Rede gehalten in der
Festsitzung der Akademie am 24. April 1911.
Heidelberg : Winter, 1911. - 28 S.
(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften :
Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse ; 1911, 9. Abh.)
Signatur UB Heidelberg: L 96-25
In einer akademischen Festrede des Berliner Germanisten JAKOB GRIMM, welche die Popularität einer Akademie zum Gegenstande hatte, finden wir die selbstbewußten, aber einem so großen Forscher wohl anstehenden Worte: „Mit Recht sind die Festtage der Akademie öffentlich, denn außer diesen soll und kann eine Akademie nicht populär werden in dem Sinne, daß sie die feinsten Spitzen ihrer Untersuchungen abzubrechen hätte einem gemischten und mittleren Verständnis zu Gefallen. Die Wissenschaft hat kein Geheimnis und doch ihre Heimlichkeit; sie mag nicht oft auf der großen Heerstraße weilen, sondern sich lieber ohne jedes Geleit in alle Wege, Pfade und Steige ausdehnen, die ihr neue Aussichten öffnen.“
Trotzdem möchte ich Ihnen gern von diesen Heimlichkeiten heute ein Weniges verraten, obwohl die Natur meiner Wissenschaft und die nur einem kleinen Kreise der gebildeten Welt verständliche Sprache derselben meinem Vorhaben große Schwierigkeiten bereiten. Nun haben wir freilich, wenigstens für einzelne Teile unseres Wissensgebietes, ein Esperanto in der Philosophie; aber auch deren Sprache ist nicht allen geläufig, wenn auch die Probleme ihrer Forschung in alle Zweige menschlichen Wissens, Glaubens und Fühlens hinübergreifen — und so schien es mir deshalb ratsam, meinen Betrachtungen einen historischen Hintergrund zu geben und, gestützt auf die Arbeiten eines ausgezeichneten deutschen Philosophen, den Fortschritt in der Behandlung erkenntnistheoretischer Probleme meiner Wissenschaft im letzten Jahrhundert in einigen Zügen zu skizzieren. Ich tue dies um so lieber, als ich damit an dieser Stelle eine Pflicht der Pietät und zugleich der Gerechtigkeit gegen einen Mann erfülle, der vor genau 100 Jahren als eine Zierde der Heidelberger Hochschule ihr Prorektor gewesen, dessen eigentümliche Schicksale es aber mit sich gebracht, daß er nur zu bald fast in Vergessenheit geraten und erst in den letzten zwei Decennien wieder eine hervorragende Stelle in der Geschichte der deutschen Philosophie einzunehmen beginnt.
JACOB FRIEDRICH FRIES, im Jahre 1773 in Barby an der Elbe geboren, hatte schon frühzeitig ein hervorragendes Interesse für philosophische und mathematische Fragen bekundet und war, nachdem er seine juristische Laufbahn verlassen, 24 Jahre alt, zur Vertiefung seiner KANT-Studien nach Jena gegangen, dessen Ruhm durch die Anwesenheit von GOETHE, SCHILLER, FICHTE und den beiden HUMBOLDTS sowie durch eine große Anzahl hervorragender Fachgelehrten mit dem Glanze der neu entstandenen Berliner Universität zu wetteifern begann.
Die KANT'sche Philosophie beschäftigte damals die gesamte wissenschaftliche Welt; die völlige Umwälzung in der Auffassung metaphysischer Probleme und die auf diesem Gebiete so ungewohnte mathematische Klarheit des großen Denkers hatte überall Staunen erregt und zunächst jeden Widerspruch verstummen lassen. Aber schon drohte die FICHTE'sche Wissenschaftslehre und die SCHELLING'sche Naturphilosophie, deren Urheber zwar auf dem Boden von KANT zu stehen vorgaben, die eben erst erstarkte Basis der philosophischen Wissenschaft zu erschüttern. „Die volle Unparteilichkeit“, sagt HARNACK mit Recht, „welche sich die Berliner Akademie ihr gegenüber zum Gesetz machte, bedeutete in Wahrheit eine grundsätzliche Ablehnung der KANT'schen Philosophie“. Auch unser jugendlicher Verehrer des großen Philosophen konnte schon damals seine Bedenken gegen gewisse grundlegende Anschauungen KANTS nicht unterdrücken und brachte frühzeitig, wie seine Aufzeichnungen lehren, ein psychologisches oder, wie man jetzt will, ein anthropologisches Element in den Kritizismus von KANT. Aber in der Methodik der philosophischen Forschung blieb er ihm treu; ihm wie KANT war die Mathematik der unwandelbare Leitstern für alle Spekulationen der Metaphysik; nur in der Verbindung mit dieser sollte sich die Philosophie eine feste Basis schaffen, um dann den anderen Wissenschaften eine sichere Führerin zu sein; bescheiden sollte sie sich von den Anfängen mathematischer Forschung aus in besonnener Spekulation zu den höchsten Wahrheiten zu erheben suchen.
Nachdem sich FRIES im Jahre 1801 in Jena habilitiert und neben SCHELLING philosophische, mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen gehalten, wurde ihm, als SCHLEGEL 1805 Jena verlassen, die Professur für Philosophie übertragen — zugleich jedoch mit HEGEL, dessen Philosophie ihm bis an sein Lebensende unsympatisch geblieben; FRIES suchte KANT zu korrigieren, für HEGEL gab es keine Korrektur. Trotz der gefährlichen Konkurrenz dieses geistvollen und beredten jungen Dozenten erwarb sich FRIES durch seine zahlreichen kritischen und polemischen Aufsätze die Anerkennung immer weiterer Kreise; vor allem machte die im Jahre 1805 erschienene Schrift „Wissen, Glauben, Ahnung“ seinen Namen in ganz Deutschland rühmlichst bekannt. Überall in seinen Arbeiten derselbe sittliche Ernst, dieselbe Tiefe der Gedanken, derselbe freiheitliche Mut, mit dem er den „nach Resultaten und schönen Gedanken haschenden Philosophen“ den Fehdehandschuh hinwirft. „Der Kritizismus hat seine Geheimnisse, aber sie sind nicht Mysterien, sondern Arkana der inneren Physik.“
Um diese Zeit veranlaßte ihn SAVIGNY, der von Marburg aus bisweilen seinen Rat in naturrechtlichen und erkenntnistheoretischen Fragen in Anspruch genommen, sich für eine Professur in Heidelberg zu melden; nach mündlichen Verhandlungen mit CLEMENS BRENTANO und nach Ablehnung des Rufes von Seiten HERBARTS gelang es dem Juristen HEISE, FRIES für die ordentliche Professur der Philosophie in Heidelberg zu gewinnen, wo dieser um die Zeit der Wiedergeburt unserer Universität von 1805-1816 hauptsächlich durch seine reiche literarische Tätigkeit der Hochschule Ruhm und Ansehen erwarb.
Das einfache und anspruchslose Leben der Heidelberger Gelehrtenwelt, das CREUZER uns so treffend geschildert, entsprach ganz seinen Wünschen und Neigungen; nahmen doch die sorgfältige Vorbereitung seiner Vorlesungen über Philosophie und Geometrie, sowie die Vertiefung und Ausarbeitung seiner philosophischen Forschungen seine Zeit vollauf in Anspruch. Immer von neuem suchte er in seinen zahlreichen Streitschriften FICHTE und SCHELLING entgegenzuhalten, daß der Dualismus materieller und geistiger, natürlicher und ideeller Weltansicht für die menschliche Erkenntnis nicht wegzuleugnen sei, und die Physik es nur mit der materiellen Welt zu tun habe. Aber erst in seinem umfangreichen, 1807 in Heidelberg erschienenen Werke „Neue Kritik der Vernunft“ gab er einen systematischen Aufbau seiner philosophischen Grundgedanken, zum Teil auf der für alle Zeiten unvergänglichen Basis seines großen Lehrers KANT.
Hochansehnliche Versammlung! Als Laie und unsicherer Läufer auf dem schwankenden und gefahrvollen Boden spekulativer Philosophie darf ich es nicht wagen, Ihnen meine Ansicht über den psychologisch-anthropologischen Kritizismus von FRIES darzulegen, der in seiner Neuen Kritik der Vernunft bisweilen in einen unverkennbaren Gegensatz tritt zur Kritik der reinen Vernunft von KANT; aber ich darf es auch nicht unterlassen, wenigstens einige der Grundlehren der FRIES'schen Philosophie anzudeuten, da seine später zu besprechenden mathematisch-naturphilosophischen Anschauungen wesentlich auf diesen Grundlagen beruhen.
Es gibt nach KANT Erkenntnisse a priori, für FRIES existiert nur ein apriorisches Erkenntnisvermögen; während KANT mit Hilfe der apriorischen Anschauungen von Raum und Zeit an die Objekte der Sinnenwelt; an deren Form und Gestalt herantritt, mit Hilfe der apriorischen Begriffe, wie Causalität und Stetigkeit, die Natur der Dinge zu erforschen sucht, ist FRIES ganz Empirist, aber im edelsten Sinne des Wortes. Er unterscheidet eine äußere und innere Erfahrung, aus der sich alle Erkenntnis herleitet; so wenig wie KANT will er aus reiner Logik Erkenntnis schaffen, sondern die Wahrheit durch sichere Deduktion feststellen; er will auch nicht alles Wissen aus der Einheit entwickeln wie FICHTE und SCHELLING, welche von der Form unserer Vernunft ausgehen und alles auf der Reaktion dieser Form gegen die sinnlichen Eindrücke basieren wollen. Ihm ist die Vernunft eine Erregbarkeit, welche nur durch Affektionen zu Lebensäußerungen bestimmt werden kann. Äußere sinnliche oder innere Erfahrung soll zunächst nur in ganz unklarer, ja unbewußter Weise unsere Vernunft zur Tätigkeit anregen. Nicht wir treten an die Außenwelt heran, sondern die Objekte äußerer und innerer Erfahrung affizieren unsere Vernunft. Mit jedem Denkakt, sagt im Geiste der HERBART'schen Schule RIEMANN, einer der größten Mathematiker des vorigen Jahrhunderts, tritt etwas Bleibendes in unsere Seele ein, welches sich bei besonderen Anlässen, wie durch die Erinnerung, als solches kundgibt, aber auf die Erscheinungswelt, aus welcher sie völlig verschwindet, keinen dauernden Einfluß mehr ausübt. Vermöge der unserer Vernunft innewohnenden Gesetze übt nun diese nach FRIES in reiner Spontaneität, mit Hilfe ihrer Instrumente, der apriorischen Erkenntnisvermögen Raum, Zeit, Causalität und Stetigkeit, ihre synthetische Tätigkeit aus, ohne daß unser Wille darauf einen Einfluß hat. Jetzt erst bringt uns der Verstand, der dem, Willen untertan, in seiner analytischen Tätigkeit die durch die Synthesis der Vernunft erarbeiteten Erkenntnisse zum Bewußtsein; er schafft nicht neue Erkenntnisse, sondern hat nur das Vermögen der Selbsterkenntnis, sein Wille und seine Reflexion schafft die Basis für die wissenschaftliche Erkenntnis. Wie die synthetisch tätige Vernunft KEPPLERS die astronomischen Beobachtungen zu Ellipsen ordnete, so hat die geniale, analysierende Kraft des NEWTON'schen Verstandes als Ursache dieser möglichen Ordnung die das Weltall beherrschende Attraktionskraft erkannt.
Dies scheint mir der Sinn des FRIES'schen Kritizismus zu sein; nach KANT wird die Sinnesempfindung sofort zur Wahrnehmung, nach FRIES — und dies ist ja auch die Ansicht von SCHOPENHAUER und HELMHOLTZ — sind die Sinnesempfindungen nur das Rohmaterial, aus dem wir durch Vernunft- und Verstandesprozesse Erkenntnis gestalten können, — aber ich bin als Nichtphilosoph weit davon entfernt, den Anspruch zu. erheben, in dem schon so lange währenden Streite zwischen den Fachgelehrten ein beachtenswertes Wort für die FRIES'sche Anschauung in die Wagschale werfen zu wollen. Nur eines Schlusses möchte ich noch Erwähnung tun, den FRIES aus den Grundlehren, seiner Metaphysik gezogen, und dem ich, ohne für seine Richtigkeit einzutreten, doch als Mathematiker sympathisch gegenüberstehe. Woher haben die Erzeugnisse der Vernunft objektive Gültigkeit für die Erfahrung? KANT mußte annehmen, daß die synthetischen Vorstellungen unserer Vernunft nur deshalb auf objektive Gültigkeit Anspruch erheben dürfen, weil sie die Erfahrung erst bedingen und die Gesetzmäßigkeit der Gegenstände aus sich erzeugen. Nach der Auffassung von FRIES dagegen besitzt unsere Erkenntnis unmittelbare Objektivität; die Tätigkeit der erkennenden Vernunft besteht eben in der Vorstellung vom Dasein eines Gegenstandes, das Erkennen ist eine Tatsache innerer Erfahrung — und eine solche ist auch das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande, die beide unauflöslich miteinander verbunden, nie miteinander zu vergleichen sind. „Ich bleibe“, sagt FRIES, „bei der Selbstbeobachtung meines Erkennens, welches sich aus den reinen Anschauungen und den gedachten Erkenntnissen sowohl ihren Denkformen nach als nach ihrem metaphysischen Gehalt zum Bewußtsein der Einheit und Notwendigkeit der ganzen menschlichen Erkenntnis entwickelt, und in dieser Einheit und Notwendigkeit, die Wahrheit und Festigkeit der Überzeugung in sich selbst trägt.“
Immer und immer wieder spricht er es auch in allen seinen späteren Schriften klar und deutlich aus, daß die Philosophie nicht sowohl die Wahrheit selbst zu suchen hat, als vielmehr die im Innern der Vernunft gegebene philosophische Wahrheit des Notwendigen, Guten und Schönen an das Licht des Bewußtseins hervorzuführen, welches seine Ausbildung erlangt durch Denken und Reflexion. Und ich glaube in der Tat, es ist dies der glücklichste Ausweg zwischen Empirismus und Rationalismus; die Frage, ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein solle, ist durch FRIES nicht bloß, wie KUNO FISCHER es wollte, in die Reihe der „in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit KANT unvermeidlichen Probleme“ verwiesen; FRIES beantwortet auch die von FISCHER vor 50 Jahren in seiner Prorektoratsrede in Jena gestellte Frage „wo bleibt aber dabei die Wahrheit?“ Während RIEMANN unsere Auffassung der Welt wahr nennt, wenn der Zusammenhang unserer Vorstellungen dem Zusammenhange der Dinge entspricht, beruht die Grundanschauung von FRIES auf der Notwendigkeit des gleichen Zusammenhanges.
Der Ruhm seines Namens war nun überall begründet, der Blick der deutschen Philosophen war auf Heidelberg gerichtet; REINHOLD bezeichnet ihn als einen Meister auf dem Gebiete gesunder und echter Psychologie; JAKOBI bewirkte seine Aufnahme in die Münchener Akademie, und die Berliner ernannte ihn bald darauf trotz mannigfacher Anfeindungen zu ihrem Mitglied.
Das „System der Logik“ erschien im Jahre 1811, und die Durcharbeitung von KANTS metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft führte ihn schon damals zu einem vorläufigen Entwurfe der Grundzüge für eine Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft.
Zunächst ging aus seinen in den Jahren 1811 und 1812 gehaltenen Vorlesungen über Astronomie und mathematische Physik sein Buch über die Sternkunde hervor, und auch hier findet er Gelegenheit, seine philosophischen Anschauungen von neuem zu begründen. Er nennt NEWTONS Theorie den größten Sieg, den der menschliche Verstand je in der Wissenschaft errungen, aber zugleich die völlige Entzauberung der Lehre. Er will zugeben, daß man alles aus der Gravitation zu erklären imstande sei, aber — und diese Frage können wir heute nach 100 Jahren noch mit ihm stellen — welchen Ursprungs ist denn diese? doch bei der Einfachheit jenes Gesetzes hält er es für bedeutungslos, noch nach Erklärungen zu fragen. RIEMANN geht in seinen philosophischen Hypothesen weiter; er sieht die NEWTON'schen Bewegungsgesetze der Ponderabilien in dem inneren Zustande derselben begründet; der Weltraum soll mit einem Stoffe erfüllt sein, welcher fortwährend in die ponderablen Atome einströmt und dort aus der Erscheinungs- oder Körperwelt verschwindet, um sich, wie in unserer Vernunft, zur Geistessubstanz zu verdichten; der raumerfüllende Stoff, eine incompressiblc homogene Flüssigkeit ohne Trägheit, soll durch seinen Druck auf das ponderable Atom die Wirkung der Gravitation hervorbringen. Sein Schluß, daß die ponderablen Körper der Ort sind, wo die Geisteswelt in die Körperwelt eingreift, klingt ein wenig phantastisch — aber wir müssen uns jetzt auch in den exakten Wissenschaften an Phantasiegebilde gewöhnen.
Die staunenswerte Vielseitigkeit von FRIES ließ ihn auch an den großen politischen Umwälzungen der Jahre 1812 und 1813 nicht achtlos vorübergehen, und er fand öfter Gelegenheit, seinen gemäßigt liberalen Anschauungen auch öffentlich Ausdruck zu geben. Der in seinem Prorektoratsjahr im Verkehr mit den Studierenden gewonnenen Überzeugung, daß nur ein unschuldiger Patriotismus und „das Bestreben, ehrenhaft unter den akademischen Gesetzen zu leben“, den Burschenschaften ihre Entstehung gegeben, wollte er auch in weiteren Kreisen Geltung verschaffen — aber sein mannhaftes Eintreten für die freiheitlichen Bestrebungen in Politik und Wissenschaft sollte sehr bald verhängnisvoll für ihn werden.
Seine Stellung wurde zwar nach dem Prorektorat immer angesehener und einflußreicher; vergebens suchte HEGEL im Jahre 1814 neben FRIES in Heidelberg eine Professur zu erlangen; „sollte die Physik“, schrieb er in seinem Hochmut an PAULUS, „ihren Friesrock nicht selbst ganz brauchen und für die Philosophie nicht noch ein besonderer Rock nötig sein?“
Aber schon in den ersten Tagen des Jahres 1816 stiegen Wolken an dem bisher ungetrübten Horizonte des hervorragenden und friedfertigen Gelehrten auf. Sein Freund MARTIN war infolge einer freiheitlich gesinnten Petition, die auch FRIES unterschrieben, genötigt, einen Ruf nach Jena anzunehmen, und bemühte sich, FRIES dorthin nachzuziehen. Inzwischen waren die Bestrebungen seines Göttinger Freundes HEISE, ihm eine freie Stellung an der Berliner Akademie der Wissenschaften zu erwirken, gescheitert; BOECKH und DE WETTE hatten es zwar durchgesetzt, daß der akademische Senat in Berlin im März 1816 FRIES für die Professur der praktischen Philosophie neben HEGEL, als Professor der spekulativen Philosophie vorgeschlagen — als aber die Kreierung dieser beiden Professuren wieder zweifelhaft geworden, entschloß sich FRIES, wenn auch schweren Herzens, dem Andrängen KARL AUGUSTS in Weimar Folge zu leisten und die Professur in Jena, „der Hauptstadt der Philosophie“, anzunehmen; HEGEL wurde für Philosophie, MUNCKE für Physik nach Heidelberg berufen.
FRIES erwarb sich in Jena rasch die Zuneigung der soeben zur Burschenschaft vereinigten Studierenden, und. als im Jahre 1817 KARL AUGUST die Erlaubnis zur Abhaltung des Wartburgfestes gegeben, ging auch er nach Eisenach und zögerte nicht, von den Studierenden dazu aufgefordert, dort einige ganz unverfängliche Worte zu sprechen. Aber die Reaktion hatte bereits von Österreich aus ihre Tätigkeit zu entfalten begonnen, und die preußische Regierung richtete an den Großherzog KARL AUGUST gehässige Denunziationen „gegen den Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten“. Zunächst freilich hielt noch der edel und liberal gesinnte Großherzog seine schützende Hand über FRIES, aber auch er mußte dem herrschenden Systeme weichen und eine Kriminaluntersuchung gegen FRIES anordnen, in welcher dieser jedoch dank der Verehrung, die ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, von der Anklage der Majestätsbeleidigung freigesprochen wurde. Als man ihm aber ein Jahr später nach der unseligen Tat von KARL SAND in gehässiger Weise vorwarf, daß die Freunde dieses Fanatikers seine Schüler gewesen, als Neid und Mißgunst die Angriffe auch auf seine wissenschaftliche Bedeutung immer heftiger werden ließen, da konnte auch die weimarische Regierung die Pensionierung von FRIES nicht länger fernhalten.
In der ihm nunmehr auferlegten unfreiwilligen Muße konnte er sich nach Beendigung seiner Psychologie ganz der Fertigstellung der im Jahre 1822 bei WINTER in Heidelberg erschienenen Mathematischen Naturphilosophie widmen.
SCHLEIDEN erzählt uns, daß GAUSS, der größte Meister exakter Wissenschaft im vorigen Jahrhundert und einer der tiefsten Denker auf dem Gebiete erkenntnistheoretischer Fragen, einem Studenten, welcher dieses Buch in dessen Händen gesehen und seine Verwunderung darüber äußerte, daß GAUSS auch der Naturphilosophie seine Aufmerksamkeit schenke, geantwortet habe: „Junger Mann, wenn Sie es nach dreijährigem angestrengten Studium dahin gebracht haben, daß Sie dieses Buch verstehen und würdigen können, so dürfen Sie die Universität mit der Überzeugung verlassen, daß Sie Ihre Zeit besser angewandt haben als die meisten Ihrer Kommilitonen.“
Möge es mir nun gestattet sein, verehrte Anwesende, in Anknüpfung an die Prinzipien, Schlußfolgerungen und Resultate der Untersuchungen dieses mathematisch durchgebildeten Anhängers von KANT und ausgezeichneten selbständigen Forschers auf dem schwierigen Gebiete einer exakten Metaphysik, das Jetzt der mathematisch-naturphilosophischen Erkenntnistheorie mit dem Einst von vor hundert Jahren — wenn auch nur in flüchtigen Zügen — zusammenzustellen und zu vergleichen. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von KANT ließen FRIES darauf bedacht sein, von einer philosophisch scharfen Definition der mathematischen Physik ausgehend, soweit die vor hundert Jahren in rapider Entwicklung begriffene Wissenschaft es gestattete, den systematischen Aufbau zunächst dieser Disziplin zu ermöglichen. Es wurde ihm freilich leicht, die metaphysischen Spekulationen von SCHELLING, welcher die Masse als ein Produkt des Konfliktes von Kräften definiert, ironisch zurückzuweisen, und die unwissenschaftlichen Hypothesen und Beweisführungen anderer Philosophen, welche „GOETHES Nichtverstehen von NEWTONS Optik als eine große physikalische Entdeckung“ priesen, durch un verkennbaren Spott zu entkräften — aber er erkannte doch auch sehr bald die unübersteiglichen Schwierigkeiten, welche die physikalischen Hypothesen von KANT einem widerspruchslosen Ausbau der theoretischen Physik entgegenstellten. Die bahnbrechenden Untersuchungen des von ihm bewunderten Lehrers über Größe und Zahl, über Raum, Zeit und Stetigkeit ließen ihn sehr bald einsehen, daß wir mit irgendwelcher Aussicht auf Erfolg in der Erforschung der Natur unserer Erkenntnisse die Schwierigkeiten gar nicht in den Anwendungen der Mathematik und Mechanik zu suchen haben, sondern in den eigensten Prinzipien der Arithmetik, der Geometrie und der reinen Bewegungslehre selbst — die Natur der mathematischen Erkenntnisse an sich war zunächst zu zergliedern.
Wer die Ansicht von FRIES teilt, daß die einzige vollständige wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen die Erkenntnis der Welt der Gestalten und deren Bewegungen ist, wer ferner darin ihm zustimmt, daß die Erkenntnis der sinnlichen Qualitäten der Gegenstände nach Farbe, Ton usw., und sogar die Erkenntnis des geistigen Lebens nur durch jene Erkenntnis von Gestalt und Bewegung ihre Raum- und Zeit-, ihre Zahl- und Gradbestimmungen erhält, der wird auch mit ihm für die Zusammensetzung jeder Wissenschaft aus Philosophie, Mathematik und Empirie zunächst die Durchdringung der beiden großen fundamentalen Aufgaben fordern müssen: eine Philosophie der reinen Mathematik, welche die Natur der mathematischen Abstraktionen feststellt und ihren Anspruch auf Gültigkeit für die menschliche Erkenntnis überhaupt erörtert, und eine philosophische Untersuchung der reinen Bewegungslehre im Sinne der mathematischen Naturphilosophie.
Gewiß wird ihm der Mathematiker der Jetztzeit recht geben, wenn er sagt, daß die Mathematik trotz ihrer Sicherheit und scheinbaren Klarheit den ihr eigentümlichen Mangel nicht verbergen kann, wenn die Philosophie ihr die Frage entgegenhält, wie wir denn dazu kommen, uns so sorglos auf dem Gebiete der Zahlformen, des Raumes und der Zeit auszubreiten, ohne uns um den Rechtsgrund zu kümmern, der uns in diesen Besitz geführt. Er nennt die Mathematik —- und wen erinnert dies nicht an unsern KIRCHHOFF — eine Beschreibung des Gebietes der Zahlen, des Raumes und der Zeit — aber woher kommen Zahl, Raum, Zeit? fragt nach FRIES' Auffassung der reflektierende und analysierende Verstand die synthetisch arbeitende Vernunft. Er konnte freilich vor hundert Jahren noch mit einem gewissen Rechte diese Fragen als jenseits der Grenzen, der mathematischen Wissenschaft liegend bezeichnen; erst von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an haben ihnen ausgezeichnete Mathematiker das Bürgerrecht inmitten unserer Wissenschaft erkämpft. und dadurch die Grenzen unserer philosophisch-mathematischen Erkenntnis so wesentlich erweitert.
Indem nun FRIES zur Beantwortung der Fragen übergeht, woher uns die mathematische Erkenntnis kommt, und welche Ansprüche sie im ganzen System der menschlichen Überzeugungen, zu machen hat, sucht er eine feste Basis in dem KANT'schen Satze, daß die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen durch die mathematischen Erkenntnisformen charakterisiert wird. Zeit und Raum sind für FRIES, wie wir gesehen haben, Anschauungsformen zur Ordnung der Mannigfaltigkeiten der Erscheinungen; er verweist sie aus der Reihe der Verstandesbegriffe in die Erkenntnisvermögen der Vernunft und machte sie dadurch zu Gesetzen der Sinnlichkeit. Wir wissen heute die Präzision und Klarheit in der Ausdrucksweise von FRIES zu schätzen, dem Zahl, Zeit, Raum ebenso wie Stetigkeit und Unendlichkeit dem menschlichen Geiste anhaftende Beschränkungen seiner Grunderkenntnisse sind; sie gehören nur einer menschlichen Vorstellungsweise von den Dingen an, ohne mit deren Wesen etwas zu tun zu haben; die Geheimnisse ewiger Wahrheit liegen in der Entgegensetzung gegen die mathematischen Formen und deren Wahrheit. Aber klarer und deutlicher als bei seinem großen Lehrer tritt es bei ihm hervor, daß die mathematische Erkenntnis vermöge jener Anschauungsformen die notwendigen und allgemeinen Gesetze schon aus einem einzelnen gegebenen Beispiel zu entnehmen imstande ist. Die Vernunft wird vermöge der ihr innewohnenden Erkenntnisvermögen deren Wahrheit aus den kleinsten Anfängen bis ins Unendliche beständig mit Hilfe der produktiven Einbildungskraft ohne Zuhilfenahme sinnlicher Wahrnehmung weiter entwickeln; die äußere Erfahrung selbst ist nur durch gedachte Vorstellung möglich.
Es soll schon hier nicht unerwähnt bleiben, daß einzelne Mathematiker der Neuzeit im Gegensatz zu dieser Auffassung den Raum, nicht als bloße Anschauung, sondern als einen Begriff bezeichnen, oder ihn sich gar als eine Mannigfaltigkeit von Elementen, als einen physikalischen Gegenstand denken, dessen Eigenschaften nur durch Experimente ermittelt werden können; ja man geht so weit, den räumlichen Beziehungen keine von den Körpern absolut unabhängige Bedeutung beizulegen, sie vielmehr als ein System von Vereinbarungen zur Darstellung physikalischer Tatsachen zu betrachten,
Alle Begriffserklärungen in der Mathematik sind für FRIES Konstruktionen der Begriffe in reiner Anschauung; das System der mathematischen Wissenschaft selbst ein hypothetisches in dem Sinne, daß auf die Wahrheit einer Behauptung geschlossen wird unter der Voraussetzung einer schon als wahr bewiesenen Grundbehauptung — oder wie KANT sich ausdrückt, es wird ein Gesetz geschaffen für die Ordnung des einen nach dem anderen einer Erscheinungsreihe, in welcher das Denken an die Stelle der Erscheinungen tritt.
Er weist der reinen Mathematik die Aufgabe zu, aus dem Ganzen der Erkenntnisse die rein anschauliche Form in Ordnung, Zahl, Gestalt und Dauer herauszuheben; der ihr anhaftende Mangel einer leeren Abstraktion, in welcher der selbsttätige reflektierende und analysierende Verstand, das klarste Werkzeug der Selbstbeobachtung besitzt, muß durch die theoretische Naturwissenschaft ergänzt werden, um einen bestimmten Gehalt der sinnlichen Erkenntnis jenen Gesetzen zu unterwerfen.
In der reinen Bewegungslehre NEWTONS sieht er dagegen die Philosophie der angewandten Mathematik; sie ist ihm eine auf die philosophische Erkenntnis vom körperlichen Wesen der Dinge hin gerichtete reine Mathematik, in welcher die geometrische Bewegung nur die Richtung dieser und die beschriebenen Räume, die phoronomische noch die Geschwindigkeit, und die dynamische Bewegung auch die bewegte Masse und die wirkenden Kräfte in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen.
In der Zeit erblickt FRIES das Nacheinander in der Ordnung des Mannigfaltigen, die anschauliche Verbindung der Existenz der Gegenstände nach einer Dimension; im Raum das Nebeneinander mit seinen drei Dimensionen, in beiden eine stetige Zusammensetzung- von Größen — wobei er mit KANT unter einer Größe die Extension eines Gedankendinges versteht, der Messung unterworfen und daher wesentlich auf das Endliche beschränkt. Indem er nun die mathematischen Abstraktionen über die Vorstellungen von Zeit und Raum hinausgehen läßt und die Einbildungskraft auf die bloße Vorstellung vorn Zusammenordnen richtet, gelangt er zu der Zahl, wie wir sie heute als den Ausdruck des Verhältnisses verschiedener Setzungen zueinander definieren — „unseres Geistes Produkt“ nennt sie GAUSS. Und ganz den modernen Anschauungen entsprechend besteht für FRIES jede anschauliche Vorstellungsweise nur aus Vorstellungen von stetigen Verbindungen eines mannigfaltigen Gleichartigen, einer stetigen Reihe der Anschauungsform von Zeit und Raum, und der stetigen Reihe des Größeren und Kleineren, sowie sie durch die Zahl als reines Schema der Größe mittelbar nach Begriffen vorgestellt wird. Die allgemeinsten mathematischen Begriffe sind die für alle solche stetigen Reihen gültigen Anordnungsbegriffe. Indem er auf die Axiome durch Abstraktionen zu kommen sucht, mußte ihm der aus der Anschauung der stetigen Reihen gewonnene Satz, daß zwischen bestimmten Grenzen jedesmal ein Teil der Reihe und nur ein Teil derselben möglich ist, als oberstes Axiom gelten; und diesem Axiom ordnet er die vier Postulate zu: das Postulat der durch die Einbildungskraft vollzogenen Beschreibung einer Größe — geometrisch durch Bewegung, arithmetisch durch Zusammensetzung gleichartiger Teile —, das der Begrenzung von Teilen in jedem stetigen Ganzen, das Postulat der Vergrößerung durch Vermehrung der Größe, und endlich das der Anordnung durch Variation derselben — alle in unseren Gedanken vollzogen. Freilich lagen ihm die von hervorragenden Mathematikern aus dein Ende des vorigen Jahrhunderts der Wissenschaft einverleibten Gedanken von der eindeutigen Zuordnung der Elemente zweier Reihen noch völlig fern; die Einführung der Begriffe von der gleichen Mächtigkeit der Reihen der ganzen, geraden und algebraischen Zahlen, die eindeutige Abbildbarkeit des unendlichen dreidimensionalen Raumes auf eine beliebig kleine Linie, der ganze Aufbau der Mengentheorie waren erst möglich geworden durch die staunenswerte Entwicklung der Analysis und Geometrie der neueren Zeit.
Während es nun die Geometrie mit der bildlichen Abstraktion und der Zeichnung räumlicher Figuren zu tun hat, weist FRIES der Arithmetik das Messen, d. h. die Aufgabe zu, Größen nach Begriffen durch Zahl und Rechnung, und nicht nur anschaulich vorzustellen — „eine am meisten wissenschaftliche und der philosophischen Erkenntnisweise ähnliche Aufgabe“. Und nun vertieft er sich in die für die damalige Zeit ganz unüberwindlichen Schwierigkeiten der Arithmetik; es gilt ein Kämpfen und Ringen um die Klarheit der Definitionen, die Präzision der Begriffe und die Berechtigung der Methoden — aber es fehlten, so viele Grundlehren der Mathematik, welche erst zu schaffen waren, um einen Fortschritt in der Erkenntnislehre zu ermöglichen; das wesentlichste Instrument unserer heutigen Arithmetik, die Theorie der unendlichen Reihen, konnte damals seine Kraft und Schärfe noch nicht erweisen. Aber überall sehen wir ihn mit Recht die eigentümlichsten Eigenschaften rein anschaulicher Formen in den miteinander verbundenen der Unendlichkeit und Stetigkeit suchen; hier greifen Mathematik und Metaphysik ineinander, „der erkennende Geist kann den Inbegriff aller Sinnesanschauungen nicht in sich tragen; die Unvollständigkeit der Erkenntnisse bestimmt die Unendlichkeit und Stetigkeit ihrer Gegenstände“. Das Unendliche ist ihm das Unvollendbare, eine Größe unendlich groß, wenn die Zusammensetzung aus Teilen über jedes gegebene Ganze hinaus sich noch weiter fortsetzt, die Unendlichkeit die Unvollendbarkeit der Zusammensetzung des Weltganzen in Raum und Zeit.
Es ist von großem Interesse im Hinblick auf die Forschungsresultate der letzten 50 Jahre, daß er zwar den Ausführungen von EULER im allgemeinen zustimmt, der wohl Größen anerkennt, die jede anzugebende übersteigen, aber nicht solche, die vollendet unendlich groß oder unvermehrbar sind. Aber trotzdem sträubt sich FRIES nicht dagegen, die Welt im Raume und die Vergangenheit in der Zeit als ein gegebenes unendliches Ganzes vorauszusetzen, ja sogar diese Annahme für notwendig zu halten, wenn Raum und Zeit dem wahren Wesen der Dinge und nicht nur der Bestimmung der Gegenstände in der unvollkommenen menschlichen Vorstellungsweise angehörten — eine Ansicht, die wohl auch GAUSS geteilt hat. Wir unterscheiden jetzt schärfer ein potentiell- und aktuell-Unendliches; während das erstere die immer noch endlich bleibende, veränderliche, beliebig groß werdende Größe bedeutet, bezeichnet das letztere ein bestimmtes, jenseits aller endlichen Grenzen liegendes Unendliches; es ist wiederum ein noch vermehrbares, in unendlichen Abstufungen, existierendes Quantum und repräsentiert die Verwirklichung einer unendlichen Reihe von Einzelsetzungen, welche durch den unendlichen Prozeß selbst nicht erzielt werden kann. Analog der Unendlichkeit und der unendlich großen Zahl definiert FRIES die Stetigkeit als die Unvollendbarkeit der Teilung eines jeden gegebenen Ganzen und nennt eine Größe stetig, wenn kein Teil von ihr der letzte, jede gegebene Teilung sich also noch weiter fortsetzen läßt. Während er sich aber der Einführung des Begriffes vom aktuell-Unendlichgroßen nicht zu verschließen scheint, weist er die Anerkennung des aktuell-Unendlichkleinen entschieden ab — ob mit Recht oder Unrecht, darüber herrscht bis heute noch keine Übereinstimmung unter den Mathematikern; ich will nicht leugnen, daß mir die Einführung auch dieses Begriffes konsequenter erscheint, als wenn man, um geometrisch zu reden, mit EUCLID einen Punkt als ein Raumelement definiert, das keinen Teil hat. Aber ganz im Sinne der Neuzeit wieder spricht er es ausdrücklich aus, daß das Gesetz der Stetigkeit ein Gesetz aus reiner Anschauung und nicht aus Begriffen sei, daß vielmehr unsere Begriffe vermittels des der Vernunft innewohnenden Erkenntnisvermögens des Stetigen so zu ordnen sind, daß sie das Stetige zu fassen vermögen.
Bei der damaligen, geringen Entwicklung der erkenntnistheoretischen Fragen der mathematischen Wissenschaft konnte FRIES nur das potentiell-Irrationale im Auge haben, wenn er seinen Beweis, daß alle Sätze, welche für rationale Zahlen gelten, auch für irrationale Zahlen bestehen bleiben, darauf stützt, daß man sonst auf eine rationale Grenze stoßen müßte, an der ihre Gültigkeit aufhörte. Wir müssen heute die Irrationalzahl als ein aktuelles, durch eine unendliche Reihe rationaler Zahlen gegebenes Gebilde betrachten von derselben Realität für unsern Geist wie die rationalen Zahlen, und die Gültigkeit der arithmetischen Operationen an der Reihe selbst beweisen; wir können uns die Existenz dieser aktuellen Gebilde nur durch Systeme unendlicher Reihen klar machen, welche sämtlich wachsende kleinere oder abnehmende größere rationale Werte als jene Zahl darstellen und, unter der Annahme der Eindeutigkeit des Treffpunktes dieser Reihensysteme, eben jene Zahl definieren.
Wenn wir aber unsere Begriffe so ordnen, müssen, daß sie das Stetige zu fassen vermögen, dann mußte ihm das Gesetz der Stetigkeit ein metaphysisches, durch die Natur unserer mathematischen Erkenntnisse bestimmtes Grundgesetz aller Veränderungen der Größen nach Naturgesetzen sein; diese Veränderungen um einen bestimmten Grad oder um eine bestimmte Zahl in der Zeit müssen durch alle kleineren Grade oder Zahlen hindurchgehen, und die eigentlichste Aufgabe der Differentialrechnung daher in der Ordnung unserer Begriffe zum Erfassen des Stetigen bestehen. Auch wir richten heute unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf das Continuum, sondern im Sinne des Potentiellen auf die Continuität; wir stellen nur den mathematischen Begriff des Continuums durch empirisch erworbene Kenntnis fest, ohne daß die synthetisch weiter arbeitende Vernunft in Definitionen und Beweisen darauf recurriert.
Bei dem weiteren Aufbau der Differential- und Integralrechnung darf daher FRIES, der das aktuell-Unendlichkleine nicht anerkennt, das Differential auch nicht als eine Fiktion betrachten, sondern nur als einen allgemeinen mathematischen Begriff, eine Abstraktion; indem er Ursachen und Veränderungen sich eine Zeitlang stetig wirkend denkt, erzeugt er eine endliche Veränderung.
Da er sich bei der Begründung der Infinitesimalrechnung ganz von den Anschauungen LAGRANGES leiten läßt, gibt es für ihn in dieser keine theoretischen, sondern nur praktische Schwierigkeiten in der syntaktischen Entwicklung komplizierter Formen. Aber welch eine Fülle von theoretischen Bedenken, unerwarteten Erscheinungen und interessanten Ergebnissen sind uns seit, jener Zeit für die grundlegenden Begriffe der höheren Analysis entgegengetreten! Freilich entgehen auch FRIES die Bedenken gegen die Exhaustionsmethode nicht, nach welcher wir ebene Figuren und Körper durch stetig sich verändernde Grade und Ebenen ersetzen; da ihm die mathematische Demonstration nur eine Konstruktion für die reine Anschauung ist, erkennt er die Methode nur als vollgültig und konsequent an, wenn die richtigen Begriffe vom Unendlichkleinen zugrunde gelegt werden. Im Sinne der jetzigen Mathematik sind aber schon die stetige Wiederholung einer Setzung und die aktuelle Zusammenfassung aller Setzungen nicht dasselbe, und weiter, welches ist denn der richtige Begriff vom Unendlichkleinen? NEWTON setzt die endliche Größe nicht aus unendlich kleinen Teilen zusammen, sondern erzeugt sie ebenso wie die Zeit durch stetige Bewegung, GALILEI nimmt an, daß bei einer gleichförmigen Bewegung in gewissen Zeiten gleiche Strecken, in kleineren gleichen Zeitteilchen aber ungleiche Strecken zurückgelegt werden können, sucht also nach der Ansicht der Verteidiger des aktuell-Unendlichkleinen die absolute Einheit im Gebiete des Unendlichkleinen selbst. Und wenn wir im Sinne der Exhaustionsmethode eine Kurve nur als die Zusammenfassung der potentiell-unendlichgroßen Anzahl ihrer Tangenten bezeichnen wollen, so stoßen wir sehr bald auf die Schwierigkeit, daß wir die Werte einer Funktion für jeden Wert der Variabeln eindeutig bestimmen können, ohne daß sich das Gesetz für die aufeinander folgenden Tangenten angeben läßt; gibt es doch eindeutig definierte unendliche Reihen, welche im kleinsten Intervalle unendlich viele Stetigkeitsunterbrechungen haben, und überall stetige Reihen, welche für keinen Wert der Variabeln einen bestimmten Difierentialquotienten besitzen, die sogenannten nicht differenzierbaren Funktionen. Ob aber das Differential wirklich als eine aktuell-unendlichkleine Zahl anzusehen ist, als Zusammenfassung von Differentialien höherer Ordnung, und das Integral als Abschluß eines Prozesses durch eine ursprünglich gesetzte Grenze, mag dahingestellt bleiben — die Vertiefung in diese Frage führt auf die analoge, sehr schwierige Durchdringung physikalischer Vorgänge.
Nach einer eingehenden Behandlung der in der Arithmetik sich bietenden erkenntnistheoretischen Fragen geht FRIES zu einer systematischen Darstellung der Geometrie über, in welcher er, um dem Anspruch auf Vollständigkeit und Gründlichkeit zu genügen, nur zwei Schwierigkeiten sieht, welche die zergliedernde philosophische Methode zu erfordern scheinen: die Theorie der Parallelen und die Beweise durch sukzessive Teilungen ohne Ende. Während aber die philosophische Rechtfertigung der unendlich fortgesetzten Teilung wieder nur die schon früher berührte Analyse des Unendlichkleinen und des Irrationalen erfordert, bedarf die Untersuchung der Parallelentheorie völlig neuer Hilfsmittel. FRIES sucht zunächst dem EUCLID'schen Gedankengange zu folgen und festzustellen, was bei demselben Axiome und was Postulate sind. Er schreibt dem elften Grundsatz von der Parallelität zweier Linien, die von einer dritten unter demselben Winkel geschnitten werden, den Wert einer Forderung zu, da er die Möglichkeit begründet, ein Dreieck aus einer Seite und den beiden anliegenden Winkeln zu zeichnen. Besteht doch die gesamte EUCLID'schc Methode seiner Ansicht, nach nur darin, für den durch seine Punkte, Linien und die anderen Elemente gegebenen Raum zu zeigen, nach welchen Gesetzen aus den einfachen Forderungen der Zeichnung gerader Linien und Kreise zusammengesetztere Zeichnungen möglich werden; dagegen scheinen ihm nur diskursiv zu beweisende Wahrheiten, wie Sätze über die Möglichkeit von Punkt und Ebene im Raume u. a., der EUCLID'schen Methode durchaus fern zu liegen.
Er glaubt aber den Axiomen von EUCLID noch ein eigenes Axiom der Richtung hinzufügen zu müssen, um den Aufbau der Geometrie lückenlos herzustellen; denn ohne den Begriff der Bewegung, auf die auch schon EUCLID zur Erzeugung der geraden Linie sich stützen mußte, hält er eine consequente Entwicklung der Geometrie nicht für möglich. So wie die Grundbegriffe der Geometrie, Punkt, Linie, Lage ohne weitere Erklärung als bekannt vorausgesetzt, und erst auf Grand dieser einfacheren Merkmale die weiteren Begriffe dem Verstande durch Erklärung gegeben werden, so soll auch die Richtung aus nichts anderem erklärt werden können. Unter Voraussetzung des aus der reinen Anschauung unmittelbar entnommenen Begriffes von der Einerleiheit der Richtung unterwirft er diese den Axiomen, daß zwei gerade Linien durch einen Punkt sowie zwei Ebenen durch eine gerade Linie jedesmal einen Winkel miteinander machen, und daß es nur einen Raum gibt, in welchem alle unbegrenzten körperlichen Ausdehnungen sich einander decken. Hierauf sich stützend, unternimmt er nach Definition der Parallelität den Beweis des elften Grundsatzes — ob aber die Einführung des Begriffes der Richtung und der genannten Axiome derselben eine größere Einfachheit für einen systematischen Aufbau der Geometrie als das EUCLID'sche Parallelenpostulat selbst bietet, darüber kann man verschieden urteilen. Die von FRIES angestellten Überlegungen sind aber jedenfalls tiefgehender Natur; weisen sie doch einerseits auf die weitere Entwicklung der Geometrie der Lage hin, andererseits auf eine nachher zu erörternde Eigenschaft unseres dreidimensionalen Raumes bezüglich starrer Systeme.
Er sah ebenso wie KANT den EUCLID'schen Raum nur als eine dem Menschen anhaftende Anschauungsnotwendigkeit, nicht als eine Denknotwendigkeit an — könnte ja jeder Raum selbst wirklich sein, da wir vom Wesen der Dinge nichts wissen. Aber er war trotzdem weit davon entfernt, den Ausbau einer widerspruchslosen nichteuclidischen Geometrie für möglich zu halten, wie er heute vor uns liegt.
Während unsere bisherige Geometrie voraussetzt, daß zwei in einer Ebene liegende Gerade, welche auf einer dritten senkrecht stehen, immer in derselben Entfernung voneinander bleiben, macht die nichteuclidische Geometrie die Annahme, daß diese beiden Linien sich von der gemeinsamen Senkrechten aus voneinander entfernen; und auf dieser Basis baute sich das in sich widerspruchslose geometrische System von LOBATSCHEWSKY und BOLYAI auf. Die tiefliegende Frage, ob der Raum unendlich oder nur unbegrenzt ist, und die Annahme, daß die Gerade eine unendliche, geschlossene Linie ist, führte RIEMANN zu einem, ebenso strengen und einheitlichen Systeme der Geometrie — „jeder wohl definierte Begriff“, sagt FRIES, „ist die mögliche Vorstellung einer Wirklichkeit“. Man konnte dann zwar zeigen, daß, wenn für ein Dreieck die Winkelsumme festgestellt ist, sich für alle Dreiecke bestimmen läßt, ob sie gleich, größer oder kleiner als zwei rechte ist, da die in der EUCLID'schen Geometrie verschwindende, in der LOBATSCHEWSKY'schen negative, in der RIEMANN'schen positive Differenz der Winkelsumme eines Dreiecks und zwei rechten zu dem Inhalte desselben in einem konstanten Verhältnis steht. Aber durch die tatsächliche Messung der Winkelsumme eines Dreiecks ließ sich, da diese Messung wieder von unseren geometrischen Voraussetzungen abhängt, eine Verifikation eines jener geometrischen Systeme nicht erzielen.
Führen wir noch den mathematischen Begriff der Krümmung ein, so wird das, was die Ebene für die krummen Oberflächen ist, unser Raum mit dem Krümmungsmaß Null für die dreidimensionalen Räume höherer Krümmung sein, und HELMHOLTZ wie RIEMANN sehen das Charakteristische unseres dreidimensionalen Raumes in der Möglichkeit der Verschiebung starrer Verbindungen.
Durch Abänderung anderer EUCLID'scher Postulate werden wir noch zu anderen geometrischen Systemen geführt, wie z. B. zu der nichtarchimedischen Geometrie, und wir sprechen endlich noch von mehrdimensionalen Räumen, welche das geometrische Gewand algebraischer Wahrheiten für eine beliebige Zahl von Variabeln bilden. Alle diese Erweiterungen unserer Erkenntnis weisen, im FRIES'schen Sinne zu reden, auf das Denken als die einzige Quelle der geometrischen Gebilde hin.
Für den Übergang von der Philosophie der reinen Mathematik zu der der reinen Bewegungslehre bezeichnet FRIES als die wesentlichste Aufgabe der letzteren, die Mathematik von NEWTON mit der Philosophie von KANT zu vereinigen. Mit Recht hebt er hervor, daß die Abstraktionen, welche von einzelnen Erfahrungen durch einen regressiven Gedankengang zu allgemeinen Gesetzen führen, uns aus der Fülle des unmittelbaren Empfindens das System der Wirklichkeit, der Natur herausarbeiten. Mittels des spekulativen Verfahrens liefern diese Abstraktionen eine Zergliederung unserer eigenen Gedanken und die Erkenntnisse a priori als Material der reinen Theorie; durch Anwendung des induktiven Verfahrens erraten wir Naturgesetze, die wir nicht a priori erkennen, welche aber die Basis für die Entwicklung der empirischen Theorien bilden. Freilich dürfen wir seine Meinung, daß wir durch Geltendmachung mathematischer Wahrheiten für die Materie auch manches für diese a priori erkennen, wie die Beharrlichkeit und Trägheit der Masse, heute nicht mehr teilen. Ob er aber mit seiner Ansicht recht behält, daß bei der Ausbildung der angewandten Mathematik die Erklärungsgründe selbst nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Bewegungslehre und der Dynamik entlehnt werden müssen, oder ob, wie wir es jetzt ausdrücken, die gesamte mathematische Physik auch wirklich auf der Basis unserer altfundierten Mechanik aufzubauen ist, wissen wir heute noch nicht endgültig zu entscheiden. Während HERTZ, auf HELMHOLTZ sich stützend, alle Kräfte als Reaktion von starren Verbindungen durch die Bewegung verborgener Massen ersetzen will, fordert die heutige Physik, daß wir, um dem Bedürfnis nach ästhetischer und logischer Reinheit zu genügen, nicht nur von der Unveränderlichkeit der Masse, sondern auch von der Allgemeingültigkeit des Trägheitsgesetzes absehen und nur annehmen, daß, je kleiner die Geschwindigkeit der Bewegung gegen die Lichtgeschwindigkeit, mit desto größerer Annäherung das Trägheitsgesetz gültig ist.
Nachdem nun FRIES in seiner Phoronomie präziser als KANT den Unterschied zwischen dem Gleichgewicht der Kräfte im Ruhezustand und in der Bewegung hervorgehoben, beschäftigt er sich eingehend mit der von KANT gegebenen Begründung des Satzes vom Parallelogramm der Kräfte und erläutert, wie dieser, durch Bewegung des Punktes vermöge der einen Kraft und Bewegung des Raumes durch die andere die Zusammensetzung der beiden Kräfte. Aber er läßt auch deutlich erkennen, daß das Prinzip des KANt'schen Beweises sich aus dem statischen Prinzip des Gleichgewichts von Kräften und ihrer Resultante, und dem dynamischen Prinzip zusammensetzt, daß statisch äquivalente Systeme auch hinsichtlich ihrer Bewegung äquivalent sind, und entwickelt, hierauf sowie auf das dynamische Schwerpunktsprinzip sich stützend, die Hebelgesetze und deren Anwendungen, die er alle auch philosophisch faßlich zu machen und zu begründen sucht.
In der Dynamik, in welcher er noch die bewegte Masse und die wirkende Kraft in den Kreis mathematischer, mechanischer und naturphilosophischer Untersuchung ziehen will, analysiert er die Grundbegriffe von der Natur der Materie und hofft, weit über KANT hinausgehend, einen Weg bezeichnen zu können, welcher zur Ermittelung der allgemeinen Gesetze für die Erhaltung der Körperwelt führen soll — aber hier betritt er ohne Aussicht auf Erfolg die damals noch so unsichere Basis der mathematischen und experimentellen Physik.
Mit Recht verwirft er freilich die Ansicht von KANT von der nur vermöge zurückstoßender Kräfte raumerfüllenden Materie und von der notwendigen Form der NEWTON'schen Anziehungsgesetze; aber er irrt ebenso, wenn er das Wesen oder die Substanz der Materie, deren Quantität er als Masse bezeichnet, als unmittelbar im Raume vorhanden annimmt und für alle Naturerscheinungen Anziehungskräfte, wenn auch von allgemeinerer Natur als die NEWTON'schen, zugrunde legt — freilich sieht selbst noch HELMHOLTZ in seiner berühmten Arbeit über die Erhaltung der Kraft im Jahre 1847 die Bedingung für die vollständige Begreiflichkeit der Natur in der Lösbarkeit der Aufgabe, die Naturerscheinungen auf unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte zurückzuführen, deren Intensität von der Entfernung abhängt.
Interessant durch den philosophisch diametralen Gegensatz ist der Vergleich der Anschauungen von KANT und FRIES mit den Ansichten einzelner Physiker unserer Zeit bezüglich der Maße und deren Unveränderlichkeit. Unter der Annahme eines Postulates der Invarians definieren diese die Masse als eine in bezug auf die Summe zweier Körper additive und distributive Zahl, welche denselben Wert hat für alle Körper, welche durch Transformationen einer im mathematischen Sinne fest definierten Gruppe aufeinander zurückgeführt werden können; und es soll die Masse sogar von der Geschwindigkeit abhängen und über alle Grenzen hinaus zunehmen, wenn die Geschwindigkeit bis zur Lichtgeschwindigkeit anwächst.
Ausführlicher behandelt und philosophisch tiefer angelegt sind seine Grundlehren der Mechanik. Nach FRIES' Anschauung besteht das Sein der Dinge in Substanzen, welche, selbst als unveränderlich bestimmt, nur veränderliche Zustände annehmen, und diese Zustände werden in der Körperwelt durch Ursachen äußerer, anschaulich erkennbarer Verhältnisse hervorgerufen; von diesem Gesichtspunkte aus untersucht er die Natur der Grundsätze NEWTONS, in welchen er die notwendige metaphysisch-mathematische Voraussetzung der ganzen Wissenschaft erblickt. Ihm sind die Gesetze von der Größe der Bewegung und von der Beharrlichkeit von Masse und Kraft notwendige Voraussetzungen für die Erkenntnis der Körperwelt nach Naturgesetzen; das Gesetz der Trägheit dagegen soll die Äußerlichkeit aller Ursachen charakterisieren und der Materie das Leben oder die Kraft der inneren Selbstbestimmung absprechen. Endlich will er das Gesetz von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung durch Anwendung des Trägheitsgesetzes auf den metaphysischen Grundsatz der Wechselwirkung beweisen — Deduktionen, die wir jetzt nicht mehr als beweiskräftig ansehen dürfen. Aber um so mehr müssen wir ihm zustimmen, wenn er immer und immer wieder mit KANT hervorhebt, daß die Formen der Naturgesetze und Grundkräfte der Körperwelt nur Werkzeuge unseres Geistes, und in den Prinzipien der Mechanik wie in denen der reinen Mathematik keine höheren Geheimnisse verborgen sind — „die Geheimnisse der ewigen Wahrheit sind nicht hinter den Formen von Zahl und Rechnung, sondern einzig im Geiste zu suchen“. Und nun wendet er sich an der Hand von LAPLACE zu einer kurzen Entwicklung der sogenannten Prinzipien der Mechanik. In etwas befremdender, aber geistvoller Weise charakterisiert er diese dadurch, daß man bei Herleitung all der künstlichen Abstraktionen zur Aufstellung der Grundgesetze der Mechanik die direkte Berechnung der sich aufhebenden oder modifizierenden inneren Gegenwirkungen der Teile des Systems durch das Gesetz von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung zu beseitigen sucht und dann doch ein Resultat für Ruhe oder Bewegung des ganzen Systems erhält.
Er hebt in scharfsinniger Weise hervor, daß das Prinzip der kleinsten Wirkung, als allgemeinstes Grundgesetz für die Berechnung von Bewegungen, eigentlich nur in der Aufhebung aller in den Abstraktionen liegenden Unbestimmtheiten für die Bestimmung des einzelnen Falles bestehe, und nimmt dieses Gesetz sowie das von der Erhaltung der lebendigen Kraft als ganz allgemein geltende Naturgesetze in Anspruch. In der Tat hat sich an diese beiden Prinzipien die gesamte Entwicklung der Mechanik und Physik im vorigen Jahrhundert geknüpft. Unsere heutige Energetik, welche die Masse als eine besondere Form der Energie betrachtet, ersetzt die NEWTON'schen Grundsätze durch die Konstanz der Summe der aktuellen und potentiellen Energie und durch das HAMILTON'sche Prinzip, welches in Gestalt eines Variationsprinzips aussagt, daß der Mittelwert aus den Differenzen dieser beiden Energien in jedem Zeitintervall ein Minimum ist. Das Prinzip der kleinsten Wirkung wurde für all die großen Mathematiker, welche die Physik auf idem festen Boden der Mechanik aufbauen wollten, das oberste Prinzip, in dessen Form sie all die Gesetze der mathematischen Physik hineinzwängen wollten, welche bisher die Erscheinungen der Natur durch Differentialgleichungen beschrieben hatte. Von einem ausgezeichneten mathematischen Physiker der Neuzeit wird jenes Prinzip sogar als die Krone des Relativitätsprinzips bezeichnet und soll in den vier Weltdimensionen des Raumes und der Zeit das Prinzip der Bewegungsgröße und das der Energie in sich vereinigen.
In den weiteren Abschnitten seines Werkes beschäftigt sich FRIES mit den Grundlehren der Physik, Chemie, Morphologie und Phänomenologie, die in dem heutigen Entwicklungsstadium der Naturwissenschaften nur noch historisches Interesse bieten. Aber seine philosophischen Betrachtungen erinnern hier lebhaft an die Schlüsse exakter Forscher der Neuzeit, welche aus der wahrscheinlichen Tatsache, daß die auf einen Punkt wirkenden Kräfte nicht bloß von der Lage der Kraftzentren, sondern auch von der früheren Bewegung des Punktes abhängen, ein Postulat der Vererbung und eine Analogie mit der Entwicklung organischer Arten in der Biologie erblicken wollen.
Die Anerkennung, welche FRIES bereits seit zwei Jahrzehnten bei allen Philosophen seiner Zeit genoß, denen es ernst war mit einer Vertiefung exakter philosophischer Forschung, war durch seine mathematische Naturphilosophie und das im Jahre 1823 erschienene „System der Metaphysik“ noch allgemeiner geworden — aber immer noch mußte man bei dem erneuten Aufblühen des METTERNICH'schen Systems zum Bedauern KARL AUGUSTS die Hoffnung aufgeben, ihn in den Kreis der Universitätsdozenten der Philosophie wieder eintreten zu sehen. Auch die Übernahme einer Professur der Astronomie schlug fehl; „hier wäre ich GOETHES Subaltern geworden, und dieser wollte mich optischen Ketzer nicht so in seiner Nähe haben“. Da bot sich zu Anfang 1824 durch den Abgang des Mathematikers VOIGT eine Gelegenheit, FRIES als akademischen Lehrer zu rehabilitieren. Es wurde ihm gestattet, die Vorlesung über Experimentalphysik und Analysis infinitorum zu übernehmen, aus denen im Jahre 1826 der erste Teil seines Lehrbuches der Naturlehre hervorging, welches sich wieder wesentlich mit mathematischer Physik und Philosophie der Mathematik beschäftigte — bewegte sich doch von jeher hauptsächlich auf diesen Gebieten sein philosophisches Denken. „Nur wer mathematische und physikalische Kenntnisse besitzt, kann zu einem wirklich scharfen und gesunden philosophischen Urteil gelangen“, waren die Worte, welche den richtigen Weg zum philosophischen Studium seinem 17jährigen Schüler ERNST FRIEDRICH APELT zeigen sollten, der wenige Jahre später als einer der hervorragendsten Vertreter der KANT-FRIES'schen Philosophie den Jenenser Lehrstuhl zierte.
Als KARL AUGUST im November 1827 entschied, daß FRIES wieder in die philosophische Fakultät und den akademischen Senat mit allen dadurch bedingten Rechten und Obliegenheiten einzusetzen sei, durften trotzdem seine Vorlesungen über Philosophie zunächst noch nicht im Lektionsverzeichnis angekündigt werden, und erst 1837 wurde der schwergeprüfte Mann durch den Großherzog KARL FRIEDRICH, den Sohn KARL AUGUSTS, von dem jahrelangen Banne befreit.
Wie schon früher, machte er auch jetzt seinen Zuhörern das Studium der Philosophie nicht leicht und bequem; „sie wollten es ihm nicht glauben, daß mit dem strengen und trockenen Kritizismus von KANT sehr wohl eine lebendige Weltanschauung sich verbinden lasse“. Zugleich wurden die Angriffe HEGELS und anderer Philosophen auf KANT, FRIES und deren Schule immer leidenschaftlicher, die Abwehr von FRIES immer erregter: „sie stellen nur Spekulationen darüber an, wie Gott wurde und wird, und nicht, was Menschen dachten und taten, denken und tun sollten.“ Nur das eine gewährte ihm eine gewisse Genugtuung, daß die Berliner Akademie, an der Spitze viele der hervorragendsten Vertreter der Geisteswissenschaften, wie BOECKH und SCHLEIERMACHER, durch die Urteile von ALEXANDER VON HUMBOLDT, GAUSS, W. WEBER und anderer hervorragender Naturforscher stutzig gemacht, HEGEL den Eintritt in die Akademie verwehrten.
Unmittelbar nach seinem erneuten Prorektorat im Jahre 1832 erschien seine zweibändige Geschichte der Philosophie, seine letzte große philosophische Arbeit. Während ALEXANDER v. HUMBOLDT seine gründlichen naturwissenschaftlichen Kenntnisse, verbunden mit Kritik und Sprachkenntnis, bewundert, spricht ihm GAUSS im Mai 1841 unumwunden seine Verehrung und zugleich das Bedauern aus, nicht aus der mündlichen Unterhaltung mit ihm ebensoviel Vergnügen als Belehrung schöpfen zu können: „namentlich haben mich die Schriften mehrerer vielgenannter (vielleicht besser sogenannter) Philosophen, die seit KANT aufgetreten sind, an das Sieb des Bockmelkers erinnert oder an Münchhausens Zopf, an dem er sich selbst aus dem Wasser zog. Der Dilettant würde nicht wagen, vor dem Meister ein solches Bekenntnis abzulegen, wäre es ihm nicht so vorgekommen, als wenn dieser nicht viel anders über jene Verdienste urteilte.“
Es folgte noch eine umfangreichere mathematisch-philosophische Schrift: „Der Versuch einer Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung“, die im wesentlichen eine nicht immer anerkennende Analyse der philosophischen Grundsätze enthält, von welchen die französischen und englischen Mathematiker beim Ausbau dieser Disziplin sich leiten ließen; die tiefer liegende Begründung dafür, weshalb diese Kritik eine nicht unberechtigte war, gab nach einem Briefe von WILHELM WEBER an FRIES kein geringerer als GAUSS, dem wir auch in dieser Theorie so vieles verdanken.
Von demselben sittlichen Ernst, von derselben Wahrhaftigkeit getragen wie früher, wendet er sich immer wieder von neuem gegen HEGEL und dessen Schule — aber schon ist ein elegischer Zug nicht zu verkennen, wenn er einen Rückblick auf sein Lebenswerk wirft. Daß TRENDELENBURG sich von HEGEL loslöst, gibt ihm noch einen Lichtblick in die Zukunft: „vielleicht kommt der Umsturz auch mir zu einigem Vorteil; aber die Leute mögen wenig Wahrheit und wollen ihre Fetische nur neu anstreichen lassen, nicht mit haltbarem Lack, aber doch mit neuen Farben.“
Wiederum wurde er im Winter 1842 zum Prorektor gewählt; aber es war ihm nicht mehr beschieden, sein Amt anzutreten. Nachdem er noch in den Weihnachtsferien seine Prorektoratsrede niedergeschrieben, ein Zeugnis seiner immer lebendigen Begeisterung für alles Hohe und Sittliche, Gute und Wahre, traf ihn am 1. Januar 1843 ein schwerer Schlaganfall; am 9. August ereilte ihn der Tod.
Nur flüchtig durfte ich auf die meiner Wissenschaft näher liegenden Grundlehren des ausgezeichneten Forschers eingehen, der vor hundert Jahren hier in Heidelberg eine Stätte gegründet der Philosophie seines großen Lehrers KANT, welcher nicht viel später an derselben Stelle unser KUNO FISCHER stets so schöne und begeisterte Worte geliehen.
Dem Ausspruch NEWTONS, daß die Geometrie stolz darauf sei, mit so wenigem, was sie anderwärts hernimmt, so viel zu leisten, reihte KANT die bescheidenen Worte an: „von der Metaphysik könnte man dagegen sagen, sie sieht bestürzt, daß sie mit so vielem, als ihr die reine Mathematik darbietet, doch nur so wenig ausrichten kann.“ Aber er fügt mit Recht hinzu, daß das Wenige, doch etwas sei, was die Mathematik in ihrer Anwendung auf Naturwissenschaft unumgänglich braucht und von der Metaphysik borgen müsse, — und heute nach hundert Jahren erblicken wir bei dem ungeahnten Aufschwünge der erkenntnistheoretischen Studien in den exakten Wissenschaften die Philosophie mit Stolz und Freude als treue Verbündete stets an unserer Seite.
Letzte Änderung: 13.04.2010 Gabriele Dörflinger Kontakt
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