Die Mathematik — eine Geistes- oder Naturwissenschaft?

von Leo Koenigsberger in Heidelberg

Festrede in der Sitzung der Gesamtakademie am 24. April 1913
Heidelberg, 1913. - 15 S.
(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften : Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse : Abteilung A ; 1913, 8. Abh.)
Signatur UB Heidelberg: L 88-7


Hochansehnliche Versammlung!
Als vor 150 Jahren der hervorragende Mathematiker und Philosoph LAMBERT für die Einheitlichkeit allen menschlichen Wissens eintrat und sich zur Begründung seiner Ansicht ganz auf den Boden einer realen Raum- und Zeitwelt stellte, da war zu einer überzeugenden Darlegung einer derartigen philosophischen und psychologischen Weltanschauung nicht nur die Genialität geistiger Schaffenskraft erforderlich, sondern auch ein nicht geringes Selbstbewußtsein in der persönlichen Einschätzung einer umfassenden Übersicht über Form und Inhalt der verschiedensten Zweige menschlicher Erkenntnis. Und in der Tat, als LAMBERT, von FRIEDRICH DEM GROSSEN an die Berliner Akademie berufen in der ersten Audienz von diesem gefragt wurde, welche Wissenschaften er vorzüglich verstehe, antwortete er: „alle“, und auf die weitere Frage, wie er all dieses Wissen erlangt habe, erfolgte die stolze, wenn auch nicht ganz höfliche und bescheidene Antwort: „gleich dem berühmten PASCAL, durch mich selbst“. Aber der große König kannte die Schwächen auch genialer Menschen und gewährte dem tiefen Denker seine Gunst bis zu dessen Ende — wußte er doch, welche Verehrung LAMBERT bei den ersten Gelehrten seiner Zeit genoß. „Er halte ihn für das größte Genie Deutschlands“, schrieb KANT an LAMBERT, „und für den Mann, der am besten imstande sei, die Philosophie zu reformieren; keine Zeile wolle er in seinen Werken stehen lassen, die LAMBERT nicht klar und deutlich fände.“

Und doch mußte es LAMBERT noch erleben, daß KANT sehr bald seinen realistischen Standpunkt aufgab und schon in seiner Preisschrift der Berliner Akademie im Jahre 1763 nachwies, daß Philosophie und Mathematik in ihren Methoden nicht nur, sondern auch in der Evidenz ihrer Sätze völlig verschieden sind, da Metaphysik und Moral unzählige Urteile einschließen, welche, streng genommen, unerweislich seien. Seine Sonderung der kritischen von der praktischen Vernunft gab der Klassifikation der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften eine feste Basis und ermöglicht heute im Rückblick auf den während eines Jahrhunderts gewonnenen Zuwachs an menschlicher Erkenntnis auf den verschiedensten Gebieten des Wissens, Glaubens und Fühlens die Erörterung einer mir naheliegenden Frage, ob die Mathematik den Geistes- oder den Naturwissenschaften angehöre.

Aber wir wollen — durch das Beispiel LAMBERTS gewarnt — an diese Frage mit aller Vorsicht und Bescheidenheit herantreten, und zugleich eine Ansicht HARNACKS zu klären suchen, welcher er in den Worten Ausdruck gibt: „Der Begriff der Wissenschaft war damals (im achtzehnten Jahrhundert) noch nicht ein so loses Gefüge von Disziplinen, wie er es in unserem Jahrhundert geworden ist, sondern er schwebte als ein Ganzes vor Augen, und die Ausbildung einer neuen Form wissenschaftlicher Überlieferung und Mitteilung im Gegensatz zur scholastischen beschäftigte die höher Strebenden mindestens ebensosehr, wie die Sache selbst.“

Um eine feste Grundlage für unsere Betrachtungen zu gewinnen, welche zunächst die Geistes- und Naturwissenschaften in ihrer Allgemeinheit charakterisieren und sodann die Stelle bestimmen sollen, welche die Mathematik in der Gesamtheit aller dieser Wissenschaften einnimmt, müssen wir vor allem zum Verständnis der Genesis einer Wissenschaft die Beantwortung der Frage versuchen, wie kommt menschliche Erkenntnis überhaupt zustande, und wie bauen sich die so gewonnenen Erkenntnisse zu einer Wissenschaft auf?

Wir bekennen uns dabei von vornherein zu der Überzeugung, daß es für den Menschen apriorische Erkenntnisse nicht gibt, daß uns vielmehr die Natur mit geistigen Instrumenten ausgerüstet hat, den mannigfachen Erkenntnisvermögen, und mit festen, durch die Logik gegebenen Normen, nach denen jene zu gebrauchen sind, um Erkenntnisse zu erlangen. So bilden Raum und Zeit die Form der reinen Anschauung und des reinen Denkens, der kategorische Imperativ das Instrument der Ethik, die apriorische Anschauung des Schönen das Erkenntnisvermögen der Ästhetik u. a. mehr. Aber all' diese Instrumente des menschlichen Geistes sowie die Normen des Denkens, an sich leer und inhaltlos, können uns in Wirklichkeit Erkenntnis nur liefern, wenn wir uns auf den Boden der Erfahrung stellen, welche sinnlicher Wahrnehmung physischer Objekte oder innerer Beobachtung seelischer Vorgänge entspringt. Wie wir uns dieser äußeren und inneren Wahrnehmungen bewußt werden, das zu erkennen, ist dem Menschen versagt, und ebensowenig können wir vermöge des an sich leeren Schematismus des Denkens die Gesetze des Denkens selbst erforschen und die uns dafür verliehenen Normen ergründen wollen — die Erwägung all' dieser Fragen gehört nicht in das Gebiet des Wissens, sondern in das des Glaubens und Fühlens, in die Metaphysik.

Aber dessen sind wir uns stets bewußt, daß, um mit Hilfe der uns zu Gebote stehenden geistigen Instrumente und Normen Erkenntnisse zu gewinnen und diese in Handlungen physischer oder psychischer Natur zu betätigen, uns Kräfte verliehen sind, die wir willkürlich nach unserem freien Willen in Wirksamkeit treten lassen — vor allem Vernunft und Verstand. Während die Vernunft eine Erregbarkeit, an sich für unsere Erkenntnis leer und inhaltlos, durch äußere sinnliche oder innere geistige und seelische Affekte zur Tätigkeit anregbar und mittels des Gedächtnisses zur Synthesis der Erkenntnisse mit Hilfe der Gesetze des Denkens befähigt ist, wird der Verstand durch Abstraktion und Analyse die gewonnenen Erkenntnisse nach dem Unendlichen hin erweitern und in die primitivsten Anfänge hin verfolgen; er wird so das menschliche Wissen stetig in die unermeßlichen Tiefen des Raumes und der Zeit leiten, wo die für den Forschungstrieb des Menschen stets so verlockenden Gefilde der Metaphysik menschliches Wissen abwehren und nur Glauben und Fühlen gedeihen lassen. „Wo die Vernunft vorher nichts verbunden hat“, sagt KANT, „kann auch der Verstand nichts auflösen; daher ist Synthesis für das logische Verständnis des Erkennens notwendig das Erste, die Analysis von Bedeutung nur als deren reine Umkehrung.“ Wie und wann aber bei erfahrungsmäßigem Denken die Synthesis der Vernunft einsetzt, um uns Erkenntnisse zu liefern, das werden wir mit Hilfe von Vernunft und Verstand nie begreifen.

Ohne Erfahrung also, ohne bewußte Berührung mit der Außen- und Innenwelt gibt es für uns kein Wissen, keine Erkenntnis des Guten und Schönen, keine Einsicht in die Gesetze der physischen und geistigen Mächte.

Gestatten Sie mir, verehrte Anwesende, daß ich mich, um meinen weiteren Erörterungen und späteren Schlußfolgerungen eine größere Klarheit und Anschaulichkeit zu geben, einer Allegorie bediene, die von HELMHOLTZ in feinsinniger Weise gedichtet worden, als ihm wenige Tage nach dem großen Heidelberger Universitätsjubiläum in eben diesem Saale in der Festsitzung der ophthalmologischen Gesellschaft von DONDERS die erste GRAEFE-Medaille überreicht wurde. Bescheiden und würdevoll verglich er seine Verdienste um die Ophthalmologie durch die Erfindung des Augenspiegels mit denen des Schmiedes, welcher den ersten harten Meißel gefertigt, ohne den PHIDIAS seine Kunstwerke in Marmor nicht hätte schaffen können. Und wie hier die Freunde und Schüler GRAEFES ihn geehrt, so ließ er PRAXITELES, PAEONIOS u. a. das Andenken ihres Meisters PHIDIAS, welcher den Schmied stets als den Urheber seiner großen Erfolge gerühmt, dadurch feiern, daß sie in ihrer Bescheidenheit — „und bescheiden“, sagt HELMHOLTZ „sind alle hervorragenden Männer gerade in Beziehung auf das, worin sie anderen höchst überlegen sind“ — dem Schmied einen Kranz überreichten, zum Zeichen und Dank dafür, daß er am meisten für die Kunst der Bildnerei getan.

Bei dieser Allegorie wollen wir einen Augenblick verweilen: — PHIDIAS im Besitze jenes Meißels, so wie wir von der Natur ausgerüstet mit den verschiedenen geistigen Instrumenten, den apriorischen Erkenntnisvermögen, diese leer und inhaltlos, so wie jener Meißel an sich weder Form noch Inhalt schaffend. Dem Marmorblock gegenübergestellt, wie wir den Erscheinungen der Außen- und Innenwelt, wird er, wenn auch bereits im Besitze der aus der Erfahrung entnommenen Begriffe von Zahl und Gestalt den Meißel noch nicht dazu benutzen können, seine geniale künstlerische Begabung in sichtbaren Schöpfungen zu betätigen. Er wird sehr bald die Überzeugung gewinnen, daß er zunächst Einsicht erlangen muß in den richtigen Gebrauch seiner eigenen physischen Kräfte, um den Block nicht zu zerstören und für seine Zwecke unbrauchbar zu machen; er wird erkennen, daß der Erfolg seiner Arbeit wesentlich von der Farbe des Marmors, dessen Sprödigkeit und anderen Eigenschaften des Materials abhängt, und — wie es jeder Naturforscher in seinem eignen Wissensgebiete tut — so wird auch er die Richtigkeit seiner Beobachtungen durch neue Erfahrungen zu prüfen haben. Jetzt erst wird sich PHIDIAS die Frage aufdrängen, wie er den Meißel zu brauchen habe, damit die seinem Geiste vorschwebenden und in Marmor zu fertigenden Götter- und Menschengestalten die Gesetze der Schönheit befriedigen. Und so wie unsere geistigen Instrumente von Vernunft und Verstand nach den festen Normen des Denkens geleitet werden, so konnte nunmehr der Meißel des PHIDIAS, geführt durch die festen Normen ästhetischen Fühlens, mit denen die Natur den Künstler begnadet hat, jene Kunstwerke entstehen lassen, den Gesetzen der Schönheit folgend, die in der Seele ihres Schöpfers verborgen lagen und bewußt oder unbewußt in die Wirklichkeit traten.

So baut sich überall auf dem Boden der Erfahrung mittels der verschiedenen Erkenntnisvermögen und den festen Normen des Denkens und Fühlens Kunst und Wissenschaft auf.

„Das wahrnehmende Erkennen des entwickelten Bewußtseins“, sagt BENNO ERDMANN in seiner neuesten Arbeit: Erkennen und Verstehen, „vollzieht sich ausnahmslos unter der Mitwirkung von Gedächtnishilfen, die teils Gedächtnisresiduen früherer Wahrnehmungen sind, teils Vorstellungen darbieten, die aus den früheren Wahrnehmungen abgeleitet sind. Alle Wahrnehmungen des entwickelten Bewußtseins sind demgemäß Bestandteile der Erfahrung.“

Ob aber all' die geistigen Kräfte und Erkenntnisvermögen, wie Vernunft, Verstand, Gedächtnis und der freie Wille des Menschen, sowie das Gewissen, der kategorische oder energetische Imperativ und das anthropologische Prinzip von der Würde der Person auch in Wahrheit verschieden sind, wer vermag diese Frage zu beantworten ? — vielleicht entspringen sie alle einer gemeinsamen Wurzel, der höchsten physischen und geistigen Macht in der leblosen und lebendigen Natur. Die Erforschung der Einheitlichkeit unserer geistigen Kräfte und somit auch der Einheitlichkeit allen menschlichen Wissens und Fühlens bildet das wichtigste und schwierigste Problem aller Geistes- und Kulturwissenschaften und ist eng verknüpft mit der Frage nach dem charakteristischen Unterschied der Geistes- und Naturwissenschaften.

Als ich in einem Briefe an KUNO FISCHER im Jahre 1875 bei Gelegenheit seiner Prorektoratsrede „Über das Problem der menschlichen Freiheit“ eben jenen Gedanken Ausdruck gab, schrieb mir dieser ausgezeichnete Philosoph und Psychologe:

„Sie haben genau den Punkt bezeichnet, in den ich alles Gewicht gelegt haben wollte, die Reduktion (nicht die Lösung) des Problems auf die Frage des Gewissens. Ich wollte dem Determinismus in alle Wege folgen, die er mit Sicherheit geht, auf denen die ordinäre Freiheitslehre herumstolziert, ungeschickt und ohne Menschenkenntnis, ich wollte aber auch den Punkt bezeichnen, wo dem Determinismus mit seinen tiefsten Gedanken die Menschenkenntnis ausgeht; ich wünsche der menschlichen Natur adaequater geurteilt zu haben.“

Und in der ihm eignen Art, mit der er ihm unsympathische Anschauungen abwies, fügte er hinzu: „Ich wünsche mir darum nichts besseres, als die Anerkennung solcher Männer, die Natur haben; deren Urteil und Befriedigung gelten mir darum tausendmal mehr als das sogenannter Fachmänner. Die Natur ist kein Fach, oder sie ist wenigstens heutigen Tages nicht das Fach aller Philosophen.“

Auf Grund der nun entwickelten Auffassung unserer Beziehung zur Welt, als der Gesamtheit der Substanzen und Gedankendinge, werden wir die Erkenntnisse, welche nicht auf Wahrnehmungen und Erlebnissen äußerer oder innerer Natur sich aufbauen, in die Gebiete des Glaubens verweisen, in den Gebieten des Wissens dagegen Geistes- und Naturwissenschaften voneinander scheiden, je nachdem dieselben von innerer seelischer Erfahrung an idealen, immateriellen Objekten oder sinnlicher Wahrnehmung der außer uns liegenden Welt ausgehen. Zu den ersteren gehören die Logik und die rein spekulativen Teile der Ethik, der Ästhetik, der Sprachwissenschaften, der Geschichte, der Sozialwissenschaften und des Naturrechts, denen die Mathematik und all die einzelnen Disziplinen derjenigen Wissenschaften gegenüberstehen, deren Forschungsgebiet durch die verschiedenartigen Erscheinungen der äußeren Natur bestimmt wird. Aber so wie die materielle und geistige Natur ein Ganzes bildet, das sich nicht durch einen scharfen Schnitt in zwei wohldefinierte Teile zerlegen läßt, so wird auch die Trennung der verschiedenen Wissensgebiete ein beständiges Übergreifen der Wissenschaften ineinander nicht hindern, ja sogar unabweislich erfordern. Während diejenigen Teile der Geisteswissenschaften, welche auf dem Boden der Erfahrung an der äußeren Natur sich aufbauen, den Naturwissenschaften sich einordnen, werden die biologischen Disziplinen der Naturwissenschaften beständig auf Fragen geführt, zu deren Beantwortung die mechanistische Weltanschauung nicht ausreicht; es müssen vielmehr zum Verständnis der in der lebendigen Natur wirkenden Geistes- und Seelenkräfte die den Geisteswissenschaften zugesprochenen Erkenntnisvermögen zur Geltung gelangen.

So schließen sich in der Kette der Wissenschaften die Geistes- und Naturwissenschaften aneinander, und wie die Logik mit den uns von der Natur verliehenen festen Denkformen an der Spitze aller Wissenschaften steht, so darf die Mathematik, aufgebaut nur auf den Anschauungen von Raum und Zeit mit der geringsten Zahl von Axiomen, Postulaten und Hypothesen ihre Stelle als oberste und einfachste aller Naturwissenschaften beanspruchen — aber sie bleibt der Logik untergeordnet; WINDELBAND hat Recht, wenn er sagt: „es gibt keine Mathematik der Logik, wohl aber eine Logik der Mathematik.“

Die Logik als Wissenschaft kann uns jedoch neue Erkenntnisse nicht schaffen, da wir nur mit Hilfe unserer Vernunft die apriorischen Normen des Denkens im synthetischen Aufbau zu komplizierteren Denkgesetzen ausgestalten, aber mit unserem Verstande nicht durch Abstraktion und Analyse die Natur der Denkgesetze selbst ergründen können. Und so tritt uns die nicht ganz einfache Frage entgegen, ob uns denn die mathematische Wissenschaft mit neuen Erkenntnissen bereichert oder ob uns der Kalkül auch nur formale Umgestaltungen einfacher Wahrheiten liefert, die wir in ein mathematisches Gewand gekleidet haben.

Wenn BUFFON mit seinem Ausspruche Recht hätte: „il n'y a dans les mathématiques que ce que nous y avons mis“, dann wäre die Mathematik so wenig wie die Logik eine Kulturwissenschaft in dem Sinne, daß ihre Fortentwicklung unseren Gesichtskreis erweitert für die großen Probleme einer philosophischen Weltanschauung und für das lebendige Auffassen der mannigfachen und vielgestaltigen Rätsel, welche die Natur der menschlichen Anschauung und Erkenntnis darbietet. In der Tat war dies die Meinung GOETHES, welcher, den mathematischen Abstraktionen anschauungsloser Begriffe abhold, der Mathematik nur eine formale Bedeutung zuerkennen und ihr jede Befähigung absprechen wollte, ein tieferes Eindringen in die Gesetze der Natur zu ermöglichen; „die Natur müsse ihre Geheimnisse selbst darlegen, da sie die durchsichtigste Darstellung ihres idealen Inhaltes sei.“

Von größerer Bedeutung ist dagegen der Ausspruch des ausgezeichneten Mathematikers POINSOT in seinem Mémoire: Sur la théorie et détermination de l'équateur du système solaire:

„Der Kalkül ist ein Instrument, welches nichts durch sich selbst hervorbringt und gewissermaßen nur die Gedanken wiedergibt, die man ihm anvertraut. Wenn wir nur unvollkommene Begriffe besitzen oder wenn unser Geist eine Frage nur unter einem beschränkten Gesichtspunkte betrachtet, so werden uns weder die Analysis noch der Kalkül größere Klarheit bringen, und sie werden unseren Resultaten nicht größere Sicherheit und Ausdehnung verleihen. Es läßt sich im Gegenteil behaupten, daß diese Kunst, falsche und vage Ideen zu verwirklichen, nur geeignet ist, die Irrtümer dadurch, daß man ihnen eine Art von Festigkeit gibt, dauerhafter zu machen.“

Auf diese Anschauung POINSOTS kam CHEVREUL im Jahre 1870 in seinem Werke: „De la méthode à posteriori expérimentale“ wieder zurück und veranlaßte den bedeutendsten französischen Mathematiker aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts CHARLES HERMITE, zu dieser Auffassung der mathematischen Wissenschaft Stellung zu nehmen. HERMITE will nun die Behauptung POINSOTS mit dessen eigenen Worten widerlegen, wonach wir, die wir an Raum und Zeit gebannt sind, zwar Linien und Winkel messen und die Zeit zählen können, jedoch Massen- und Trägheitsmomente von Körpern zu messen außerstande sind, weil diese nicht nur von den sichtbaren Dimensionen, sondern von der Materie der Körper und ihrer Dichtigkeit abhängen, welche uns völlig unbekannt sind. „Wenn sich aber“, führt POINSOT in scheinbarem Widerspruch hierzu in seiner Arbeit weiter aus, „Körper nach irgend einem Gesetze anziehen, so genügt es, die Entfernungen und Bewegungen dieser Körper zu beobachten, um die Verhältnisse zwischen ihren Maßen und Trägheitsmomenten zu entdecken, indem man nur die Beobachtungen in so vielen Epochen zu wiederholen hat, als die für die Bestimmung notwendigen Gleichungen Unbekannte liefern.“

„Ist es möglich“, fragt HERMITE, „ein schlagenderes Beispiel einer Untersuchung zu ersinnen, welche unter einem beschränkten Gesichtspunkte betrachtet die Macht des Kalküls und der reinen Analysis für die Vertiefung unserer Einsicht und Erkenntnis deutlicher zeigt? Die ganze Wissenschaft scheint mir ein Protest gegen die Behauptung POINSOTS zu sein.“

Dieser Teil der Widerlegung trifft jedoch zunächst noch nicht den Kern der Behauptung POINSOT's, der offenbar einen charakteristischen Unterschied zwischen der reinen Mathematik und der theoretischen Naturwissenschaft festlegen wollte, und ebensowenig konnte die in feinsinniger Weise von CHEVREUL formulierte Klassifikation der Mathematiker in géomètres inventeurs und géomètres médiocres die Behauptung POINSOT's, soweit sie die reine abstrakte Mathematik betrifft, entkräften — wenn wir auch CHEVREUL wohl werden beistimmen müssen, daß häufig Hypothesen, die von großen Forschern bewußt oder unbewußt zum Aufbau zahlentheoretischer oder analytischer Gebilde verwendet werden, erst durch die Analyse dieser Beziehungen klar erkannt und wir so zur Erweiterung unserer rein mathematischen Erkenntnisse geführt werden

Aber nun wendet sich HERMITE in überaus geistvollen Gedankengängen auch direkt gegen die Anschauung, daß durch Rechnung neue Erkenntnisse nicht gewonnen werden können.

„Besteht doch die Analysis“, sagt er, „nicht nur aus einem Ensemble von Übereinkommen, und ist doch die Rechnung keine Wissenschaft von Bezeichnungen; denn man muß in der Analysis das, was Objekt des Kalküls ist, von den Methoden und Resultaten unterscheiden, welche sie liefert — so wie in der Chemie, Physiologie und den beschreibenden Naturwissenschaften die toten oder lebendigen Körper, welche diese zu Objekten ihrer Studien wählen, ohne sie zu schaffen, zu unterscheiden sind von den Forschungsmethoden und deren Resultaten. Die Gegenstände des Kalküls erscheinen zuerst nicht mit der objektiven Realität der Mineralien und Tiere, aber die ganzen Zahlen, zum Beispiel, erscheinen nicht weniger unabhängig von jeder willkürlichen Konvention. Wir können aber zwischen den beiden Erkenntnisarten den notwendigen und fundamentalen Unterschied feststellen, daß die verschiedenen Größen, welche den Gegenstand der Mathematik bilden, mit einer Definition eingeführt werden, welche sie vollständig und absolut charakterisiert, während man nicht behaupten kann, auf eine solche Weise die Attribute eines Phänomens zu kennen, welches sich auf ein konkretes Wesen bezieht.“

In Wirklichkeit liefert also die Mathematik Erkenntnisse und ist in dem früher angegebenen Sinne eine Naturwissenschaft, für welche Raum und Zeit die einzigen Anschauungsformen bilden zur Ordnung der räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeiten der Erscheinungen. Sie gibt den Begriffen Zahl, Gestalt und Dauer ihre Entstehung, und auf diesen baut sich mit Hilfe von Definitionen und den Hypothesen des Unendlichen und der Stetigkeit mit ihren Axiomen und Postulaten die gesamte mathematische Wissenschaft auf.

Vor mehr als 30 Jahren charakterisierte ich, noch ohne Kenntnis des CHEVREUL'schen Werkes, in einem Briefwechsel mit HERMITE in ähnlicher Weise die Mathematik als eine Naturwissenschaft und begründete die Behauptung, daß es für uns apriorische Erkenntnisse ohne Erfahrung überhaupt nicht gebe, da wir sonst zu einer Philosophie gelangten, die, vom Irdischen befreit, nur für eine überirdische Welt gälte, worauf mir dieser erwiderte:

„Le sentiment exprimé dans ce passage de votre dernière lettre, où vous me dites: à plus je réfléchis sur toutes ces choses, plus je reconnais que les mathématiques forment une science expérimentale, aussi bien que toutes les autres sciences“, et dans cet autre passage: „il me semble, que la tâche principale, actuellement de même que pour l'histoire naturelle descriptive consiste à amasser le plus possible de matériaux et à découvrir des principes en classant et décrivant ces matériaux — ce sentiment, dis-je, est aussi le mien, et sous une forme simple et précise vous avez résumé à l'égard des mathématiques l'intime et profonde conviction de toute ma vie de géomètre.“

Aber HERMITE geht weiter, und wenn er es auch nicht ausdrücklich hervorhebt, so reklamiert er die Mathematik doch mit Recht auch als eine Geisteswissenschaft.

„Je crois donc“, so schließt er seine briefliche Mitteilung, „que l'Analyse la plus abstraite est en grande partie une science d'observations, j'assimile absolument le complexe des notions connues et à connaître dans ce domaine de l'Analyse, à celles des sciences naturelles, les notions de l'Analyse ayant leur individualité propre, leurs figures, si je puis dire, et leurs corrélations multipliées, au môme degré que les animaux et les plantes. J'ajoute, que ces notions de l'Analyse ont en dehors de nous leur existence, qu'elles constituent un ensemble dont une partie seulement nous est révelée, mystérieusement mais incontestablement associé à cet autre ensemble de choses que nous percevons par la voie des sens.“

Aber eine Naturwissenschaft, deren Objekte die Zahlen, absolut geistige, von der physischen Natur völlig losgelöste Individuen sind, ein Erforschungs- und Erkenntnisgebiet rein idealer Gestalten dürfen wir in der Tat mit demselben Rechte eine Geisteswissenschaft nennen wie die Ethik und Ästhetik, ohne deshalb mit KANT anzunehmen, daß die Mathematik in eignen, aus der Vernunft entnommenen Gesetzen erst die Grundlagen der Erfahrung schaffe, selbst aber von der Erfahrung unabhängig sei. Die Mathematik geht vielmehr von der Erfahrung aus, baut aber sodann vermöge unserer geistigen Kräfte ein System von apriorischen, von der Erfahrung völlig unabhängigen Urteilen auf und trägt so vermöge jenes Ausgangspunktes die Gültigkeit ihrer Urteile in sich.

Vielleicht werden alle diese Überlegungen es nicht unberechtigt erscheinen lassen, für die Mathematik das Bürgerrecht im Reiche der Geistes- und Kulturwissenschaften zu beanspruchen — sie ist in eminentem Sinne eine philosophische Wissenschaft, aber sie ist auch eine Sprachwissenschaft mit allen Schönheiten der Form und der Tiefe der Gedanken, die freilich nur der erkennen und fühlen kann, der die Sprache versteht; ein Lexikon für die Werke von EULER oder GAUSS würde, kulturwissenschaftlich betrachtet, nicht zurückstehen gegen ein solches der Schriften von PLAUTUS und TERENZ.

Mit Recht sagt HENRI POINCARÉ in seinem letzten Vortrage, den er im vorigen Jahre in Wien gehalten:

„Dichter, die diesen Namen verdienen, sind stets feine Beobachter, sie haben Menschenkenntnis. Und wie notwendig ist es für den wissenschaftlichen Forscher, in jedem Gebiete in Menschenseelen zu lesen! Auch glaube man ja nicht, daß die wissenschaftliche Tätigkeit eine rein logische ist. Der Mann der Wissenschaft muß auch die Gabe der Intuition besitzen, er muß erraten können. Diese seelischen Qualitäten werden durch literarische und speziell durch klassische Studien gefördert, geschärft und zur Reife gebracht. Das ist der praktische, methodologische Nutzen dieser Studien. Der Mathematiker muß Humanist sein.“

Und so will auch die Mathematik als ebenbürtig von den Humanisten geachtet sein; sie liefert als Geistes- und Naturwissenschaft den Beweis dafür, daß das scheinbar lose Gefüge all der Einzelwissenschaften an einen festen Faden geknüpft ist, welcher den großen Gedanken von der Einheitlichkeit aller Wissenschaften repräsentiert. Von diesem Einheitsgedanken geleitet und von der Gemeinsamkeit in der Anwendung des Prinzips der kritischen Forschung auf allen Wissensgebieten überzeugt wollte LEIBNIZ die Berliner Akademie bestimmen, eine große Enzyklopädie alles Wissenswürdigen, oder Logarithmentafeln aller Wissenschaften anzufertigen.

Verehrte Anwesende! Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß durch die Tradition geheiligte Anschauungen schwer durch abstrakte Argumente zu erschüttern sind — denn das bloße Denken ist nicht, wie KANT meinte, die Quelle des Seins — und so wird auch meine schwache Stimme ungehört verhallen, wenn ich die Vertreter der Geistes- und Kulturwissenschaften in unserer Gelehrtenwelt in aller Bescheidenheit bitte, der Mathematik einen Platz in ihrer Mitte einzuräumen — auch ihre Wissensgebiete können nicht ganz der Erfahrung entbehren.

Möge diese Bitte eine Unterstützung finden in einem charakteristischen Ausspruche FRIEDRICH DES GROSSEN, dessen Wertschätzung und Entgegenkommen gegen jegliche Art geistigen Schaffens ich schon am Beginn meines Vortrages zu rühmen hatte. Nachdem sich der König lange gegen den Wunsch MAUPERTUIS' gesträubt, den Prinzen RADZIWILL in die Akademie aufnehmen zulassen — „da darf kein Fürst und kein Mönch hinein“ —, mußte er doch endlich dem wiederholten Drängen hervorragender Akademiker nachgeben, und der große Psychologe tat dies resigniert mit den Worten:

„Diese Menschen dienen als Schönheitspflästerchen für solche, welche nicht so unbedeutend sind wie sie; bei der Königin von Polen erinnere ich mich, eine Negerin gesehen zu haben, ein afrikanisches Monstrum, und ich kann nicht leugnen, an ihrer Seite nahm sich die Königin weniger abschreckend aus.“

Lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen, daß unsere dunkle Farbe allmählich verblassen, daß die Negerin ihre Menschenrechte geltend machen wird, und daß die Mathematik als gleichberechtigtes Glied im großen Reiche der Geisteswissenschaften sich wird betätigen können.

Als vor hundert Jahren Egoismus und Ehrgeiz, getragen von höchster Genialität und unermeßlicher Tatkraft den Unterschied zwischen den Nationen zu verwischen und die Selbständigkeit und Freiheit der Völker zu vernichten sich erkühnte, da schufen, fern von dem Toben des Krieges und unbekümmert um das durch unerhörte kriegerische Triumphe berauschte Volk, die großen französischen Philosophen und Mathematiker ihre unsterblichen Werke, die Grundlagen unserer heutigen Wissenschaft. Und als das deutsche Volk sich erhob zur Wiedererkämpfung der ihm ureigensten Rechte der Existenz und Freiheit, und ganz Deutschland in ein Kriegs- und Siegeslager verwandelte, da waren es GOETHE, der Fürst im Reiche der Geisteswissenschaften, und GAUSS, der princeps mathematicorum, welche die Stürme draußen von sich abwehrend das Wiedererwachen des geistigen Lebens in Deutschland vorbereiteten und im Verein mit WILHELM v. HUMBOLDT und anderen weitblickenden und genialen Männern auf dem von LEIBNIZ, EULER und KANT geebneten Boden die unvergänglichen Fundamente legten sowohl für einen philosophischen und doch dem Leben angepaßten Aufbau der Ethik und Ästhetik, als auch für eine mächtige Fortentwicklung der Mathematik und Naturwissenschaften, die sie in staunenswerter Weise förderten. Auch deren Aufruf an die Gebildeten der deutschen Nation verhallte nicht ungehört, und es wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte eine Brücke des Geistes geschlagen zwischen all' den Nationen, verschieden in Sprache, Sitten und Gebräuchen — ein Fortschritt ohne gleichen in Kunst und Wissenschaft entrollt sich vor unserm Auge im Rückblick auf das neunzehnte Jahrhundert. Und so dürfte es wohl auch nicht vermessen erscheinen, heute die Hoffnung auszusprechen, daß, wie die Nationen mit Recht ihre Eigenart bewahren und ihre individuelle materielle und geistige Fortentwicklung pflegen, während sie alle durch das gemeinsame Band, die Kulturentwicklung der gesamten Menschheit, miteinander zusammenhängen, so auch das Charakteristische in den Gebilden der Einzelwissenschaften fortbestehen, ja sogar sich vertiefen wird, daß aber eine Trennung in Geistes- und Naturwissenschaften, wie eine Sonderung von Geist und Natur überhaupt, immer mehr verschwinden, und in dem Individuellen all' der einzelnen Wissenschaften sich nur die verschiedenen Seiten einer großen und umfassenden Kulturwissenschaft offenbaren werden.


Letzte Änderung: 15.04.2010     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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