Petrus Ramus, ein wissenschaftlicher Märtyrer des sechzehnten Jahrhunderts.

von Moritz Cantor

Das wissenschaftliche Material des hier abgedruckten Aufsatzes (im Wesentlichen eines im Winter 1864/65 im Museum in Heidelberg gehaltenen Vortrages) findet sich theils in dem Buche von Charles Waddington: Ramus, sa vie, ses écrits et ses opinions, Paris 1855, theils in den Abhandlungen: „Drei mathematische Charakterbilder“ und „Ramus in Heidelberg“, welche ich in der Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. II und III veröffentlicht habe.

Wenn ein Erzähler seine Erzählung mit einer Frage an den Leser beginnt, so ist das wohl immer ein Zeichen, daß er mit aller Bestimmtheit eine bejahende Antwort auf diese Frage erwartet. In diesem Sinne könnte auch der Verfasser dieser Sätze die Frage richten, ob der Leser wohl schon in Heidelberg war. Unsere schöne Neckarstadt wird allsommerlich von so vielen Reisenden besucht, es haben so viele jetzt in Amt und Würde stehende Persönlichkeiten dort einen Theil ihrer Studienzeit verlebt, daß gewiß recht viele Leser und Leserinnen sich der lang hingestreckten Häuseransammlung aus eigener Anschauung erinnern, welche zwischen Neckarfluß und Gaisberg sich hinziehend, dem Namen „Alt-Heideberg, du feine“ kaum mehr entspricht, sondern sich alle Mühe giebt, zu einer modernen Stadt und zwar zu einer recht hübschen Stadt mit schönen Läden, riesigen Spiegelfenstern und eleganten Gasthöfen sich auszubilden. Das Heidelberg des Jahres 1569 sah anders aus. Noch war das Schloß nicht zerstört und verödet, aber auch noch war der größte Theil des modernen Heidelberg nicht vorhanden. Die Stadt schloß sich gegen Westen mit dem Stadtgraben ab, der jetzigen sogenannten Grabengasse oder, wie sie wohl bekannter ist, mit der Westseite des gegenwärtigen Universitätsplatzes. Wo heute das Universitätsgebäude steht, war damals das Dionysiarum, eine Art Universitätswohngebäude für Lehrer und Studenten. Die Hörsäle befanden sich zerstreut (Seite 130) in der Stadt umher. Der größte war in der sogenannten „alten Börse“, wo jetzt die katholische Decanei sich befindet.

Am 14. Dezember des genannten Jahres kurz vor zwölf Uhr wälzte sich ein Strom von Angehörigen verschiedener Nationalitäten in großer Erregung nach jenem Hörsaale. Vive Ramus! Eviva Ramo! schreit es in französischer und itealienischer Sprache. Nieder mit Ramus, es leben unsere Gerechtsamen! brüllen deutsche Stimmen dazwischen. Ruhe im Namen des Kurfürsten! gebieten die Pedelle. Einen Augenblilck lang schweigt der Tumult, dann beginnt er auf's Neue mit Stampfen und Pfeifen und Brüllen und nur mit Mühe vermag ein stattlicher Mann von kräftigem Körperbau, gekleidet in den dunkeln Talar der Professoren aus der philosophischen Fakultät, sich eine Bahn zu brechen zwischen den Streitenden hindurch. Er gelangt bis an das Katheder. Die Stufen, welche hinaufführen, sind böswilligerweise entfernt. Nur von den Armen seiner Anhänger getragen kann er hinauf gelangen. Jetzt endlich steht er oben. Schwarzes, kurzgeschnittenes Haar bedeckt den fast übermäßig starken Kopf. Die breite Stirn wölbt sich hoch auf und ein scharfer Blick sprüht aus den dunkeln Augen. Die Nase ist adlermäßig gebogen, der Mund fein geschnitten, mit einem leisen Zug von Ironie. So zeigt ihn wenigstens ein Bild, welches in dem Besitze der hiesigen Universitätsbibliothek sich befindet. Nun spricht er. Seine Donnerstimme durchdringt den Lärm und verschafft ihm Gehör. In einem Latein und mit einer Beredsamkeit, welche er dem Manne abgeborgt zu haben scheint, von welchem er spricht, schildert er das Leben Cicero's. Er zeigt in ihm den Römer, den Staatsmann, den Beherrscher der Tribüne. Er geht über zu den charakteristischen Merkmalen Ciceronischer Reden, er schließt mit Betrachtungen über die Rede für Marcellus, deren genaue Betrachtung den Inhalt seiner künftigen Vorlesungen bilden soll. Und nun macht die pietätvolle Stille, die während des Vortrags eingetreten war, einem in den Hallen des Universitätsgebäudes noch nie vorgekommenen Jubel Platz. Diejenigen, welche Ramus vorher am Sprechen hindern wollten, wetteifern in lautem Beifalle mit denen, welche schon vorher seinen Talenten huldigten.

Wer war nun der Mann, von dessen erstem öffentlichen Auftreten in Heidelberg ich soeben erzählt habe? Was war sein Ursprung, was seine ferneren Schicksale, und vor Allem welche Idee war es, die in dem seltenen Manne sich verkörperte? Damit will ich Sie, verehrte Leser, in diesen Blättern bekannt machen.

Die Familie der De la Ramée oder, wie wir den Namen etwa verdeutschen könnten, derer vom Zweige, war eine alte Adelsfamilie aus Lüttich. Doch als diese Stadt 1468 durch Karl den Kühnen erobert wurde, als die Häupter der nationalen Partei zu blutiger Rechenschaft gezogen wurden, da floh der stark betheiligte Inhaber jenes Namens mit Zurücklassung seines ganzen Vermögens nach der Picardie und der einstige Besitzer eines reichen Erbtheils mußte die letzten Jahre seines Lebens kümmerlich als Kohlenbrenner fristen. Auch dessen Sohn Jacques de la Ramée, konnte sich nicht wieder über den Stand eines Ackermannes erheben und seine Heirath mit der Tochter eines einfachen Bauern in dem Dörfchen Cuth bei Soissons in der damaligen Grafschaft Vermandois gab keineswegs der Hoffnung Raum, der alte Glanz der Familie werde je wieder hergestellt werden. Aus dieser Ehe wurde Pierre de la Ramée im Jahr 1515 geboren und so war jene blutgetränkte Ebene bei Soissons, auf welcher einst Chlodwig die letzten Ueberbleibsel römischer Herrschaft in Gallien vernicht hatte, die Wiege des Mannes, der den Kampf gegen (Seite 131) einen nicht weniger mächtigen Beherrscher der geistigen Welt eröffnen sollte, den Kampf gegen Aristoteles. Jacques de la Ramée starb frühe, ein selbst nur schwach bemittelter Oheim konnte der verwaisten Familie bloß geringe Hülfe leisten, und so sah sich der kleine Pierre in einem Alter von kaum zwölf Jahren auf seine eigene Kraft verwiesen. Zum Glücke war diese Kraft eine unerschöpfliche. Der junge Körper wie der junge Geist leisteten Unglaubliches. Pierre wurde, wie es damals nicht außer der Sitte lag, der Diener eines kaum älteren Knaben, des jungen De la Brosse. Seine Obliegenheiten bestand im Reinigen der Kleider, in persönlicher Aufwartung jeder Art und deshalb auch in immerwährendem Nachfolgen seines jungen Gebieters für den Fall, daß dieser etwa seiner bedürfte. Wie er überall in der Nähe bleiben mußte, so auch in dem Collège de Navarre, dessen Schüler De la Brosse war. Ohne Bücher, mit dem fast geringer als nothdürftigen Vorkenntnissen versehen, welche der Dorfschulmeister seines Heimatdorfes ihm beigebracht hatte, horchte Pierre den wunderbaren Lehren, welche unverständlich, aber gewaltsam ihn anziehend in sein Ohr drangen. Und bald verstand er sie auch, denn er wollte sie verstehen. Bei Nacht, wenn sein junger Gebieter schlief, nahm der wißbegierige Knabe dessen Bücher und prägte sich fest in's Gedächtniß, was in den Unterrichtsstunden vorgekommen war. Diese Selbstthätigkeit ließ ihn denn auch bald alle Schwierigkeiten überwinden, flößte ihm aber auch gleichzeitig ein Mißtrauen gegen jegliche Geistesautorität ein, ließ ihn das Verkehrte der Methode erkennen, nach welcher Alles, was aus den Schriften des Aristoteles stammte, als unbedingt richtig, Alles, was dagegen verstieß, als ebenso unbedingt falsch galt. Nach kurzer Zeit setzte Pierre es durch, daß er selbst in die Liste der Schüler eingetragen wurde, ohne deshalb aus seinem dienstlichen Verhältnisse auszutreten. Aber immerhin mochte seine Stellung jetzt eine, ich möchte sagen, ebenbürtigere geworden sein und von dieser Zeit stammt wohl schon seine Bekanntschaft mit den beiden Mitschülern Karl von Lothringen und Karl von Bourbon, welche später als Cardinäle gleichen Namens mehrfach in seine Lebensschicksale eingriffen. Die lateinische wie die griechische Sprache erlernte unser Held in seltener Vollkommenheit, dem Studium der Philosophie, d. h. also nach damaliger Sitte des Aristoteles, widmete er volle drei und ein halb Jahr; da fühlte er sich im Jahre 1536, also in seinem einundzwanzigsten Lebensjahre, reif genug, um den Platz des Lernenden mit dem des Lehrers zu vertauschen. Er schlug unter dem latinisierten Namen Petrus Ramus seine Thesen an. Eigentlich war es nur eine These, in verschiedene Sätze gekleidet, freilich aber eine These, welche, ohne Uebertreibung gesagt, einem ehrenwerthen Professor der philosophischen Facultät das Blut erstarren machen konnte. Sie sagte nicht mehr und nicht weniger aus, als daß alle Schriften, welche dem Aristoteles zugeschrieben wurden, unecht seien und daß überdies diese Schriften nur Unrichtiges enthalten: Quaecunque ab Aristotele dicta essent commentitia esse.

Es mag sein, daß Ramus den Wortlaut seiner These schärfer faßte, als er den Sinn gefaßt haben wollte; es mag sein, daß er damit die Möglichkeit sich offen halten wollte, in der öffentlichen Disputation Zugeständnisse zu machen, ohne von dem Hauptpunkte, nämlich von dem Rechte freier eigener Forschung neben und selbst gegen Aristoteles, etwas preiszugeben. Allein auch mit dieser Milderung war die These dennoch eine Aufforderung zum Kampfe an alle Vertreter der eigentlichen Schule und man beeilte sich, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Was soll ich sagen? Alle Professoren der philosophischen Fakultät bemühten sich während eines ganzen Tages, dem jungen Candidaten des Irrthums zu überführen (Seite 132) oder doch wenigstens ihn zu verwirren und dadurch zu besiegen. Umsonst, alle Angriffe prallten von seiner geistigen Ruhe und Ueberlegenheit ab, und als der Abend gekommen war, sah die Facultät, wenn auch widerwillig, sich genöthigt, Ramus unter dem lärmenden Beifall aller Anwesenden als Magister der freien Künste zu proclamiren. Schon in diesem ersten Kampfe tritt deutlich genug zu Tage, worin die Idee bestnd, welche, wie ich vorhin mich ausdrückte, in dem seltenen Manne sich verkörperte. Es war dieselbe Idee, welche damals wie zu allen Zeiten in jenen Geistern lebte, welche allein vermochten, die Wissenschaft um einen namhaften Schritt vorwärts zu bringen. Es war das Ringen um die Berechtigung, selbst mit eifrigem Fleiße forschen zu dürfen, eigene Untersuchingen an die Stelle althergebrachter Formeln setzen zu dürfen, die nur dem blinden Autoritätsglauben als unantastbar galten. Es war mit einem Worte die große Reformbewegung des sechzehnten Jahrhunderts, die jetzt auch in der Wissenschaft ihre Wellenkreise zog.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß der neue Magister durch die Art, wie er zu dieser Würde gelangt war, sich viele Feinde, aber auch viele Bewunderer erwarb. Als er kurz darauf erst an dem Collège du Mans in Paris, dann in einer neu gestifteten Anstalt, dem Collège des Ave Maria, als Lehrer auftrat, strömten ihm die Schüler in großer Menge zu, ein neuer Gegenstand des Neides für seine Gegner. Im Jahre 1543 ließ er seine beiden ersten Bücher drucken, die Bemerkungen zur Dialektik, welche er dem König Franz I. zueignete, und die Bemerkungen zu oder, besser gesagt, gegen Aristoteles, deren Widmung die beiden Schulfreunde Karl von Bourbon und Karl von Lothringen annahmen, obwohl der Erstere damals schon Bischof von Nevers, der Zweite sogar Erzbischof von Rheims [sic!] war. Der Inhalt der letzten Schrift, noch mehr der Beifall, dessen er sich erfreute, gab den Gegnern endlich die Gelegenheit, gegen den argen Neuerer vorzugehen. Einen portugiesischen Rechtsgelehrten, Antonio von Govea an der Spitze brachten sie erst eine Verdammung des Buches von Seiten der theologischen Facultät zu Stande und vermochten dann den König, den Befehl zu ertheilen, daß Ramus und Govea über das angefochtene Buch vor fünf Richtern, im Uebrigen aber bei verschlossenen Thüren disputiren sollten. Von den Richtern sollten je zwei durch die beiden Opponenten, der fünfte durch den König ernannt werden, und da die Wahl des Königs auf einen Anhänger der peripatetischen Schule fiel, da selbst Ramus genöthigt war, einen seiner Richter aus den Reihen derselben Schule zu wählen, weil er nicht im Stande war, unter seinen Gesinnungsgenossen zwei unabhängige Männer aufzufinden, welche bereit gewesen wären, dem Richteramte sich zu unterziehen, so schien die Sache des Ramus von vorn herein verloren. Nichtsdestoweniger nahm er den Kampf auf. Zwei Tage lang stritten die Gegner ohne scheinbares Resultat; es konnte höchstens auffallen, daß Ramus am Abend jeden Tages verlangte, die Richter sollten ihr schriftliches Urtheil über gewisse Punkte, welche besprochen worden waren, abgeben. Am dritten Tag entwickelte Ramus seine volle Gewandtheit. Jene schriftlich gegebenen, von den Richtern für unverfänglich gehaltenen Aussprüche in der Hand bewies er, daß aus ihnen mit Nothwendigkeit dieselben Forderungen sich ergäben, die er in seinem Buche gezogen hätte. Jetzt trat die ganze niedere Gesinnung der Mehrheit der Richter zu Tage. Sie erklärten, an den beiden früheren Tagen überrascht worden zu sein, nahmen ihre Aussprüche zurück und verlangten, die Disputation solle von Neuem beginnen. Unwillig traten die beiden Richter von der Seite des Ramus, auch der Peripatetiker, zurück; Ramus selbst weigerte sich, auf das Verlangen (Seite 133) einzugehen, um so mehr, da es ihm jetzt ganz unmöglich war, zwei neue Richter zu stellen; das Urtheil wurde von den drei noch vorhandenen Richtern gefällt. Sie waren schamlos genug, in demselben Ramus als der Unwissenheit, der Bosheit und der Dummheit überführt hinzustellen und auf Vernichtung des Buches zu erkennen. Gleichzeitig erkannten sie auch auf Vernichtung des anderen Buches, der Bemerkungen zur Dialektik, welches ihrer Begutachtung gar nicht unterbreitet war. Aber was that das? Es war einmal von Ramus und mußte deshalb unterdrückt werden. Der König bestätigte das Urtheil. Die Bücher sollten vernichtet werden, Ramus bei schwerer Leibesstrafe sich nicht beifallen lassen, künftig gegen Aristoteles zu schreiben oder zu sprechen. Ramus konnte fast von Glück sagen, daß er so davon kam, daß Karl von Lothringen den schwersten Streich von ihm abwandte; denn man war dem Könige mit der Bitte nahe getreten, den gefährlichen Menschen auf die Galeere schaffen zu lassen. Ramus sah sich genöthigt, sich zu unterwerfen. Die Philosophie verschwand aus seinem Lehrplan und an deren Stelle trat die Mathematik. Ich habe es unterlassen, die Streitpunkte einzeln auseinanderzusetzen, in welchen Ramus von der Philosophieschule seiner Zeit abwich. Ich denke, meine Leser werden mir es Dank wissen, wenn ich dieselbe Enthaltsamkeit in Bezug auf die mathematischen Arbeiten des Ramus übe, wenn ich mich damit begnüge, dieselben als scharfsinnig und kritisch zu bezeichnen, wenn ich endlich bemerke, daß auch die Geschichte der Mathematik in Ramus einen gelehrten und gewandten Bearbeiter gefunden hat.

Den mathematischen, bald auch wieder den rhetorischen Unterricht, zu welchem Niemand geschickter sein konnte, ertheilte nun Ramus erst an der Schule Ave Maria, dann an dem Collège de Presles, in welches er am 1. December 1545 bersiedelte. Fünfviertel Jahre später starb Franz I. Ihm folgte auf dem Throne Frankreichs sein Sohn Heinrich II., der Zögling Karl's von Lothringen, welcher inzwischen Cardinal geworden war und sich mit der schönen Diana von Poitiers in die Leitung der Staatsgeschäfte theilte. Jetzt trat für Ramus eine Periode ungestörten Wirkens ein. Ein königliches Decret gewährte ihm wieder die Freiheit, auch philosophische Vorlesungen zu halten, welcherlei Inhaltes sie seien, und gegen die Anfeindungen der Universität und besonders des Rectors Charpentier schützte ihn Karl von Lothringen. Es sei mir erlaubt, nur eine Streitigkeit näher zu bezeichnen, in welche Ramus verwickelt war; sie dient zur Charakteristik der ganzen Pariser Universität. Ich meine den Streit der kiskis und der quamquam. Die alte Pariser Universität hatte die Gewohnheit, die Buchstaben qu in lateinischen Wörtern ähnlich auszusprechen wie im französischen, nämlich als k; eine neuere Schule behauptete mit Fug und Recht, man müsse den Laut kw hören, wie es im Deutschen Gebrauch ist. Im Jahre 1552 wurde nun einem Geistlichen, welcher richtig quamquam und quisquis sagte, vor dem Parlamente der Proceß gemacht und er sollte als Revolutionär seiner Pfründen verlustig erklärt werden. Ramus nahm sich des Angeklagten an und setzte durch, daß er freigesprochen wurde, sowie daß ein besonderes Edict die Freiheit lateinischer Aussprache garantirte. Ein Ueberbleibsel dieses Streites ist bis zum heutigen Tage geblieben. Die siegende Partei spottete nämlich über die Besiegten und gebrauchte, wenn es sich um überflüssiges Gerede, überhaupt um Ausschweifendes handelte, die Wortverbindung, das sei wieder echtes kamkam. Im Laufe der Zeiten wurde daraus das Wort cancan der modernen Sprache.

Die Gunst des Hofes, deren Ramus sich erfreute, blieb ihm während der ganzen Regierung Heinrich's II. Sie überdauerte auch die anderhalbjährige (Seite 134) Regierungszeit Franz' II. von Juli 1559 bis zum Dezember 1560, sie war fast noch im Steigen, als der zehnjährige Karl IX. den Thron einnahm, das gefügige Werkzeug seiner Mutter, der verworfenen, aber geistreichen Katharina von Medici. Da zum Unglück für des Ramus übrige Forschungen, zum größeren Unglück für seine persönlichen Schicksale begann er, seit der bekannten Disputation von Poissy, in welcher im September 1561 Theodor von Beza gegen den Cardinal von Lothringen die Lehren der Reformation vertheidigte, sich auch in theologische Streitigkeiten einzumengen. Die Hausandacht im Collège du Presles wurde immer weniger nach dem alten Ritus abgehalten; endlich bekannte sich Ramus öffentlich zu der neuen Lehre, nicht sowohl bekehrt, wie er selbst später in einem Briefe schreibt, durch die Wucht der Gründe, welche Theodor von Beza vorbrachte, als durch das Zugeständnis vieler Mängel in der katholischen Kirche, welches in der Entgegnungsrede Karl's von Lothringen enthalten war. Damit hatte Ramus seinen bisherigen Gönner verloren, der es von der Zeit an zuließ, daß Leute wie Charpentier ihn ihren Mäcen nennen durften. Katherina von Medici dagegen bewahrte immerhin eine gewisse Gewogenheit gegen Ramus und gestattete ihm noch 1567, daß er ihr eine kurzgefaßte Geschichte der Mathematik widmete, mit der Bitte, das Studium der Wissenschaft, deren Entwicklung er hier schilderte, unter ihren besonderen Schutz zu nehmen. In Paris freilich war der Schutz, den Katharina Ramus angedeihen ließ, mehr theoretischer als praktischer Natur. Während der confessionellen Bürgerfehden, welche in dem ganzen Lande entbrannten und die zu nicht geringen Theile in der Hauptstadt ausgefochten wurden, mußte Ramus zu wiederholten Malen fliehen. Der von Charpentier aufgestachelte Pöbel verfolgte seine Spuren in nicht zu verkennender Absicht, und da man seiner Person nicht habhaft werden konnte, ließ man die Wuth an seine Besitzthum aus. Von seiner reichen Bibliothek vor Allem blieb kein Buch verschont, und als Ramus im März 1568, einen kurzen Frieden der feindseligen Religionsparteien benutzend, nach Paris zurückkehrte, konnte er mit eigenen Augen von der stattgehabten Plünderung und Zerstörung sich überzeugen. Jetzt sah er ein, daß seines Bleibens in Frankreich nicht mehr war. Er beschloß, nach Deutschland überzusiedeln. Katharina von Medici ließ ihm noch durch den König einen officiellen Reiseauftrag ertheilen, der allerdings nicht überflüssig war, denn nur die Hülfe dieses Geleitbriefes entkam er dicht an der französischen Grenze der dringenden Gefahr, von einer Schaar Reiter niedergemacht zu werden, welche ihn für einen Emissär des Prinzen von Condé hielten.

Er betrat den deutschen Boden in Straßburg. Die gelehrtesten Männer dieser hochgebildeten Stadt, einen Johannes Sturm, einen Konrad Dasypodius an der Spitze, wetteiferten an Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit gegen ihn. Dasselbe zuvorkommende Benehmen fand er bei den Gelehrten und Freiburg im Breisgau, von Basel, wo er fast ein Jahr lang mit mathematischen und theologischen Arbeiten sich beschäftigte, von Zürich und Bern, endlich von Heidelberg, wo er etwa Ende September 1569 anlangte. Allerdings zeigte sich bei den Höflichkeiten, mit welchen man Ramus allerwärts überhäufte, ein Verhältniß, das leider nicht zu den seltenen gehört. Man war nur höflich, so lange man keinen Concurrenten in ihm sah, und in Straßburg z. B., wo im Juli 1569 von Basel aus um eine Professur bat, begnügte man sich mit der lakonischen Bemerkung, er sei ja nicht Aristoteliker! In der That von einer Akademie, die mit an der Spitze der kirchlichen Bewegung stand, ein denkwürdiges Seitenstück zu dem Benehmen des Cardinals von Lothringen, der die (Seite 135) wissenschaftliche Ketzerei schützte, so lange sie den Boden der Philosophie nicht verließ; hervorragende Beispiele jener halbliberalen Naturen, welche den Fortschritt und die Gleichberechtigung Aller nur da lieben, wo es sich nicht um ihre eigenen Prärogative handelt!

Auch in Heidelberg sollte Ramus ganz ähnliche Erfahrungen machen. An dieser Stelle, und bevor ich von den Erlebnissen des Ramus in Heidelberg rede, dürfte vielleicht eine kurze Abschweifung gerechtfertigt sein zur Schilderung der Persönlichkeiten, mit denen Ramus hier zusammentraf.

Wir können diese Persönlichkeiten füglich in zwei Gruppen unterscheiden: den Hof und die Universität. Kurfürst war Friedrich III. Mit Otto Heinrich, dem Erbauer des nach ihm benannten Schloßtheils, war 1559 die alte Kurlinie ausgestorben und Friedrich aus der Simmerischen Linie trat, ein bereits gereifter Mann von vierundvierzig Jahren, das ihm anheimfallende Erbe an. Er hatte mancherlei Erfahrung hinter sich. Den Krieg hatte er siebzehnjähriger Jüngling gegen die Türken kennen gelernt, den Frieden an dem Hofe seines kunstsinnigen, wissenschaftlichen Vaters [Ludwig V.], aber auch an dem Bischofssitze in Lüttig sowie an dem Hofe Kaiser Karl's V. Die Ueppigkeit der Höfe hatte seinen nüchternen, bis zur eisernen Strenge gerechten Charakter nicht anzugreifen vernocht; nur die Freude an regem geistigen Leben hatte er dort in sich aufgenommen und so trat er in dieser Beziehung vollständig in die Fußstapfen Otto Heinrich's, des liebevollen Schützers und Beförderers der Universität. Die Gemahlin Friedrich's, Maria von Brandenburg, welche ihn der Reformation gewonnen hatte, war seit 1567 gestorben. Von den zehn Kindern, welche dieser Ehe entstammt waren, lebten zu der Zeit, von der hier die Rede, also im Herbste (1569), außer drei jungen Töchtern, deren älteste noch nicht fünfzehn Jahre zählte, nur zwei Söhne am Hofe in Heidelberg: der ritterliche Johann Casimir, der innige Freund der französischen Hugenotten und deren Häupter, vor Allen Condé's, unter dessen Oberbefehl er sogar schon 1568 und wiederholt später (1575) die Waffen für seine unterdrückten Glaubensbrüder führte, und Pfalzgraf Christoph, ein Jüngling von seltenen Anlagen. Erst fünfzehn Jahre alt hatte er 1566 bereits seine Studien in Genf und Heidelberg vollendet, bekleidete bereits die Würde eines Rectors unserer Universität und war auch nach auswärts schon von so ausgezeichnetem Rufe, daß Ramus in jener Geschichte der Mathematik, die 1567 erschien, ihn unter den geistig hervorragenden Fürsten mit Namen anführt, an ihn die Bitte richtet, in Deutschland ein Förderer der mathematischen Wissenschaften sein zu wollen, insbesondere in Heidelberg eine zweite mathematische Professur zu gründen, zu deren Uebernahme Niemand geeigneter sei als Wilhelm Xylander. In den zwei Jahren, die inzwischen vergangen waren, hatte Pfalzgraf Christoph an Geist und Liebenswürdigkeit, an Eifer für die Wissenschft ebenso wie an Gewandtheit in ritterlichen Künsten nur noch zugenommen und nah' und fern setzte man auf ihn die höchstgespannten Erwartungen. Leider sollte er sie nicht erfüllen, denn er starb, ein dreiundzwanzigjähriger Jüngling, den Heldentod auf der Mockerhaide im Kampfe für die Unabhängigkeit der Niederlande. Ludwig, der älteste Sohn des Kurfürsten Friedrich und sein nachmaliger Thronerbe, befand sich damals bereits nicht mehr in Heidelberg, indem er schon fast seit zehn Jahren die Oberpfalz verwaltete. In ihm war das einzige Mitglied der kurfürstlichen Familie abwesend, von welchem eine feindselige Stimmung gegen den aufdringlichen Hugenotten zu erwarten gewesen wäre; denn Ludwig war von früher Kindheit ebenso streng lutherisch gesinnt, wie die Neigung seines (Seite 136) Vaters und seiner Brüder den Lehren Calvin's und Zwingli's gewonnen war. Von den kurfürstlichen Räthen nenne ich nur zwei, welche hier eine Rolle spielen: den Rath Zuleger und den Kanzler Probus. Zuleger war 1568 im Auftrag Friedrich's III. in Paris gewesen, um nach persönlichem Augenscheine über die Bedrückung der dortigen Protestanten zu berichten. Sei es nun, daß er bei dieser Gelegenheit Ramus kennen lernte, sei es, daß er nur von ihm gehört hatte und dessen Anfeindung mehr confessionellen aus zünftlerischen Gründen zuschrieb, jedenfalls war er Ramus überaus gewogen. Probus war schon unter Otto Heinrich enger als irgend ein anderer Rath mit den Verhältnissen der Universität verbunden. Er hatte gemeinschaftlich mit dem geistreichen Humanisten Jacob Micyllus und dem gelehrten Reformator Philipp Melanchthon die neuen Statuten der Universität Heidelberg ausgearbeitet, welche unter dem Namen der „Reformation der Universität“ in dem letzten Lebensjahre Otto Heinrich's feierlichst verkündigt wurden.

Damit habe ich einen Uebergang zu der zweiten Gruppe von Persönlichkeiten erhalten, welche ich vorführen wollte, zu den Mitgliedern der Universität. Ich nenne aus der theologischen Facultät Ursinus, dann Boquinus, einen geborenen Franzosen, ferner Tremellius, den berühmten Hebraisten, der es sich nicht nehmen ließ, Ramus als Gast bei sich zu beherbergen. In der juristischen Facultät war seit des Franzosen François Baudouin Abgang überhaupt kein Manne von hervorragendem Einfluss vorhanden. In der medicinischen Facultät durfte Ramus Jacob Curio als ihm günstig voraussetzen, welcher unter Friedrich II. bereits zu der damals neu gegründeten Professur der Mathematik berufen worden war, die er indessen bald wieder abgab. Die philosophische Facultät oder, wie sie damals hieß, die Artistenfacultät sollte nach dem Statut aus fünf ordentlichen Professoren bestehen. Professor der griechischen Literatur war Wittekind, zugleich Rector der Universität für das Jahr 1569; Professor der Ethik war Stringelius gewesen, der am 26. Juni desselben Jahres gestorben war; die Professur der Physik war durch Niger, die der Mathematik durch Grynäus recht nothdürftig besetzt. Für Poesie und Beredsamkeit war Pithopäus angestellt. Endlich war aber auch noch über die statutenmäßige Zahl ein sechster Professor in der Person von Wilhelm Holzmann oder, wie er seinen Namen nach der Sitte der Zeit verändert hatte, von Wilhelm Xylander vorhanden, Dieser ausgezeichnete Gelehrte, gleich hervorragend als Philolog wie als Mathematiker, war ursprünglich 1558 als Nachfolger des Micyllus zur griechischen Professur nach Heidelberg berufen worden, hatte dieselbe aber 1562 an Wittekind abgegeben und auf besonderen Wunsch des Senates seit dieser Zeit ein neues Lehrfach gegründet, welches in dem Statute nicht vorgesehen war. Er las nämlich regelmäßig und so auch 1569 über das Organon des Aristoteles, weil, wie es in den Protokollen der philosophischen Facultät heißt, er allein im Stande sei, die Logik des Aristoteles richtig zu lehren. Das war der Kreis von Männern, mit welchen Ramus jetzt in Berührung kam.

Ich habe bereits erzählt, daß man ihm mit großer Liebenswürdigkeit begegnete, daß er als Gast bei Professor Tremellius wohnte; aber auch Professor Pithopäus ließ es an keiner Aufmerksamkeit gegen den berühmten Fremden fehlen und bei Hofe gar war er ein stets willkommener Besucher. Da wandten sich Anfang October 1569 sechzig Studenten, großentheils Franzosen, Polen und Italiener, aber auch Deutsche darunter, mit einer Petition an den Kurfürsten, in welcher die Bitte ausgesprochen war, den just anwesenden Ramus mit der durch den Tod des Strigelius erledigten Professur zu bekleiden. Ob, (Seite 137) wie später von gegnerischer Seite behauptet wurde, Ramus selbst diese Petition wenigstens indirect veranlaßt hatte, läßt sich nicht mehr ermitteln; ganz unwahrscheinlich klingt indessen diese Vermuthung nicht, wenn man die Nationalität der Bittsteller in Erwägung zieht, als deren Wortführer ein Südfranzose, Alexander Campagonolla, genannt wird. Der Kurfürst schickte die Petition an den Senat zur Rückäußerung darüber, und so fand den folgenden Sonnabend, den 8. October, eine außerordentliche Senatssitzung wegen der Eigenthümlichkeit des Gegenstandes statt, während sonst die regelmäßigen Sitzungen immer am Mittwoch Nachmittag abgehalten wurden, zu welcher Zeit niemals Vorlesungen sein durften. Die Antwort, mit deren Abfassung der Rector beauftragt wurde, sollte etwa folgendes Inhaltes sein, — ein Inhalt, der in dieser Angelegenheit fast ebenso häufig wiederkehrt, als überhaupt Schreiben gewechselt wurden. Nach der Bemerkung von der Unziemlichkeit einer solchen Petition von Seiten der jungen Bittsteller, welche zudem jedenfalls den Weg durch Decanat und Rectorat hätten einschlagen müssen, wird eine Verwahrung des Sinnes eingelegt, daß man schon von freien Stücken rechtzeitig taugliche Professoren berufe, wenn sie nothwendig seien. Ramus übrigens möge nur selbst sein Verlangen formuliren, so werde man beschließen, wie es Nutzen und Vortheil der Akademie erheische. Zwei Tage später, Montag den 10. October, hielt die Artistenfacultät Sitzung und hier wurde von dem neuen Decan, Professor Niger, der directe Auftrag erstellt, die erledigte Professur der Ethik wieder zu besetzen. Diesen Schritt hatte also die äußere Anregung doch veranlaßt.

Es wäre nun eigentlich nichts natürlicher gewesen, als daß Ramus in das an sich geringe Verlangen des Senates gewilligt und eine Eingabe an denselben gemacht hätte. Allein man möge bedenken, von wo er kam. Der französische Hof in Vincennes und Fountainebleau war sein Aufenthalt, — was sage ich? — war sein Zufluchtsort einige Jahre hindurch gewesen. Er hatte dort nur directe königliche Einwirkung als Mittel kennen gelernt, etwas zu erreichen. Er hatte dort die Erfahrung gemacht, daß, wie störrisch auch die Universität sich oft geberdete, sie dem bestimmt ausgesprochenen Willen des Monarchen schließlich immer Folge leistete. Konnte er, in Unkenntnis der hiesigen, was das Verhältniß der Universität zum Fürsten betraf, fast modern constitutionellen Anschauungen, nicht den gleichen Weg für nothwendig erachten, welchen allein er in Frankreich mit Aussicht auf Erfolg hätte einschlagen müssen? Und hatte er nicht ebensoviele persönliche Aufforderung dazu durch seine Berührungen mit Pfalzgraf Christoph, der nichts sehnlicher wünschte, als unter Ramus seine philosophischen Studien wieder aufzunehmen, wie er andererseits durch Straßburger Erfahrungen gewitzigt war, wie weit er auf die thatkräftige Geneigtheit der Gelehrten rechnen durfte? Endlich, selbst wenn er jetzt einsah, daß es besser gewesen wäre, gleich an den Senat zu gehen, war nicht gerade jetzt, nachdem einmal jener andere Weg eingeschlagen war, eine abschlägige Antwort der Facultät und des Senates mit nur noch größerer Bestimmtheit vorauszusehen? Diese Umstände zusammengenommen mochten wohl Ramus veranlassen, der in der Senatsantwort enthaltenen Aufforderung nicht nachzukommen. Er verhielt sich öffentlich ruhig, die Studierenden aber petitionirten auf's Neue beim Kurfürsten um Anstellung des ersehnten Lehrers.

Es ist fraglich, wie weit der Kurfürst das Recht gehabt hätte, Ramus jetzt ohne Weiteres zum Professor der Ethik zu ernennen. In dem schon erwähnten Universitätsstatute war in Betreff der drei oberen Facultäten, der Theologie, der Rechtsgelehrsamkeit und der Arzneikunde, ausdrücklich vorgesehen, (Seite 138) daß eine frei gewordene Professur in der Weise zu besetzen sei, daß der Senat der Universität dem Kurfürsten zwei Candidaten vorschlage, die derselbe zwar beide verwerfen, alsdann aber auch nur unter Rüge der ersten Wahl neue Vorschläge verlangen könne. Für die Artistenfacultät war keine derartige Bestimmung vorhanden. Nun konnte man freilich sagen, das Fehlen einer solchen Bestimmung müsse als Ausnahme einen besonderen Grund haben, jedenfalls mit Absicht erfolgt sein. Hier sei folglich das Ernennungsrecht des Kurfürsten an keine Clausel gebunden. Man konnte aber auch entgegnen, die Bestimmung sei nur deshalb nicht besonders hervorgehoben, weil sie aus der Analogie sich von selbst verstehe, und zudem sei seit der Verkündigung des Statutes diese Auslegung immer gewohnheitsmäßig angewandt worden, so z. B. bei den Ernennungen von Niger und Grynäus. Also jedenfalls war hier ein heikler, strittiger Punkt. Dagegen war gleichfalls in dem Statute ein Umweg angegeben, welcher zu demselben Ziele führte, zu der Möglichkeit für Ramus, Vorlesungen über Ethik zu halten. Es war nämlich in Betreff der Vorlesungen derer, welche nicht ordentliche Professoren wären, festgesetzt, sie sollten Niemanden, der tüchtig dazu sei, verboten sein, doch müßten sie mit Wissen des Decans und in keiner Stunde stattfindenm zu welcher Ordinarii lesen. Unentgeltlich können alsdann diese außerordentlichen Vorlesungen, die Vorläufer des modernen Privatdocententhums, wie man leicht erkennt, sogar im Universitätsauditorium stattfinden.

Auf diesen Paragraphen stütze sich offenbar Kurfürst Friedrich, als er den 18. October in Folge der zweiten Studenten-Petition dem Rector sagen ließ, man möge Ramus unter Gewährung einer außerordentlichen Professur Platz und Zeit für seine Collegien sowie eine angemessene Besoldung anweisen. Der am Mittwoch, dem 19. October versammelte Senat beschloß, sich diese Ernennung in höfisch-demüthiger Weise zu verbitten. Indessen bedurfte es dazu keines Antwortschreibens, da Rath Zuleger am Schlusse der Sitzung in den Senat kam, um nach dem Ergebnisse sich zu erkundigen, wohl mit Absicht, denn wie das Verlangen des Kurfürsten nur mündlich überbracht, nicht eigentlich officiell gestellt worden war, so wollte man auch der Universität jetzt eine außerofficielle Rückäußerung erstatten. Es handelte sich darum, es zu keinem offenkundigen Zwiespalt zwischen Landesregierung und Universitätsbehörde kommen zu lassen. Es handelte sich andererseits darum, dieser letzten den Schein ganz freier, eigenwilliger Zulassung des Ramus zu gewähren.

Die Universität ging auf diese Absicht nicht ein. Am 29. October erfolgt nun ein directes Schreiben des Kurfürsten wegen der „Lectur Ethices“, worin er „,gnediglich bevellet, jenen Ramum zu solcher unverhindert kommen zu lassen, demselben auch gepürlich Platz und Stundt dartzu einzuräumen und zu benennen. Hatten Ihr aber auch hierin bedenkens, möget Ihr und desselben verständigen.“ Die beiden nächsten Senats-Mittwoche fallen nun auf den 2. und 9. November. An jenem wurde der Sinn eines zu entwerfenden Antwortschreibens berathen, an diesem wurde das fertige Schreiben nochmals zur Gutheißung vorgelegt. Der Hauptpunkt ist, wie in dem Proteste vom 8. October, die Betonung des ungesetzlichen Vorgehens der Petenten wie des Ramus gegenüber der Vorschrift des Universitätsstatuts. „Denn in derselbigen ist unter Anderem heilsamlich und woll versehen (wie es denn auch biß anhero alß üblich bei uns ohn Eintrag menniglichs gehalten worden), wenn in facultate artium ein Profession oder Lectur vacirende und ledig wurt, und ein Anderer davon begeren tuht, daß derselbige sich bei genannter Facultät anzeige.“ Ramus, heißt es dann weiter, (Seite 139) habe diese Anzeige unterlassen, ao daß man nicht einmal wisse, ob er jene Professur wünsche. Stimme er in dieser Beziehung mit der Bittschrift der Studenten überein, so solle er es nur erst sagen, dann werde man schon beschließen „was der Universität nutz und wolfart erscheischen und erfordern tuht!“. Donnerstag in der Frühe wurde das Schreiben in das kurfürstliche Archiv gebracht, Mittags ein Uhr wurden schon der Rector und der Decan der philosophischen Facultät zu dem Kanzler Probus geladen, der als Mitverfertiger des Universitätsstatutes, wie ich früher erzählte, zur Auslegung desselben sich einen besonderen Beruf zuschrieb. Es gab eine heftige Szene, Probus gab den Universitätsbevollmächtigten zu bedenken, daß Pfalzgraf Christoph selbst die Vorlesungen des Ramus zu besuchen wünsche, und ließ sich bis zu Drohungen hinreißen. Wittekind und Niger blieben dem Aeußern nach fest, wenn es ihnen auch innerlich etwas unheimlich bei der Sache werden mochte.

Friedrich III. wollte auch den leisesten Schein einer Gewaltmaßregel vermeiden. Ramus wurde jetzt von ihm bestimmt, daß er am 11. November, also Freitag, in das Verlangte willigend, der Artistenfacultät einen allerdings ziemlich geschraubten Brief schrieb. Der Kurfürst wünsche, daß es während der Mußezeit, welche Frankreichs Bürgerfehden im bereiteten, hier am Orte Vorlesungen halte; er sei gerne dazu erbötig und stelle hiermit seine Kräfte der Universität zur Verfügung. Sonnabends war Facultätssitzung. Was den Brief des Ramus betrifft, so beschloß man, sich nichts wissen zu machen. Außerdem wurde Xylander jetzt zum außerordentlichen Lehrer der Ethik ernannt. Endlich ließ man dem Senate gegenüber die bis hier freilich unnöthige Maske fallen und erklärte in ausführlichem Schreiben, daß man den Antiaristoteliker nicht könne aufkommen lassen, ohne künftigen Zank und Aergerniß herbeizuführen. Auch der Senat konnte jetzt nicht umhin, dem Kurfürsten gegenüber Farbe zu bekennen. Mit dem Verschanzen hinter nunmehr erfüllten Paragraphen war es vorbei. Man betonte jetzt am 16. November, das bei jedem philosophischen Doctoreide die Verpflichtung auferlegt wurde, „des Aristoteles Lehre so viel an jenem zu propagiren“. Wie könne man also einen Lehrer anstellen, der das gegentheilige Wirken zu seiner Lebensaufgabe gemacht habe? „Und do es geschehe, ist kein Zweifel, es wurden darauß beiden, den Professorn und den Discipuli, Uneinigkeit, Hader, Zank, Factiones und sunst aller Hand wurden sich erzeugen, wie denn eben deßwegen auch zu Paris geschehen, und haben wir für kurtzen Jahren dergleichen Factiones und Exempel allhier mit den Realisten und Nominalisten oder Novisten gehabt, welche kaum mit großer Mühe und Arbeit nach Ordnung und Bevell Churf. Reformation haben mogen ausgerottet werden.“ Am Schlusse ist dann freilich die eventuelle Nachgiebigkeit in dem Wunsch des Fürsten zugesagt, aber mit entschiedener Abwälzung der Verantwortlichkeit für die Folgen.

Fast einen Monat scheinen die stillen Unterhandlungen noch fortgedauert zu haben, von welchen ich allerdings nur einen negativen Beweis beibringen kann, nämlich daß nichts Officielles geschah, während doch in der letztvergangenen Zeit Schritte und Gegenschritte überraschend schnell auf einander gefolgt waren. Erst Sonntag den 11. December, Nachmittags um vier Uhr, kam Ramus in Begleitung des Rathes Zuleger zu Wittekind, um einen Brief des Kurfürsten zu überbringen. Man habe auch in dem letzten Punkte dem Willen des Senates nachgegeben, daß Ramus nicht über den Aristoteles, sondern über Cicero's Rede für Marcellus lesen werde. Diese Vorlesung solle Dienstag um zwölf Uhr in dem philosophischen Hörsaale beginnen, welcher um diese Zeit frei sei, und Montag (Seite 140) solle Ramus die vorläufige Ankündigung am schwarzen Brette anschlagen. Noch am Montage in aller Frühe erging ein Protest von Seiten des Senates. Pithopäus sei schon Professor der lateinischen Sprache und Beredsamkeit und somit seien auch diese Vorlesungen des Ramus unstatthaft. Dienstag um sieben Uhr Morgens findet eine weitere Senatssitzung statt; um zehn Uhr wird der Rector nebst den vier Decanen beim Kurfürsten vorgelassen, um ihren Proceß persönlich zu führen. Als aber der Rector sich dabei so weit vergaß, von Praktiken zu reden, welche Ramus angewandt habe, fuhr Friedrich III aus der so lange bewahrten Ruhe auf, nahm den Angegriffenen erzürnt in Schutz und entließ die Deputation ohne weitere Antwort. Tags darauf eröffnete Ramus seine Vorlesung und die dabei stattgehabten tumultarischen Szenen waren es, welche zur Einleitung dieser Culturskizze dienten.

Meine Leser erinnern sich daraus noch, daß es eine Antrittsvorlesung war, wie sie wohl selten von einem Lehrer an einer Hochschule gehalten worden ist, daß die zahlreich versammelte Studentenschaft sich das Wort gegeben zu haben schien, Ramus am Reden zu verhindern, „die Einen mit ihrer Liebe, die Anderen mit ihrem Haß“, daß aber die Meisterschaft, welche er entwickelte, den Sieg über Parteileidenschaft davon trug, daß er bereits am Schlusse der ersten Stunde der allgemein und ausnahmslos gefeiertge Lehrer war. Ich setzt hier nur noch hinzu, daß Pfalzgraf Christoph eine strenge Besgtrafung der Tumaltuanten verlangte und daß die Untersuchung merkwürdiger, aber nicht unbegreiflicherweise, wenn man bedenkt, daß der Senat selbst Partei war, keinen anderen Schuldigen als Campagonella entdeckte, welcher sonach unter dem Datum des 17. December relegirt wurde, eine Strafe, die allerdings später zurückgenommen werden mußte.

Ramus schien jetzt eine neue Heimat, einen neuen reichen Wirkungskreis gefunden zu haben. Die erprobte Gunst des Hofes, die steigende Begeisterung der Schüler, das allmähliche Verstummen der neiderfüllten Collegen konnte ihm als Beweis dafür gelten. Indessen es sollte nicht so bleiben, und so unangenehm es für einen Biographen ist, seinen liebgewonnenen Helden von einer ungünstigen Seite zu zeigen, die Plicht der Wahrheit gebietet mir, zu sagen, daß Ramus selbst an der neuen ungünstigen Wendung seines Schicksals die Schuld trug. Er hattem wie ich früher sagte, versprochen, nichts über Aristoteles zu lesen, und nun, als er die Vorlesung über Cicero's Rede für Marcellus eben beendigt hatte, kündigte er auf den 5. Januar 1570 den Anfang einer Vorlesung über seine eigene Dialektik an, von der es doch allbekannt war, daß sie nur in einer Widerlegung jenes seiner Besprechung entzogenen Schriftstellers bestand. Montag den 2. Januar trat deshalb der Senat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen und beschloß eine Eingabe an den Kurfürsten, welche in Form und Inhalt sich gleich günstig von den früheren Schreiben unterscheidet, ein Umstand, der vielleicht nicht nur darauf beruht, daß das unbestreitbare Recht diesmal auf Seiten der Universität sich befand, sondern auch darauf, daß das Rectorat seit dem 20. December auf Professor Nicolaus Debbinus übergegangen war, welcher der juristischen Facultät angehörte, während sein Vorgänger Wittekind als Mitglied der philosophischen Facultät zu den unmittelbaaren Gegnern des Ramus gehörte und dadurch bitterer und maßloser in der Wahl seiner Ausdrücke war.

Die neue Eingabe knüpfte an die Vergangenheit an, indem sie daran erinnerte, daß das Senatsschreiben vom 13. December noch unbeantwortet sei. Trotz der mangelnden Entscheidung habe man Ramus in seiner Vorlesung über (Seite 141) Cicero's Rede nicht gestört. Jetzt wolle er aber, wie man früher befürchtet habe, Vorlesungen halten, welche direct gegen die Aristotelische Philosophie gingen, die doch gerade in der Dialektik unübertrefflich sei, wie Adrian Turnebus, Philipp Melanchthon und Andere mehr schriftlich und mündllich genugsam und überflüssig bezeugt hätten.

„Und gesetzt, doch keineswegs zugestanden, daß die lehr, so biß anhero in unseren Schulen der Jugent fürgetragen und auß dem Aristotele Churf. Reformation nach genommen worden, unrecht und nit besten möcht, so hat doch E. Ch. Gnaden gnedigt zu erachten, wie ubel sichs reumen wurdt, do dasjenig, so professor organi Aristotelici oder Dialectices ordinarius morgens um sechs Uhr gelehrt, balde darnach von einem Anderen widerfahren, und was von jenem erpaut, von diesem wieder sollt eingerissen werden.“

Dadurch werde besonders die Jugend irre gemacht „daß sie nit wissen werden, was sie lernen und worauff sie sich verlassen sollen. Deswegen unseres einhelligen Erachtens die hohe Notturfft were, E. Ch. Gnaden lissen einen dieser beiden, Ramum oder aber Aristoteles, auß der Schulen.“ Letzteres freilich wird sogleich als unmöglich zurückgewiesen.

Die angekündigte Vorlesung ist aber auch deshalb unstatthaft, weil laut § 213 der Reformation „diejenigen, so publice extra ordinem lesen, dasselbig den anderen ordinariis professoribus ohn nachtheil und schaden tuhn sollen“. Die Bitte des Senates geht somit dahin, man möge dem Ramus aufgeben, über Cicero's Reden oder dergleichen zu lesen; denn die Vorlesung über Dialektik sei dasselbe, „als wenn er Aristoteles selbst lest und nach seinem gefallen glossirt und cavillirt.“

Dienstag um acht Uhr in der Frühe überbrachte der Rector obigen Brief. Er wurde in das Sitzungszimmer des schon anderweits versammenten Rathes eingelassen und überhaupt auf's huldvollste behandelt. Der Kurfürst zog sich zurück, indem er den Rector auf Antwort warten hieß, und ließ alsbald heraus sagen, er habe vorläufig dem Ramus den Befehl zugeschickt, heute nicht zu lesen, vielleicht auch künftig nicht.

Damit war denn auch die Thätigkeit unseres Ramus in Heidelberg abgeschlossen, und, wie gesagt, nicht ohne seine eigene Schuld, wenn auch ein Milderungsgrund seines Verfahrens darin gefunden werden kann, daß Pfalzgraf Christoph ihn zu den Vorlesungen über Dialektik veranlaßt hatte. So schreibt wenigstens Ramus einem seiner Freunde, und daß er jedenfalls der Gunst des Hofes nach wie vor sich erfreute, beweist die Thatsache, daß der Kurfürst ihm bei seiner im März erfolgten Abreise von Heidelberg sein Bildniß zum Angedenken schenkte.

Nach dieser vielleicht schon zu eingehenden Schilderung des Aufenthaltes unseres Helden in Heidelberg dürfen seine weiteren Erlebnisse nur um so weniger mit gleicher Breite erzählt werden. Ich eile vielmehr zum Schlusse. Ich erwähne nur flüchtig, daß er, Heidelberg verlassend, eine weitere Rundreise durch die Emporien süddeutschen Handels und süddeutscher Cultur machte, daß er dann in Genf, später, durch eine Seuche vertrieben, in Lausanne auf den Frieden wartete, der ihm die Heimreise gestatten würde. Denn unwiderstehlich zog es ihn jetzt wiederf zurück. Vergebens hatten ihm auswärtige Akademien, Bologna, Krakau, Weißenburg in Siebenbürgen, die glänzendsten Anerbietungen gemacht, er trat am 1. September 1570 die Heimreise an. In Paris fand er seine Stelle am Collège de Presles von einer durchaus unbekannten Persönlichkeit besetzt, erhielt auch auf seine an den Cardinal von Lothringen gerichtete (Seite 142) wiederholte Beschwerde keine andere Antwort als die Veröffentlichung eines Decrets vom 20. November 1570, durch welches alle Nicht-Katholiken vom Lehrfache ausgeschlossen waren. Die unmittelbare Folge dieses Decrets für Ramus wäre das tiefste materielle Elend gewesen, wenn nicht jetzt sein zweiter Schulgenosse, der Cardinal von Bourbon, sich seiner angenommen hätte. In Verein mit Katharina von Medici bewirkte er, daß Ramus nicht als abgesetzt, sondern nur als in den Ruhestand versetzt erklärt wurde, daß sein Gehalt ihm blieb und ebenso das Recht, seine Lehren, wenn auch nicht mehr mündlich, doch schriftlich zu verbreiten. In dieser geschäftigen Ruhe lebte Ramus 1 1/2 Jahre, bis zu jener Nacht, welche als die des St. Bartholomäus eine blutige Berühmtheit erlangt hat. In ihr oder vielmehr in einer der darauf folgenden Nächte, am 26. August 1572, fiel Ramus, hingemordet von dem durch seine wissenschaftlichen Gegner, besonders wieder durch Charpentier, fanatisirten Pöbel. Dafür sind die triftigsten Beweisgründe vorhanden, welche ein gelehrter Franzose, Charles Waddington, in überzeugender Zusammenstellung vereinigt hat.

Und sammeln wir nun die Eindrücke, welche das vielbewegte Leben dieses Kämpfers für freie Forschung in uns hervorzurufen geeignet ist, so kann ich dieselben wohl in wenige Worte fassen. Das Geschlecht des Ramus ist glücklicherweise mit ihm nicht ausgestorben, es hat sich weiter und weiter verbreitet, es sind seine Nachkommen, denen die moderne Wissenschaft ihren Glanz, ihre Würde verdankt. Aber leider ist auch das Geschlecht der Charpentiers nicht ausgestorben, jener kleinen Geister, die von ihrem niedrigen Standpunkte aus den Genius nur begeifern können, der sich ihrem Verständnisse entzieht. Und wenn ich mit einem beruhigenden Gefühle wieder endigen soll, so ist es das von der Unmöglichkeit einer neuen Bartholomäusnacht, in welcher der Zwist der Gelehrten den Dolch des Mörders lenkt.


Quelle: Monatsblätter für innere Zeitgeschichte. — Bd. 30 (1867). — S. 129 – 142.


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