curtze, Verzeichnis der mathematischen Werke, Abhandlungen und Rezensionen des Hofrats Professor Dr. Moritz C. in der I. Festschrift von 1899, Zeitschr. für Math, und Phys. 44, ibid. C.s Porträt; ferner für die frühere Schaffenszeit: S. Günther, Ziele und Resultate der neueren mathematisch-historischen Forschung, Erlangen 1876; für sein ganzes Lebenswerk die Nachrufe von H. Ahrens, K. Bopp, Sitzungsber. der Heidelb. Akad. der Wiss. (14. Abh., 20), 16 S., Cajori, Fl., Amer. Math. Soc. Bullet., 8 S. (27. Okt. 20), H. Bosmans, Rev. des Quest. Scient. 21, G. Loria, Bologna Scientia 1822. Der Nachlaß des Meisters, seine Handschriften, Vorlesungsmanuskripte, Handexemplare mit handschriftlichen Randnoten, sein Briefwechsel befinden sich, ihm von den Erben anvertraut, in den Händen seines Schülers und Nachfolgers des Dozenten für Geschichte der Mathematik in Heidelberg.

Heidelberg.
Karl Bopp.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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