3. Internationaler Mathematiker-Kongress
1904 in Heidelberg

Eröffnungsrede von Heinrich Weber am 9. August 1904

Seine Königliche Hoheit der Erbgroßherzog Friedrich von Baden hat die Gnade gehabt, das Ehrenpräsidium des III. Internationalen Mathematiker-Kongresses zu übernehmen, und hat mich zu beauftragen geruht den Kongreß zu eröffnen. So rufe ich allen, die Sie unserer Einladung gefolgt sind, ein herzliches Willkommen zu.

Zum drittenmal haben sich die Mathematiker aller Länder zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden, und da drängt sich die Frage auf: Was hat uns zusammengeführt? Was haben wir erreicht und was hoffen wir noch zu erreichen?

Es ist in der Mathematik nicht anders als in allen anderen Gebieten der Kultur. Man hat erkannt, daß mehr zu gewinnen ist durch gemeinsame Arbeit der Gleichstrebenden, als wenn jeder seinen eigenen Weg geht. Man hat eingesehen, daß auch die Wissenschaft die Aufgabe hat, mit dem Leben in Berührung zu bleiben, daß der einzelne nicht für sich steht, sondern seine Arbeit der Gesamtheit schuldig ist. Wenn auch auf wissenschaftlichem Gebiete, jeder bedeutsame Fortschritt zunächst die Tat eines einzelnen erleuchteten Geistes ist, so soll doch der große Strom nicht in lauter kleine Rinnsale auseinanderlaufen.

Darum bedarf die Wissenschaft neben der immer mehr in die Tiefe gehenden Einzelforschung einer zusammenfassenden Tätigkeit, in der sie sich ihrer Stellung und Aufgabe im ganzen Organismus unseres Kulturlebens bewußt wird. Solche Zeiten der Sammlung sind zugleich die Zeiten reichsten wissenschaftlichen Lebens, wo jede Tätigkeit die andere anregt und fördert. So waren die Tage von Newton und Leibniz. Und so war es an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, wo von Frankreich die große geistige Bewegung ausging, als neben der reichsten wissenschaftlichen Produktion jene klassischen Lehrwerke entstanden, die wir noch heute bewundern. Ob wir jetzt wieder in einer solchen Periode stehen und welche Frucht der Wissenschaft daraus erwächst, das wird erst die kommende Zeit beurteilen können. Wir aber erfüllen unsere Pflicht, wenn jeder einzelne sein Bestes tut, und wenn wir uns in neidlosem Zusammenarbeiten die Hand reichen.

Gestatten Sie mir, einen flüchtigen Blick auf die Schicksale unserer Wissenschaft während der seit unserem ersten Kongreß verflossenen Jahre zu werfen. Gar viele, zu denen wir damals noch in Verehrung als zu unseren Meistern aufblickten, sind nicht mehr unter den Lebenden. Manchem von uns ist der eine oder andere von ihnen mehr als Lehrer, er ist ihm Freund und Vater gewesen. Es drängt mich, an dieser Stelle ihnen einige Worte dankbaren Andenkens zu widmen.

Wir beklagen zunächst unseren Karl Weierstraß, der im Jahr 1897 hochbetagt von uns geschieden ist, betrauert von zahlreichen Schülern und Freunden. Er hat der funktionentheoretischen Forschung auf lange hinaus die Richtung gegeben. Er hat unablässig auf die Punkte hingewiesen, wo die, Grundlagen der Mathematik nicht sicher genug erschienen, und hat mit Glück und Scharfsinn an der Befestigung dieser Fundamente gearbeitet. Der Einfluß seiner mächtigen und liebenswürdigen Persönlichkeit hat unauslöschliche Spuren bei uns, die wir ihn gekannt haben, zurückgelassen, und weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus geht seine Wirksamkeit. Sind es doch heutzutage nicht minder als Deutschland die äußer-deutschen Länder, die die Weierstraßsche Funktionentheorie weiterbilden.

Ich gedenke sodann mit Wehmut eines Mannes, der jedem, der mit ihm in Berührung zu kommen das Glück hatte, unvergeßlich ist, Charles Hermite, der im Jahr 1901 aus dem irdischen Leben abgerufen wurde. Seine wissenschaftliche Größe auch nur flüchtig zu berühren gestattet mir die Enge dieser Stunde nicht. Aber gedenken darf ich des warmherzigen bescheidenen Mannes ohne Falsch, der für jedes wissenschaftliche Streben, von welcher Seite es auch kommen mochte, selbstlose Anerkennung hatte, der jedem aus dem Reichtum seines Geistes freigebig mitteilte und jedes aufstrebende Talent durch Anregung und Aufmunterung förderte. Unvergeßlich sind mir die Stunden, die ich vor achtzehn Jahren hier mit ihm verleben durfte, da er der Universität Heidelberg zu ihrem, großen Jubelfeste die Glückwünsche der Pariser Akademie überbrachte.

England hat im Jahr 1897 durch den Tod des 83jährigen Sylvester einen herben Verlust erlitten. Wenn er auch das ganze weite Gebiet der Mathematik nicht so allseitig beherrschte und bebaute, wie sein jüngerer größerer Landsmann und vertrauter Arbeitsgenosse Arthur Cayley, der ihm zwei Jahre früher im Tode vorangegangen war, so sind seine originellen Ideen und eigenartigen Methoden, sein genialer Blick, der die Resultate vorausahnte und die Wege zu ihnen bahnte, für die Algebra und Zahlentheorie von unvergänglichem Werte. Auch der dritte in dem Bunde der großen englischen Algebraiker des 19. Jahrhunderts, George Salmon, der Meister in der Anwendung der Algebra auf die Geometrie, ist vor kurzem aus dem Leben gegangen.

Ich gedenke ferner des jung verstorbenen Sophus Lie, der, geistesverwandt seinem großen Laudsmann Abel, in der modernen Gruppentheorie neue Wege geöffnet hat, der den besten Teil seines Lebens bei uns in Deutschland gewirkt hat, den aber dann, schon erkrankt, die Liebe des Nordländers zur Heimat nach Norwegen zurückgeführt hat, wo er ein frühes Grab fand.

Auch Brioschi, der als verehrter Senior den Mittelpunkt unseres ersten Kongresses bildete, ist kurze Zeit darauf aus dem Leben geschieden. Was die moderne Algebra ihm verdankt, wie er die von Gauß, Abel, Galois ausgehenden neuen Gedanken weiter bildete und dem Verständnis zugänglich machte, ist in frischem Andenken bei den Zeitgenossen. Unvergessen ist aber auch in' seinem Vaterlande seine Tätigkeit als Staatsmann, die Verdienste, die er sich in dem neuerstandenen Königreich Italien um die Hebung des Unterrichtswesens und auf anderen Gebieten der Staatsverwaltung erworben hat.

Und als wir die Vorbereitungen zu diesem unserem dritten Kongresse ins Werk setzten, da hatten wir die Hoffnung, den Mitbegründer der neueren Geometrie, den großen Mathematiker und tapferen Patrioten, dem das heutige Italien so viel verdankt, Luigi Cremona hier zu begrüßen und vielleicht sprechen zu hören. Vor wenigen Monaten hat der Tod auch diesem tatenreichen Leben ein Ende gemacht.

Lassen Sie mich auch dem Andenken an Erwin Bruno Christoiffel einige Worte widmen, der im Jahre 1900 unter schweren körperlichen Leiden sein einsames Leben beschloß. Wer den stattlichen und interessanten Mann gekannt hat, bewahrt das Bild einer ungewöhnlichen und bedeutenden Persönlichkeit. In der Wissenschaft und wo er als Lehrer gewirkt hat, in Zürich, in Berlin, in Straßburg hat er tiefe Spuren hinterlassen. Der deutschen Universität Straßburg hat er von ihrer Begründung an durch mehr als 20 Jahre als eines ihrer hervorragendsten Mitglieder angehört, bis ihn die Beschwerden des Alters zwangen, der Lehrtätigkeit zu entsagen.

Endlich kann ich — gerade in Heidelberg — nicht an dem Andenken eines Mannes mit Stillschweigen vorübergehen, Lazarus Fuchs. Mit Freuden hat er noch, die Nachricht begrüßt, daß gerade hier auf dem ihm zur zweiten Heimat gewordenen Boden sich die Mathematiker versammeln sollten. Aber er selbst durfte es nicht mehr erleben. In seinen Arbeiten zur Theorie der Differentialgleichungen hat er sich ein unvergängliches Denkmal gesetzt.

Es ist damit die Liste derer noch lange nicht erschöpft, die in den letzten Jahren aus dem wissenschaftlichen Schaffen abgerufen sind. Ich kann sie nicht alle erwähnen und ich bitte, es nicht als ein Zeichen minderer Schätzung zu betrachten, wenn ich von den übrigen nicht spreche.

Ich muß gestehen, als ich begann, mir aus Anlaß des bevorstehenden Kongresses die Geschichte der Wissenschaft der letzten Jahre ins Gedächtnis zurückzurufen, da hatte ich zuerst den Eindruck, als ob ich nur an Gräbern der Vergangenheit stehe; eine so reiche Ernte hat der Tod gehalten.

Ein anderes Bild aber zeigt sich mir, wenn ich die Arbeiten und Erfolge unserer heutigen Wissenschaft betrachte. Hier ist überall irisches Lehen. Nirgends ist Stillstand. Die Gedanken und Anregungen der vergangenen Periode sind auf allen Gebieten weiter verfolgt. Neue Fragen sind gestellt, neue Forschungsgebiete erschlossen. Diesem Eindruck eines stetigen Fortschrittes kann sich niemand entziehen, der auf ein geraumes Stück Geschichte der Wissenschaft in eigener Erinnerung zurückblickt.

Fragen, die in unseren Jugendjahren im Vordergrund des Interesses standen, treten zurück, teils weil sie als definitiv beantwortet gelten, teils weil sich die Forschung neuen Fragen zugewandt hat.

Eine nicht lange hinter uns liegende Zeit hat mit Meisterschaft die formale Seite der Mathematik gepflegt, ihre Methoden zu einem schön gerundeten Ganzen gestaltet, dessen wir uns noch jetzt erfreuen, wenn auch die gegenwärtige Generation nicht mehr in dem Maße das entscheidende Gewicht darauf legt.

Von großem Einfluß auf die Fortbildung unserer Wissenschaft ist die durchgreifende Umgestaltung der Physik gewesen, die, teils durch die Entdeckung neuer Tatsachen, teils aber auch durch eine veränderte Anschauung über das Wesen von Kraft und Materie, in unseren Tagen einen mächtigen Aufschwung genommen hat. Die Folgerungen aus diesen neuen Anschauungen zu sichern ist eine Aufgabe der Mathematik, der die alten Hilfsmittel nicht immer gewachsen waren.

Es ist wohl mehr ein Zukunftsbild, wenn ich auf eine Entwicklung der Analysis hinweise, deren Ansätze sich wohl hie und da — besonders bei englischen Forschern — erkennen lassen, die unter Verzicht auf die mathematische Schärfe der Begriffe den Bedürfnissen der Physik genügt, indem sie mit den unserer Wahrnehmung der Außenwelt anhaftenden unscharfen Grenzen und allmählichen Übergängen rechnet. In dem gleichen Sinne wirken die Anforderungen, die die moderne Technik an unsere Wissenschaft stellt.

Daß hierdurch eine Menge neuer Gedanken in Bewegung gesetzt werden, die nach Klärung und Weiterbildung ringen, gibt unserer Wissenschaft frisches reges Leben.

Auf der anderen Seite stehen die abstrakten Zweige der Wissenschaft, die sich — nach einem drastischen Ausdruck von Dirichlet — noch mit keiner Anwendung befleckt haben, im Ernst gesprochen, in denen die Reinheit der mathematischen Idee Selbstzweck ist. In der Tat ist es der Natur der Sache nach unmöglich, daß Fragen wie die nach der Quadratur des Kreises oder der Dreiteilung des Winkels jemals irgend welche praktische Bedeutung erlangen. Gleichwohl haben gerade solche Fragen, soweit die historische Überlieferung zurückreicht, das wissenschaftliche Denken unausgesetzt und intensiv beschäftigt, und für die Entwicklung des mathematischen Geistes sind sie von der allergrößten Bedeutung gewesen. Hier geht durch die ganze Geschichte der Wissenschaft ein Zug stetigen Zusammenhanges, der im 19. Jahrhundert durch die glänzenden Namen von Gauß, Lagrange, Abel gekennzeichnet ist. Auch unsere Zeit hat auf diesem Gebiete manches alte Problem gelöst und den Ausblick auf neue geöffnet. So ist uns die Quadratur des Kreises heute eine abgetane Sache, und Algebra und Zahlentheorie haben sich zu einem Ganzen vereinigt, in dem die Harmonie und Gesetzmäßigkeit des Zahlenreiches immer schöner hervorleuchtet.

Wohl kaum hat es eine Zeit gegeben, da der philosophische Teil unserer Wissenschaft, die Frage nach dem letzten Grunde unserer mathematischen Überzeugung ein so allgemeines Interesse in Anspruch nahm, wie jetzt. Diese uralten Fragen sind wieder in Fluß gebracht durch die Untersuchungen von Gauß, Riemann, Helmholtz, und sind in unseren Tagen von einer neuen Seite angegriffen worden. Und wenn dadurch der naive Glaube an die Voraussetzungslosigkeit unserer Wissenschaft erschüttert ist, so hat sich dagegen gezeigt, daß wir ebenso wie nach oben an dem Weiterbau der Wissenschaft, nach unten an dem Suchen nach den Wurzeln und letzten Gründen ein Ziel haben, dem wir uns zwar nähern, das wir aber niemals ganz erreichen werden.

Eine große Rolle spielen heutzutage endlich die pädagogischen Fragen. Das vielgestaltige Leben unserer Zeit hat auch dem Jugendunterricht neue Aufgaben gestellt. Der Stoff hat sich erweitert und die Frage drängt sich auf, wie es zu vereinigen ist, der Jugend die Summe der fürs Leben notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten beizubringen, ohne doch die harmonische Ausbildung des Geistes zur vollen Humanität preiszugeben. Und auf der Stufe des Hochschul-Unterrichts handelt es sich gleichfalls darum, die Gymnastik des Geistes, die durch die strenge Disziplin des mathematischen Denkens gewonnen wird, ohne Überlastung mit den Anforderungen des Fachstudiums zu vereinigen.

Es wird die Aufgabe unseres Kongresses sein, von dem gesamten Leben unserer Wissenschaft und von ihrem gegenwärtigen Stande Rechenschaft zu geben. Wir waren bemüht, in den Sektionen und in den allgemeinen Versammlungen für jeden Zweig unserer Wissenschaft charakteristische Proben zu geben, und wir haben bereitwilliges Entgegenkommen gefunden, für das ich schon jetzt Dank sage.

Aber wir haben noch eine Aufgabe der Pietät zu erfüllen. Vor zwei Jahren haben wir das hundertjährige Geburtsjubiläum von Niels Henrik Abel unter herzerfreuender Gastfreundschaft seines Heimatlandes Norwegen glänzend gefeiert. Zwei Jahre später als Abel ist sein Nebenbuhler und Mitstreiter Jacobi geboren. Es fällt also in das Jahr unseres Kongresses der hundertste Geburtstag dieses großen Mathematikers. Seinem Gedächtnis gilt in erster Linie der heutige Eröffnungstag unseres Kongresses. Hiermit erkläre ich den dritten internationalen Mathematiker-Kongreß für eröffnet.


S. 24-30 aus
Verhandlungen des III. Internationalen Mathematiker-Kongresses in Heidelberg 1904. - Leipzig : Teubner, 1905
Signatur UB Heidelberg: L 26 Folio::3


Letzte Änderung: 02.11.2009   Gabriele Dörflinger     Kontakt

Zur Inhaltsübersicht:   Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis     Heidelberger Texte zur Mathematikgeschichte