Petrus Ramus, Michael Stifel, Hieronymus Cardanus,

drei mathematische Charakterbilder aus dem 16. Jahrhundert.

 Vortrag, gehalten zu Bonn in der mathem.-astronom. Section der 33. Naturforscher-Versammlung.

Von Dr. M. Cantor, Docent an der Universität Heidelberg.

In der Geschichte jedes Volkes giebt es Zeiten, in welchen die Entwickelung desselben stille steht, ja einen scheinbaren oder wirklichen Rückgang macht. Dann aber, wenn nicht die ganze Kraft desselben erschöpft und sein Untergang nothwendig geworden, bringt ein einziger Schritt es wieder weiter, als die allmälige regelmässige Entwickelung es hätte fördern können. Solch mächtiges Aufraffen knüpft sich in der Regel an das Erscheinen einzelner hervorragender Männer, welche die gesammte geistige Macht der Zeiten des Stillstandes in sich vereinigt zu tragen seheinen, und dieselbe in eine Kraftentwickelung übertragen, welche allerdings nur dadurch möglich ist, dass jene Helden auf den Schultern ihrer Vorgänger stehen, wenn auch deren geringere Verdienste nicht mehr namentlich aufgezählt werden können, sondern nur in ihren Folgen sieh erhalten haben.

So verhält es sich im politischen, Leben der Völker, so auch in den einzelnen, Wissenschaften. Auch hier finden sich einzelne besonders Bevorzugte, welchen die Mit- und Nachwelt Entdeckungen zu verdanken hat von bedeutungsvollster Tragweite. Aber solche Männer treten dann nie am Anfange einer neuen geistigen Entwickelungsphase auf. Sie bilden deren Mittelpunkt oder gar deren Culminationspnnkt. Es findet deshalb die weitere Uebereinstimmung statt, dass es auch in der Geschichte der Wissenschaften meistens genügen wird, die Bilder jener verhältnissmässig wenigen von selbst hervortretenden Heroen schärfer in's Auge zu fassen, an ihnen die ganze damalige Zeit su studiren. So überliefert uns Archimed die Kenntnisse, bis zu denen die Griechen in der Mathematik gedrungen; so giebt uns Leonardo von Pisa einen tiefen Blick in das 12. und 13. Jahrhundert; So zeigen uns Leibnitz und Newton das bestimmte Hervortreten der vorher nur in Spuren erscheinenden höheren Mathematik.

In ganz ähnlicher Weise hat auch die Mathematik der Mitte des 16. Jahrhunderts sich im Wesentlichen in drei Männen concentrirt, den drei (Seite 354) Nationen angehörig, welche damals die mathematischen Studien pflegten. Und so werden wir über den Zustand unserer Wissenschaft überhaupt und namentlich über das Verhaltniss dieses Zustandcs bei den Franzosen, den Deutschen, den Italienern ziemlich ins Klare kommen, wenn wir uns nur die drei Charakterbilder vorhalten: Petrus Ramus, Michael Stifel, Hieronymus Cardanus. Lassen wir deren Leben in raschen Zügen unserer Erinnerung sich darstellen.

Pierre de la Ramée oder mit seinem wissenschaftliehen Namen Petrus Ramus Vermanduus wurde 1515 in dem Dörfchen Cuth bei Soissons in der Grafschaft Vermandois geboren. Seine Familie war arm, wenn auch adeligen Ursprunges. Sein Grossvater hatte bei der Eroberung von Lüttich, seiner Heimath, durch Karl den Kühnen 1468 sein ganzes Vermögen eingebüsst und musste als Kohlenbrenner sein späteres Leben fristen. Auch dessen Sohn Jacques erhob sich nicht weiter über den Stand eines Ackermannes und verband sich mit einer Frau gleichen Standes Jeanne Charpentier. Dieses waren die Eltern des Mannes, welcher berufen war, den ersten Feilstrich an die Ketten aristotelischer Philosophie zu legen, welche Frankreich fesselten. Seines Vaters früh beraubt, eines selbst armen mütterlichen Oheims Hülfe kaum empfindend, war der junge Ramus mit 12 Jahren auf seine eigene Kraft gewiesen. Nur seine physische Entwickelung, welche bei ihm der geistigen noch vorauseilte, machte es ihm, dem Kinde, möglich als Diener eines reichen Schülers des Collège de Navarre einen Lebensunterhalt zu finden, der es ihm erlaubte, in nächtlicher Arbeit sich den Inhalt der Vorlesungen anzueignen, welche er bei Tage im Gefolge seines jungen, Gebieters anhören durfte. So erlernte er die lateinische, später die griechische Sprache in seltener Vollkommenheit, so vertiefte er sich weit genug in das Studium der Philosophie, d. h. nach dem damaligen Gebrauche in das Studium des Aristoteles, um 1536 die merkwürdige These anschlagen zu können; Quaecumque ab Aristotele dicta essent commentitia esse. Mit dieser These warf er der ganzen herrschenden Schule den Fehdehandschuh hin, und die ruhmvoll durchgeführte Disputation war nur der erste von den Kämpfen, deren wechselnder Ausgang ihn bald an den höchsten Ehrenstellen erhob, bald in die Verbannung in die Fremde trieb, endlich seinen Tod zur Folge hatte.

In den letzten Jahren hat ein gelehrter Franzose dieses Ringen des Geistes und des eigenen Urtheils gegen den Unverstand und den Autoritätsglauben mit zu scharfer Feder beschrieben, als dass wir mehr thun könnten, als auf sein Werk verweisen. Charles Waddington (Ramus, sa vie, ses écrits et ses opinions. Paris, 1855) zeigt uns, wie Ramus sehr bald nach Erwerbung der Doctorwürde einen Lehrstuhl erhielt, den er zur mündlichen wie zur schriftlichen Verbreitung seiner Ansichten benutzte. In einem Processe, dessen wahrhaft scandalöse Führung uns mit Verachtung gegen die Richter, mit Unwillen gegen die Sieger Antoine von Govéa und (Seite 355) Pierre Galland erfüllt, wird Ramus als Verführer der Jugend verurtheilt, seine Schriften werden verbrannt, er selbst zum Stillschweigen genöthigt, während er den Galeren nur dnrch die Gnade Franz I. entgeht. Aber schon in demselben Jahre, 1545 wird Ramus wieder zu einem Lehrstuhle am Collège de Presles berufen, dem er von nun an mit dem grössten Beifalle vorsteht In dieser Stellung erwirbt er sich den gefährlichsten Feind an Charpentier, nur dem Namen nach mit seiner mütterlichen Familie verwandt, dem Rektor der Pariser Universität, dem Schüler von Pierre Galland, von dem früheren Gegner des jungen Kämpfers. Aber noch fruchteten diese Anfeindungen Nichts gegenüber der Gunst, in welcher Ramus bei dem mächtigen Cardinale von Lothringen stand, und so waren die Jahre von 1551 – 1561 nur Zeugen von immer neuen Triumphen des glänzenden Redners, des tiefen Philosophen, des scharfsinnigen Mathematikers. Denn in dieser Zeit neigte er sich zuerst dem Stadium der mathematischen Disciplinen hin, und begann jene Erklärungen des Euclid, welche ebenso zu einer scharfen Kritik wurden, wie seine Erklärung des Aristoteles fast in einer Widerlegung desselben bestand. Da zum Unglücke für seine übrigen Forschungen begann er seit der bekannten Disputation von Poissy (September 1561), in welcher Theodor von Bèze gegen den Cardinal von Lothringen die Lehren der Reformation vertheidlgtc, sich auch in theologische Streitigkeiten zu mischen. Die Hausandacht im Collège de Presles wurde immer weniger nach dem alten Ritus abgehalten; endlich bekannte sich Ramus öffentlich zu der neuen Lehre und verlor dadurch seinem früheren Gönner, der es von der Zeit an zuliess, dass ein Charpentier und Consorten ihn ihren Mäcen nennen durften. Beim Ausbruch der Bürgerkriege, welche Frankreich nicht weniger als Deutschland zerrissen, musste Ramus bald von Paris sich entfernen, wohin er nur auf kurze Zeit zurückkehrte, um 1568 es aufs Neue zu verlassen und unter dem Vorwande einer mit königlicher Erlaubniss im Interesse der Wissenschaften unternommenen Reise (Anm. 1) nach Deutschland zu flüchten. Vorher schrieb er noch sein Testament, welches namentlich einen Lehrstuhl der Mathematik mit dem für damals bedeutenden Jahresgehalte von 500 Livres stiftete, auf den wir gleich noch zurückzukommen haben.

Während seines Aufenthaltes in Deutschland verfasste er Scholarum mathematicarum libri usus et triginta. Basileae 1569, die bedeutenste seiner mathematischen Schriften, welche aber leider der Verfasser dieser Abhandlung sich nicht in der Originalausgabe verschaffen konnte, sondern nur in der von Lazarus Schoner besorgten Ausgabe, Francofurti ad Moenum 1627. Ausserdem wurden noch die gleichfalls in Basel geschriebenen und veröffentlichten Arithmeticae libri duo, geometriae septem et viginti. Basileae, 1569 benutzt. Es soll weiter unten auf Einzelheiten noch eingegangen werden; (Seite 356) hier mag nur eine Charakteristik des ersteren Werkes im Ganzen vorausgehen. Die schol. math. bestehen im Wesentlichen aus drei Theilen: aus einer kurzen Geschichte der Mathematik, welche als Einleitung an die Königin Katharina von Medicis gerichtet ist und sie anregen soll, das Studium der Mathematik unter ihren besonderen Schutz zu nehmen; aus Anmerkungen zu seiner eigenen Arithmetik; und aus Anmerkungen zu den Elementen des Euclid. Letztere sind grösstentheils kritischer und enthalten manchen scharfen Tadel, der in der allzupraktischen Geistesrichtung des Verfassers seine einzige Begründung findet. Manches hingegen ist so wahr und treffend, dass man die Verehrungnsowohl begreift, welche ihm seine Freunde zollten, als auch den bittern Hass, den seine Gegner ihm geschworen hatten.

So scheint Ramus zuerst auf das Unmethodische aufmerksam gemacht zu haben, wenn die Geometrie der Arithmetik vorausgehe (Anm. 2). So klagt er über den Fehler, Definitionen zusammenzustellen, bevor man sie braucht (Anm. 3). So spüricht er sich über das Ungenügende des damaligen philosophischen Unterrichtes überhaupt aus, wo die jungen Leute nur nugas quasdam sophisticas treiben und dann als Magister liberalium artium sich brüsten. Um auch seine weniger begründeten Einwendungen gegen Euklid anzuführen, sei bemerkt, dass Ramus die arithmetischen Bücher desselben als unpraktisch und unnöthig bezeichnet. Von dem schönen Satze der Unendlichkeit der Primzahlen heisst es, man könne nicht begreifen, warum er übehaupt bewiesen werde, da er vielmehr als Grundsatz und zwar als ein specieller Fall anzunehmen sei (Anm. 4). Das 10. Buch wird als confus, unklar, unbrauchbar bezeichnet (Anm. 5).

Am Interessantesten für den Historiker sind aber jedenfalls die drei Bücher der Einleitung, welche viel vortreffliches Material enthalten, und namentlich das Verhältniss zu den deutschen und italienischen Mathematikern derselben Zeit etwas aufklärt. Eine Stelle, welche nur auf die persönlichen Verhältnisse von Ramus Bezug hat, dürfte noch besonders zu erwähnen sein. Unter den Betrachtungen (Schol. math. p. 47), welche ihm der (Seite 357) Zustand der Astronomie einflösst, und in welchen, namentlich Copernicus, als astrologus non antiquis solum comparendus, sed in astrologia prorsus admirandus aufgeführt ist, spricht Ramus den Wunsch aus, es möchte doch irgend ein Gelehrter, vor Allem ein Gelehrter Deutschlands (e tot nobilius Germaniae scholis) auftreten, der fern von Hypothesen die Astronomie rein auf Thatsachen und Berechnungen zu gründen den Versuch machte. Wer Solches leiste, dem könne er, falls der unsterbliche Ruhm ihn nicht allein reitze, eine königliche Professur zu Paris als Lohn versprechen und, setzt er hinzu sponsionem hanc equidem libentissime vel nostrae professionis cessione praestabo. Es klingt fast komisch, wenn in dieser Weise der Flüchtling über seine eigene Professur zu verfügen scheint, und so dürfte vielleicht die Vermuthung Raum greifen, Ramus verstehe darunter die in seinem früher erwähnten Testamente errichtete Professur. Möglich ist allerdings auch die wörtliche Auffassung, da diese Einleitung als Prooemium mathemacticum ad Catharinam Medicaeam reginam schon zwei Jahre früher in Paris erschien, also in einer Periode, wo die Bürgerkriege und mit ihnen die Zeit persönlicher Gefahr für Ramus erst anbrachen.

Die gleichfalls obengenannte Arithmetik enthält nur die einfachste Anleitung zur Ausführung von Rechnungsoperationen ohne weiteres Verdienst, als dass sie zum Anknüpfungspunkt für die in den Scholis enthaltenen Bemerkungen dient.

Was die Ergebnisse des Ramus in Deutschland betrifft, so verfolgte ihn auch hier der Hass der aristotelischen Schule und verkümmerte ihm manchen schönen Erfolg, den er bei Unparteiischen sich erwarb. So wurde er in Strassburg zurückgewiesen, wo er um eine Lehrstelle am Gymnasium sich bemühte, so konnte er trotz seiner Anstellung von Seiten Friedrich III. von der Pfalz der widerstrebenden Facultät gegenüber sich auch in Heidelberg nicht halten. Die nähere Geschichte der Kämpfe, die er an diesem Orte an bestehen hatte, würde für den Zweck der gegenwärtigen Abhandlung zu weit abführen, dürfte indessen selbst Stoff genug zu einem späteren besonderen Aufsatze liefern, Im März 1570 verliess Ramus das ihm verleidete Heidelberg und begann eine weitere Rundreise durch die Kulturstädte von Süddeutschland. Frankfurt am Main, Nürnberg, Augsburg sahen ihn zu kürzerem oder längeren Aufenthalte. Dann durchreiste er Tyrol und die Schweiz und wartete in Genf, später durch eine Seuche vertrieben in Lausanne auf den-Frieden, der ihm die Heimkehr gestatten würde. Umsonst hatten ihm die Akademien von Bologna, von Krakau, von Weissenburg in Siebenbürgen die glänzendsten Anerbietungen gemacht. Er trat am 1. September 1570 die Heimreise an, oder wie der Geschichtsschreiber Franz I., wie Gaillard [Gabriel-Henri Gaillard, 1726–1806] sich ausdrückt: It revint se faire encore persécuter.

In der That warteten sein Enttäuschungen der bittersten Art. Seine Stelle als Principal des Collège de Presles; sowie seine Professur am Collège de France fand er beide an so unbekannte Menschen vergeben, dass nicht (Seite 358) einmal deren Name der Nachwelt verblieben ist. Man hatte dem Könige zu diesem Zwecke ein Decret abgedrungen, wonach von jedem Angestellten ein Glaubenseid des reinen Katholicismus verlangt wurde, und an der Spitze der Rathgeber des schwachen Monarchen stand der Cardinal von Lothringen, der frühere Gönner von Ramus. Umsonst wandte sich der ans seinem Besitze Vertriebene zweimal an den Cardinal; die Antwort war nur eine Veröffentlichung jenes Decretes vom 20, November, in welcher es hiess: „Que défenscs soient faites à toutes personnes de tenir esccholes, principautés et Collèges, ny lire en quelque art et science que ce soit en public, ny en privé en chambre s‘ils ne sont connus et approuvez catholiques, tenans la religion catholiquee et romaine.“ Du wandte sich Ramus brieflich nach Genf, wo man ihn noch vor Kurzem zu behalten wünschte. Auch von hier aus erhielt er von Theodor von Bèze, seinem Glaubensgenossen, welcher aber doch in einzelnen theologischen Punkten, sowie in den gesammten philosophischen Ansichten von ihm abwich, eines jener überhöflichen Schreiben, deren Schlussphrase „Uebrigens habe ich die Ehre, mit vorzüglicher Hochachtung u. s. w.“ genugsam beweist, dass man nicht blos ablehnt, sondern auch nicht weiter gebeten oder widerlegt sein will. Endlich schien wieder ein neuer Tag für Ramus zu beginnen, noeh einmal leuchtete ihm die Sonne des Glückes. Der Kanzler der Universität von Paris starb, und an seine Stelle trat der politische Cardinal von Bourbon. Dieser im Verein mit der Königin Katharina von Medicis, welche sich endlich ihres ehemaligen Schützlinges erinnerte, bewirkten zu Anfang 1571 bei dem Könige, dass Ramus nicht abgesetzt, sondern nur als in den Ruhestand versetzt erklärt wurde, wobei ihm sein Gehalt blieb, ja sogar erhöht wurde, und er das Recht bewahrte, seine Lehren, wenn auch nicht mehr mündlich, doch schriftlich zu verbreiten (Anm. 6). In dieser geschäftigen Ruhe lebte nun Ramus 1 1/2 Jahre bis zu jener Nacht, welche die Geschichtsschreiber Frankreichs nur zu gern aus ihren Blättern ausmerzen möchten, welche aber als die Nacht des St, Bartholemäus eine blutige Berühmtheit gewonnen hat. In dieser oder wahrscheinlicher noch in der darauf folgenden Nacht fiel Ramus, ein Opfer des von seinen Feinden gegen ihn aufgestachelten Pöbels, und mit lauter Stimme klagte die Mit- und Nachwelt Charpentier als geistigen Urheber des Mordes an. Ramus starb als Märtyrer der Freiheit des Denkens und die aristotelische Schule hat seine Würger gedungen. Die Beweise davon hat Waddington (p. 258–283) in überzeugendster Weise zusammengestellt.

Nachdem wir so versucht haben, die Hauptmomente ans dein Leben des Petrus Ramus hervorzuheben, für deren nähere Motivirung allerdings auf die schon häufiger citirte ausführliehe Biographie verwiesen werden muss, wollen wir aber seine Persönlichkeit und seinen Charakter nur noch (Seite 359) Weniges aus derselben Quelle mittheilen. Ramus soll ein stattlicher Mann sein, mit starkem Kopfe, schwarzem Haare; die breite Stinie wölbte sich hoch auf, und ein scharfer Blick sprühte aus den dunkeln Augen; die Nase war gebogen, der Mund fein geschnitten, mit einem leisen Zuge von Ironie. So beschreibt ihn wenigstens Waddington, und ebenso stellt ihn ein Bild, dar, welches auf der Rückseite des Titelblattes des Heidelberger Exemplares der Arithmetica aufgeklebt ist. Ein Bild, welches übrigens mit dem von Theodor de Bry verfertigten (Waddington p. 320) bis auf die Unterschrift völlig übereinstimmt. Letztere lautet nämlich bei dem uns vorliegenden Holzschnitte:

Labor omnia vincit.   Petrus Ramus anno acta L.V.
 MDLXX.  

Der Grundzug seines Charakters war eine ausnehmende Strenge gegen sich wie gegen Andere, welche einestheils in seinem mässigen Lebenswandel und seiner unermüdlichen Arbeitsthätigkcit sich aussprach, von der schon sein Wahlspruch Zeugniss ablegt, andererseits ihn in den Ruf eines streitsüchtigen, eigensinnigen Menschen brachte, und bei seinen Schülern ihm den Namen eines magistcr plagosus verschaffte. Trotzdem konnte er von hinreissender Liebenswürdigkeit sein, und seine Beredsamkeit fesselte selbst dieienigen, welche vom Anfange ihm abgeneigt waren. Den meisten Umgang hatte er, wenigstens in Paris, mit einigen Gelehrten, die zum Theile ältere Schüler von ihm waren, dann aber liebte er es auch, bei seinen täglichen Spaziergängen durch die rue St. Denis bei den Kaufleuten einzutreten und mit ihnen über Geschäftsführung und Rechenvortheile sich zu besprechen. Waddington, (p. 311) hat einzelne Stellen angeführt, die dieses bezeugen, Noch deutlicher spricht dafür des Ramus eigene Beschreibung eines solchen Spazierganges (Schol. Math. p. 62) und den bestimmtesten Aufschluss geben uns darüber die Kenntnisse aus der Arithmetik, welche er in demelben Werke mittheilt, und die Ansichten, welche or über andere Kapitel dieser Wissenschaft ausspricht.

Es dürfte hier der geeignete Ort sein, die versprochenen Einzelheiten einzuschieben, und so bemerken wir vor Allem wiederholt, dass es Ramus nur um die Praxis zn thun war; Sätze, welche keine unmittelbare Anwendung auf das Leben haben, schienen ihm eine unnnöthige Geistesplage; zahlentheoretische Untersuchungen in's Besondere hatten für ihn gar keinen Werth. Hingegen giebt er in den Scholis verschiedene Methoden der Multiplikation an, wovon, eine mit jener netzförmigen Indischen Methode übereinstimmt, welche Colebroocke, Algebra of the Hindus, p. 7, und nach ihm Bohlen, das alte Indien, Bd. II, S. 232 citirt, und welche die Araber unter dem Namen Shabacah kennen. Die betreffende Stelle (Schol. Math. p. 119 ) lautet: Mercatorum quidam libri speciem multiplicationis praeterea continent, abaco tot quadrangulis in triangula sectis longo, quot notae fuerint (S. 360) multiplicandi, lato autem quot fuerint multiplicantis, ubi colliguntur summae sequendo diagonios, ut hic vides:

Welche kaufmännischen Bücher übrigens als Quelle gemeint sind, ist schwer zu ergründen, da wohl, viele Werke der Art verloren gegangen sein dürften. Von denen, die uns in die Hände kamen, enthält kein einziges die angegebene Methode. Anders verhält es sich mit einer zweiten Multiplicationsmethode, oder vielmehr einem Kunstgriffe, dessen Wiederauftreten bei Autoren der verschiedensten Zeiten und Nationen zu Folgerungen berechtigen dürfte. Dieser Kunstgriff (Schol. math. p. 118) besteht in den Zeichen der neueren Buchstabenrechnung geschrieben (Anm. 7) in Folgendem. Es seien zwei Zahlen a, b mit einander zu multipliciren, welche beide zwischen 5 und 10 liegen. Bildet man alsdann das Product der beiden Differenzen (10-a) × (10-b), so hat man die Einer des wirklichen Productes, dessen Zehner man dann noch erhält, indem man 10-a von b abzieht. In der That ist: a × b = (10-a) ×(10-b) + 10.[b-(10-a)], 8.6 = 2.4 + 10.(6-2) = 48. Sind a und b Zahlen anderer Beschaffenheit, als in dem eben angegebenen Falle, so lassen sich leicht Modifikationen der Regel anbringen, welche immer darauf hinauslaufen, dass die Multiplication nur mit mit Zahlen zwischen 1 und 5 auszuführen ist, Ramus hat zu viel praktischen Sinn, um nicht einzusehen, dass diese Mittel weit entfernt davon sind, wirkliche Erleichterung zu gewähren, dass es vielmehr noch weniger Mühe kostet, das Einmaleins in seiner Vollständigkeit dem Gedächtnisse einzuprägen, als alle diese einzelnen Regeln. Er führt sie indessen doch an mit dem Zusatze: In tali multiplicatione digitorum author algorithmi demonstrati septem theoremata prolixa consumpsit.

So wäre die nächste Frage nach diesem author welcher überdies noch an anderen Stellen (z. B. Schol. math. p. 112) in solcher Art citirt wird, dass man sieht, wie Ramus ihm Vieles entlehnt. Wir haben uns weder das Werk selbst, noch näheren Aufschluss darüber verschaffen können. Dass natürlicherweise das erst 1599 erschienene Werk Schoner's dieses Titels nicht gemeint sein kann, braucht kaum erwähnt zu werden; ebensowenig scheint aber die Hypothese des Ramus selbst gerechtfertigt: Algorithmum ipsum (Seite 361) demonstratum probandum, eximium, exaratum maximi et doctissimi viri Regiomontani divina manu confirmant mathematici doctissimi (Schol. math. p. 117), indem der sonst sehr zuverlässige Doppelmayr(Nachrichten von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern. Nürnberg, 1730) dieses Buch weder unter den gedruckten Werken des Regiomontan, noch unter dessen Manuscripten erwähnt. Da indessen mathematici, doctissimi die Behauptung aufgestellt haben, so ist wenigstens anzunehmen, dass diese anonym erschienene Schrift aus den ersten Zeiten der Buchdruckerkunst datirt, indem Regiomontan 1475 starb.

Wir haben den auseinandergesetzten Kunstgriff erst etwas später gefunden, nämlich in der Margaritha philosophica von 1512, einem höchst merkwürdigen Sammelwerke, dessen wir schon in einem früheren Aufsatze in dieser Zeitschrift (Bd. I. S. 68) Erwähnung zn thun Gelegenheit hatten. Von da ab scheint der Kunstgriff in Deutschland bekannt geblieben zu sein; wenigstens findet er sich noch in der Arithmetica integra von Michael Stifel, welche noch einer genaueren Besprechung unterworfen werden wird und in der von Pelletarius in Paris 1550 herausgegebenen Arithmeticae practicae methodus facilis per Gemmam Frisium medicum ac mathematicum in quatuor partes divisa. So unwichtig der Kunstgriff an sich ist, so suchen wir vielleicht mit Recht gerade deshalb in seiner Verbreitung den Beweis eines schulmässigen Zusammenhanges zwischen den Schriftstellern, bei denen er sich findet, indem es nicht wahrscheinlich ist, dass ein so unpraktischer Gedanke in vielen Köpfen gleichzeitig entstanden sein sollte. Bei grossen Entdeckungen pflegt dieses mitunter der Fall zu sein; bei Unbedeutendem wird wohl sicherer eine Uebertragang anzunehmen sein; und wie die neuere Archäologie sich mehr und mehr an einzelne Ornamente halt, welche stylmässig geworden die Fortpflanzung der Kunst und deren Entwicklung von Volk zu Volk nachweisen, so dürfte es in der Geschichte der Mathematik gerathen sein, das Augenmerk auf einzelne Rechenvortheile zu richten, welche schulmässig auftretend, sich von Autor zu Autor verfolgen lassen müssen. Es scheint uns deshalb ganz besonders bemerkenswerth, dass dieselbe Multiplicatiosmethode, die den Gegenstand der bisherigen Betrachtungen bildete, sich auch in einem persischen Sammelwerke der Arithmetik wiederfindet, welches Strachey, On the early history of algebra (Asiatic researches Vol. 12, London 1818) näher beschrieben hat. Wir meinen den Khilâsat-al-Hisâb (Essenz der Rechenkunst) des Bahá-ul-Din (1575 bis 1653), bei welchem die Uebereinstimmung mit dem Algorithmus demonstratus so weit geht, dass der Kunstgriff gleichfalls in sieben Regeln gelehrt wird. Eine weitere Uebereinstimmung zwischen beiden besteht noch darin, dass unter den Rechnungsarten die duplicatio und dimidiatio besoders aufgezählt werden, welches sonst bei europäischen Werken nicht durchgehends der Fall ist. Auch die Definition des Muiltiplicirens ist bei Bahá-ul-Din wörtlich dieselbe wie in den Scholis, wo sie dem Algorithmus demonstratus (Seite 362) entnommen sein dürfte. Jene lautet in Strachey's Uebersetzung: Multiplication is finding a number such, that the ratio, which one of the factors bears in it, shall be the same as that, which unity bears to the other factor. Bei Ramus heisst es: ut unitas ad multiplicantem, sic multiplicandus ad factum (Schol. math. p. 118), während bei Stifel der Uebergang zu der späteren, weniger allgemeinen Definition sieh zeigt, wonach bei der Multiplication eine Zahl so oft genommen werden soll, als eine andere angiebt: Multiplicatio est inventio numeri continentis multiplicandum quoties multiplicans continet unitatem.

Es wird durch die Vereinigung dieser Punkte wahrscheinlich, erstens dass Ramus einen Theil seiner arithmetischen Kenntnisse dem Umgange mit Kaufleuten und der Lectüre kaufmännischer Bücher verdankte; zweitens, dass er sich namentlich an deutschen Mustern, insbesondere an einem wenig bekannten Werke, Algorithmus demonstratus, bildete; drittens, dass letzteres Werk selbst auf arabische, oder allgemeiner gesagt, auf orientalische Quellen zurückweist, welche in ihrer Entwickelung auf vaterländischem Boden eine fast wörtliche Uebereinstimmang mit den europäischen Uebertragangen zeigen.

Für den zweiten Punkt spricht auch noch die grosse Verehrung, welche Ramus bei jeder Gelegenheit gegen die deutschen Mathematiker an den Tag legt, wovon wir schon oben Gelegenheit hatten, eine Probe anzuführen (Anm. 8). Den Ursprung deutscher Mathematik aber verlegt Ramus nach Wien, wohin sie Henricus Hassianus um 1390 eingebürgert habe. Wenn nun auch Untersungen über diesen Theologen und Mathematiker von grossem Interesse wären, so müssen wir doch diese Abschweifung uns für jetzt versagen, und fügen nur die Bemerkung hinzu, dass gütige Mittheilungen des Herrn Directors der Sternwarte C. von Littrow in Wien und des Herrn Professor Schell in Marburg uns in den Stand setzen, diese Forschungen mit wahrscheinlichem Erfolge weiter zu führen. Wenn nun Ramus die deutschen Mathematiker so hoch stellt, und namentlich das Auftreten mathematischer Schulen als einen Gegensatz gegen andere Völker hervorhebt, bei denen diese Beschäftigung nur Nebensache sei (Anm. 9), so drängt sich mehr und mehr die Frage nach dem Zustande der deutschen Wissenschaft in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf, eine Frage, deren Beantwortung wir erhalten werden, wenn wir als zweites Bild uns Michael Stifel von Esslingen vorführen.


Anmerkungen:

  1. Impetravi ab humanissimo rege annuae ad Europae nobiles academias peregrinationis tamquam legationen liberam. (Ramus, Arithmetica. Vorrede pag. 2.)
  2. Euclides geometriam natura posteriorem parte quadam proponit, arithmeticam natura priorem postponit. (Schol. math. p. 97.)
  3. Neque enim natura initio sylvae omnium arborum radices praeposuit, nec architectus initio civitatis omnium aedificiorum fundamenta collocavit, sed suis arboribus suas radices natura, suis aedificiis sua fundamenta architectura subjecit. Itaque debuerat Euclides definitionem trianguli triangulorum, multanguli multangulorum doctrinae praeponere; eamque viam in coeleris principiis servare. (Schol. math. p. 98.)
  4. Specialis est, quam de omni specie numeri imo numerationis sit id verum. Additionis per 1, 2, 3 species infinitae sunt, sic subductionis, multiplicationis, divisionis. Sic numeri compositi, impares, pares, imperfecti, perfecti plures sunt omni proposita multitudine. Quare postulandum id fuit generaliter numerum infinite crescere, non autem specialiter demonstrandum (Schol. math. p. 250).
  5. Nulla pars geometriae (si tamen in vero geometriae usu locum ullum acumina ista habitura sunt) inutilior, nulla tamen praeceptis et theorematis cumulatior ..... Equidem toto decimo libro studiose et accurate considerato nihil alius judicare potui, quam crucem in eo fixama esse, quae generosae mentes cruciarentur (Schol. math. p. 252).
  6. Décharge à Pierre de la Ramée, professeur du roi en éloquence, de sa lecture ordinaire qu'il est tenu faire, sans préjudice de ses gages et droits (Mémorial da la chambre des conmptes; Waddington , p. 233).
  7. Wir wollen ein für alle Mal bemerken, dass im ganzen Verlauf dieser Abhandlung die neueren Schreibweisen nur zur bequemeren Verständni benutzt werden; nicht als ob die betreffenden Autoren sie schon gekannt hätten.
  8. Noch lobender klingt der Satz: Quum itaque de mundi nobilibus scholis studiose mortales omnes, qui alicunde peregre ad nos rediissent, percunctarer nulla in gente tam multas mathematici studii scholas comperiebam publicis stipendiis ornatas quam in Germania
  9. (Schol. math.. p. 60).
  10. Arithmetica non numerorum potius quam nummorum non in Italia modo, sed in Gallia, Britannia et reliqua Europa, credo etiam in Asia et Africa Italorm trapezitarum munibus exercetur (Schol. math. p. 101).


Quelle: Zeitschrift für Mathematik und Physik / Literaturzeitung. — Bd. 2 (1857). — S. 353–362 (Abschnitt Petrus Ramus)


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