Ramus in Heidelberg.

Von M. Cantor.

In einer früheren Abhandlung im 2. Bande dieser Zeitschrift wurde (S. 357) die Geschichte der Kämpfe, welche Ramus in Heidelberg zu bestehen hatte, als Inhalt eines künftigen Aufsatzes angekündigt. Indem wir dieser Ankündigung hiermit Folge leisten, sehen wir uns in die Lage versetzt, eine Art von Entschuldigung vorauszuschicken. Es waren nämlich die Streitigkeiten, auf deren Schilderung es uns ankommt, mehr philosophischer Natur, und somit hätten dieselben für die Geschichte der Mathematik nur höchst untergeordnetes Interesse. Da aber einestheils die Persönlichkeit des Ramus von genügend hervorragender Bedeutung ist, um Allem, was auf ihn sich bezieht, den Werth unmittelbaren Einflusses beizulegen, da anderntheils in jener Zeit die Trennung zwischen den einzelnen Wissenschaften keine so strenge war, dass es nicht auch für den Mathematiker wissenswerth erschiene, welche Verhältnisse und Partheiungen überhaupt auf den Universitäten existirten, so glaubt der Verfasser sieh berechtigt, diese Resultate seiner Forschungen(Anm. 1) den Lesern der Zeitschrift für Mathematik nnd Physik vorzulegen, fühlt sich aber gleichzeitig verpflichtet ausser dem schon Bemerkten noch hinzuzufügen, dass er nur geringe Abweichungen von dem fand, was Waddington in seinem vortrefflichen Werke über Ramus als Geschichte jenes Streites erzählt.

Aus jener ersten Abhandlung möge in Kürze wiederholt werden, dass Peter Ramus, der erste Philosoph und Mathematiker, welcher den Muth besass, als offener Gegner der aristotelischen Lehre and als nur bedingter Verehrer des Euclid aufzutreten, sich durch diese Neuerungen so gefährliche Feinde zugezogen hatte, dass er im Jahre 1568 von dem Könige von (Seite 134) Frankreich eine Art von Urlaub sieh verschaffte, welcher eigentlich nur den Vorwand zu einer förmlichen Flucht abgab, deren Rechtfertigung zur Genüge in den Gefahren sich zeigte, denen er auch so noch bei seiner Annäherung an die Grenze sich ausgesetzt sah.(Anm. 2) Er gelangte indessen nach Basel, wo er bis zur Mitte des Jahres 1569 sich mit der Herausgabe der Arithmetica und der Scholae mathematicae beschäftigte, reiste dann nach Frankfurt a/M. und wollte zu Anfang Oetober nach Basel zurückkehren. Auf dieser Rückreise berührte er Heidelberg und nahm daselbst einen mehrmonatlichcn Aufenthalt, dessen Veranlassung wir zu erzählen haben.

Kaum war nämlich Ramus in der Residenzstadt des Kurfürsten Friedlich III. (reg. 1559–1570) angelangt, so richteten 60 Studenten, zum grössten Theile Franzosen, aber auch Polen, Italiener und einige Deutsche, eine Bittschrift an den Kurfürsten, worin derselbe angegangen wurde, Ramus an die Stelle des den 26. Juni verstorbenen und seither noch nicht ersetzten Victorinus Strigelius zum Professor der Ethik zu ernennen. Es war dieses allerdings nicht der gesetzmässige Weg. In der Reformation, welche Kurfürst Otto Heinrich den 19. December 1558, kurz vor seinem Tode, der Universität gegeben und welche namentlich Jac. Micyllus und Phil. Melanchthon, dann aber auch den Kanzler Christ. Probus zum Verfasser hatte, war es wenigstens in Betreff der drei oberen Facultäten ausdrücklich vorgesehen(Anm. 3), dass eine freigewordene Professur in der Weise zu besetzen sei, dass der Senat der Universität dem Kurfürsten zwei Candidaten vorschlage, die derselbe zwar beide verwerfen, alsdann aber auch nur unter Rüge der ersten Wahl neue Vorschläge verlangen könne. Für die philosophische Facultät oder, wie sie damals auch hiess, die Facultät der Artisten, war keine derartige bestimmte Vorschrift vorhanden, die Analogie lag aber so nahe, dass man wohl den Gesetzen die derartige Erweiterung geben konnte, andererseits freilich in dem Mangel einer bestimmten Vorschrift Grund zu willkürlicher Deutung finden mochte. So ergab es sich auch, dass der Kanzler Christ. Probus, der doch wohl sein eigenes Werk zu interpretiren im Stande war, am 10. November dem Rector gegenüber erklären konnte, eine directe Einmischung des Fürsten sei nicht gegen die Rechte der Universität, deren Schutz und Erhaltung ihm angetragen seien (IX, 90a.), als Antwort auf ein Schreiben an den Kurfürsten, in welchem der Streitpunkt von Seiten der Universität altsgesprochen war: „denn in der Churf. unss zugestellten Reformation ist und Andern heilsamlich und woll versehen (wie es denn auch biss anhero alss üblich bei unss ohn eintrag menniglichs gehalten worden)(Anm. 4) wenn in facutate artium ein (Seite 135) Profession oder Lectur vacirende und ledig wurt, und ein Anderes davon begeren tuht dass derselbig sich bei genannter Facultät anzeige.“ (IX, 87a.)

Die Petition wurde von dem Kurfürsten dem Senate überwiesen, welcher deshalb in ausserordentlicher Sitzung Samstag, 8. October, zusammenkam(Anm. 5) und eine Antwort beschloss, deren Inhalt fast eben so oft wiederkehrte, als in dieser Angelegenheit Schreiben gewechselt wurden. Nach der Bemerkung von der Unziemlichkeit einer solchen Petition von Seiten der jungen Bittsteller, welche zudem jedenfalls den Weg durch Decanat und Rectorat hätten einschlagen müssen, wird eine Verwahrung des Sinnes eingelegt, dass man schon von freien Stücken rechtzeitig taugliche Professoren berufe, wenn sie nothwendig seien. Raums übrigens möge nur selbst sein Verlangen formuliren, so werde man beschliessen, wie es der Nutzen und Vortheil der Akademie erheische (IX, 83b). In der Debatte aber, welche über dieses officielle Schreiben geführt wurde, sprachen Einige den wohlbegründeten Verdacht aus, Ramus sei wohl wenigstens der intellectuelle Urheber jener Petition, deren Anstifter Franzosen seien.

Die Folge dieses ersten Rückschreibens war zunächst die, dass in der Sitzung der Artistenfacultät am 10. October (IV, 91a) vom Decane Professor Niger der Antrag gestellt wurde, die Professur der Ethik wieder zu besetzen, während Ramus sich öffentlich ruhig verhielt, die Stucdirenden aber auf's Neue um Anstellung des ersehnten Lehrers beim Kurfürsten petitionirten.

Die Frage liegt zu nahe, warum Ramus nicht in den so einfachen Wunsch des Senates einwilligend sich wirklich sofort an denselben wandte, als dass wir nicht suchen sollten, davon, sowie von einer anderen eben so nahe liegenden Frage die Erklärung zu geben. Wir müssen dazu mit Nothwendigkeit die Verhältnisse und namentlich die Persönlichkeiten kennen lernen, unter welche Ramus sich plötzlich versetzt fand.

Die politischen und religiösen Verhältnisse des Hofes, denn wie wollte man diese beiden Seiten des Staatslebens damals trennen? waren entschieden, von der Art, dass sie Ramus zu einem längeren Aufenthalte in der Pfalz nur ermuntern konnten. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm III., ein geistvoller, kenntnissreicher Mann, von energischem, wahrhaft religiösem und zugleich humanstem Charakter, der Vertheidiger der bedrängten Calvinisten in Frankreich, in Holland, wo sein Schwager, Graf Egmont, als eines der ersten Opfer des Revolutionskrieges fiel, dieser Fürst musste auch in den Wissenschaften den Autoritätsglauben abgeschüttelt haben und den Neuerungen zum Mindesten Interesse widmen. Sein ältester Sohn, der spätere Kurfürst Ludwig VI., war zwar dem Vater in den meisten Dingen unähnlich und würde, ein schroffer Lutheraner, dem Hugenotten wohl kaum den Aufenthalt gestattet haben. Allein er war erst Prinz und zudem (Seite 136) entfernt. Die anwesenden Prinzen Johann Casimir und Christoph hingegen übertrafen den Vater noch in der Zuneigung gegen die von Ramus vertretene Richtung. Hatte doch Johann Casimir 1567 als 24jähriger Jüngling auf eigene Faust eine Schaar gerüstet, mit welcher er den französischen Calvinisten zu Hilfe eilte; und der noch jüngere Pfalzgraf Christoph(Anm. 6) (geb. 1551), in Genf erzogen, brannte vor Begierde, selbst seine Studien unter Ramus Leitung fortzusetzen (IX, 90a), zu welchem er schon früher in gewissen Beziehungen stand. Ihn hatte Ramus fast noch im Knabenalter den regsten Beförderern der Mathematik, dem Landgrafen Wilhelm von Hessen, dem Kaiser Maximilian II., dem Erzherzog Karl von Oesterreich, dem Ungarnkönige Matthias Corvinus rühmlichst an die Seite gestellt und ihn persönlich aufgefordert(Anm. 7), dafür zu sorgen, dass das Studium der Mathematik in Heidelberg zu grösserer Blüthe gebracht werden möge. Namentlich schlug er ihm dazu die Gründung einer zweiten Professur der mathematischen Wissenschaften und zu deren Besetzung den seit 155S in Heidelberg ansässigen Wilhelm Xylander vor. So fand also Ramus einen ihm durchaus befreundeten Hof, Ersatz genug für die ihm verlorene Gunst des Königs von Frankreich, Grund genug, ihn an eine Stadt zu fesseln, wo ihm solcher Ersatz geboten wurde; und das einzig Auffallende besteht vielleicht darin, dass Ramus nicht versuchte, hier jene zweite mathematische Professur selbst zu gründen, statt als Philosoph aufzutreten und Kenntnisse verbreiten zu wollen, die er anderweits als nugas sophisticas geißelte(Anm. 8).

Die Universität war, wie es unter einer solchen Regierung sich von selbst versteht, in religiöser Beziehung auf demselben Standpunkte. Die widerwärtigen Streitigkeiten der entgegenstehenden Ansichten waren zwar nicht beigelegt worden, aber sämmtliche Facultäten, die theologische an der Spitze, hatten doch wenigstens einen einheitlichen, und zwar einen entschieden calvinistischen Charakter angenommen, welcher Ramus nur günstig sein konnte. Ganz anders verhielt es sich in wissenschaftlicher Beziehung.

Rector der Universität war im Jahre 1569 Herm. Witekind, Professor der griechischen Sprache und als solcher schon Verehrer des Aristoteles, zudem ein Mann von geistiger Bedeutung. Zn Nienrade in Westphalen 1524 geboren, hatte er in Wittenberg als Schüler Melanchthon's in hohem Grade sich ausgezeichnet, so dass dieser ihn an seiner Stelle mitunter Vorlesungen halten liess, ohne ihm gar besondere Vorschriften zu ertheilen. Nach Heidelberg war er 1561 berufen worden,(Anm. 9)

(Seite 137) Was die übrigen fünf Professuren der Artistenfacultät betrifft, so war die Ethik unbesetzt, welcher Strigelius, zugleich Decan der Facultät, vorgestanden hatte. Die Physik befand sich in den Händen von Niger, welcher auch das Decanat für den Rest des Jahres 1569 übernahm. Die Mathematik hatte in Grynaeus, die lateinische Sprache und Rhetorik in Pithopaeus ihren Vertreter; endlich las Xylander über das Organon des Aristoteles.

Von diesen Männern ist Hier. Niger der verhältnissmässig wenigst bekannte. Er gehörte wahrscheinlich einer italienischen Familie an, welche vielfach der Medizin und der damit eng zusammenhängenden Physik sich befliss. Was nämlich damals unter diesem Namen gelehrt wurde, stand unserem heutigen Begriffe der Physiologie am Nächsten. Pithopaeus, ein Holländer (geb. 1535 in Deventer), der seine Studien in Rostock und Wittenberg gemacht, 1562 nach Heidelberg gekommen war, hatte in seiner ganzen Laufbahn(Anm. 10) zu viel mit Witekind gemein, um ihm nicht eng befreundet zu sein. Simon Grynaeus junior (so hiess der Mathematiker mit vollständigem Namen) war der jüngste seiner sämmtlich in kräftigstem Mannesalter stehenden Collegen. Er war im December 1539 in Bern geboren, hatte sich ziemlich vielseitige Bildung erworben und war 1562 Professor der Mathematik in Heidelberg geworden, ohne gerade dieser Wissenschaft wesentlich zu nützen. Abgesehen davon, dass man keine bedeutendere Arbeit von ihm kennt, weiss man überdies, dass, als auch er später Heidelberg wegen religiöser Streitigkeiten verliess, er 1580 als Professor der Moral nach Basel kam, wo er 1582 starb. Grosse Ansprüche konnten indessen kaum an einen Professor gestellt werden, dessen auch für damalige Zeit fast mehr als geringe Jabresgchalt nur Fl. 60 nebst der Wohnung in dem sogenannten Dionysiacum betrug (IV, 78 b).

Ueberhaupt war die Art, in welcher damals die Mathematik in Heidelberg gelehrt wurde, eben so wenig geeignet, sie grosse Fortschritte machen anlassen, als die Männer, denen jenes Fach anvertraut war. Der unter Friedrich II. (1544–1556) berufene erste Heidelberger Professor der Mathematik Jac. Curio war Mediziner(Anm. 11). Dessen Nachfolger J. Marcus Morsheimer schrieb astrologische Streitfragen, nebst einer Art von politischer Arithmetik, welche als älteste mir den Namen nach bekanntgewordene (disputatio juridica de rebus mathematicis. Basileae 1558 in 8o) genannt werden mag. Der alsdann berufene Böhme Cyprian Leovitius war gleichfalls weit weniger Mathematiker, als vielmehr Hofastrolog Otto (Seite 138) Heinrichs, und prophezeite als solcher den Weltuntergang auf 1584(Anm. 12). Von Grynaeus wurde schon das Nöthige erwähnt. Ueber die Lehren, welche in den mathematischen Vorlesungen vorgetragen, oder, besser gesagt, eingeübt wurden, giebt die schon öfters angeführte Reformation uns Aufschluss, Sie schreibt vor (Wund I. c. S. 129): „Der Mathmaticus soll zum ersten die Arithmetic, volgends spheram Procli oder Joannis de sacro-busto; des andern Jahres gleichermassen primum Euclidis oder Elementale Joh. Voegelini(Anm. 13) und die Theoricas planetarum behandeln und also in zwei Jahren über Arithmetic, Geometri und Astronomi lesen; und so es sich der Arbeit nicht mögte dauern lassen, so mögte er auch obiter von der Music, soviel derselben Theorie und die proportiones harmonicas belangt, anzeigen.“ Zwei Männer waren jetzt in Heidelberg vorhanden, durch Geist und Kenntnisse berufen, eine neue Aera für die mathematischen Wissenschaften herbeizuführen, und beide versäumten es. Es war Wilhelm Xylander und Peter Ramus.

Wilhelm Xylander, den 26. December 1532 in Augsburg von armen Aeltern geboren(Anm. 14), hatte seine Studien in Tübingen als Stipendiat 1549 begonnen. Die Würde eines Magisters erwarb er sich alsdann 1556 in Basel, und schon 1558 folgte er einem ehrenvollen Rufe nach Heidelberg als Nachfolger des Jac. Micyllus in der Professur der griechischen Sprache, welche er freilich nach kaum vier Jahren an Witekind wieder abgab, um alsdann auf besondere Veranlassung von Seiten des Senates (17. Febr. 1562, vergl. IV, 78b) sich mit dem Organon des Aristoteles zu befassen. Diese Vorlesungen hielt er denn auch noch im Jahre 1569, von welchen eine Art von Lectionskatalog in den Actea der Universität aufbewahrt ist (IX, 31–35), und auch in den Protocollen der philosophischen Facultät ist er als professor organi Aristotelici bezeichnet (IV, 90b). Als man ihn bat, dieses Fach zu übernehmen, war das deutlich angegebene Motiv, nur er sei im Stande, die Logik des Aristoteles richtig zu lehren, während für die griechische Sprache leichter ein Ersatzmann gefunden würde; und in derselben Sitzung stellte man einen Grynaeus unter den schon angegebenen Bedingungen als Mathematiker an, um Vorlesungen zu ertheilen, welche Xylander provisorisch fast ein Jahr lang übernommen hatte (IV, 75b). So (Seite 139) bedeutend war das Uebergewicht, welches dio Universitutsbehörde der Philosophie und besonders der aristotelischen Logik der Mathematik gegenüber beilegte. Was Wunder, wenn also auch Männer wie Xylander, wie Ramus dem allgemeinen Vorurtheile nachgebend das Fach zu vertreten sich bestrebten, welches, in höherer Achtung stehend, sie selbst angesehener und einflussreicher machen musste? Und doch war Xylander, ohne über seine philosophischen Kenntnisse ein hartes Urtheil fällen zu wollen, gewiss noch befähigter, die Mathematik zu vertreten. Dafür zeugt schon seine mit zum Theil trefflichen Erläuterungen versehene erste deutsche Uebersetzung der sechs ersten Bücher Euclids (Basel 1562), und noch bekannter ist seine erste lateinische Ausgabe des Diophant (Basel 1575), welche er dem Herzoge Ludwig von Würtemberg widmete und dafür ein Geschenk von 50 Thalern erhielt(Anm. 15).

Diese Verhältnisse mögen zur Erklärung dienen, warum auch Ramus in Heidelberg der Mathematik abtrünnig wurde, wozu allerdings noch der weitere Umstand kam, dass Männer von solchem wesentlich energischem, strengem Charakter nur zu leicht aus Energie in Eigensinn, aus Festhalten an einem Principe in Rechthaberei verfallen. Ramus war seiner philosophischen Ansichten wegen von Paris verdrängt worden; dieselben Ansichten liessen ihn in Strassburg keine Ruhestätte finden; so musste er fast dazu kommen, nur als Philosoph und zwar als offener Antiaristoteliker eine Stellung sich erringen zu wollen. Dass er aber direct an den ihm wohlwollenden Fürsten die Petition gehen liess, welche er wohl sicher selbst veranlasst hatte, konnte vielleicht zunächst nur französische Unkenntnis fremder Sitten sein, welche überall die Gewohnheiten des eigenen Hoflebens voraussetzte, wo allerdings die unmittelbare königliche Einwirkung als Regel galt, abgesehen davon, dass eine abschlägige Antwort der Facultät und des Senates mit nur noch grösserer Bestimmtheit vorauszusehen war, nachdem einmal jener andere Weg eingeschlagen war.

Auf die zweite Petition hin schickte nun der Kurfürst den 18, Octobcr zwei Schreiben an den Rector mit dem mündlichen Auftrage, man solle dem Ramus unter Bestallung zum ausserordentlichen Professor Platz, Zeit und Besoldung anweisen(Anm. 16). Dieses war in gewisser Beziehung eine Nachgiebigkeit gegen die Universität, indem der Vorwand der Ungesetzlichkeit noch vermindert wurde. Denn die Reformation hatte in Betreff der Vorlesung Derer, welche nicht ordinarii wären, festgesetzt, sie sollten Niemanden, der tüchtig dazu sei, verboten sein, doch mit Wissen des Decans und in keiner Stunde, wo ordinarii lesen. Unentgeldlich können alsdann diese Vorlesungen sogar im Universitfftsauditorium stattfinden (Seite 140) (Wund S. 117). Der am 19. October versammelte Senat nahm indessen hierauf keine Rücksicht, sondern verbat sich in höflich-demüthiger Weise die Ernennung des Ramus durch einen Brief, dessen Absendung nur deshalb nicht erfolgte, weil Rath Zuleger, ein besonderer Freund des Ramus, sich persönlich nach dem Beschlusse erkundigte. Soweit war also noch nicht officiell weder ein directes Verlangen des Kurfürsten ausgesprochen, noch eine direct abschlägige Antwort der Universität gegeben worden. Beides erfolgte zu Ende des Monats.

In einem Schreiben vom 29. October (IX, 85b) „bevellet der Churfürst gnediglich jenem Ramum gepürlich Platz und Stundt dartzu (i. e. zur Lectur Ethices) einzuräumen und zu benennen. Hatten Ihr aber hierin bedenkens, mögen Ihr uns desselben verständigen“. Und den 2. November wurde eine Antwort darauf beschlossen, welche am 9. November dem Senate im Entwurfe vorgelegt, am 10. in das kurf. Archiv eingeliefert wurde, und worin die Ablehnung des Ramus in der schon erwähnten Weise wegen Ungesetzlichkeit sowohl von Seiten der Patenten als des Ramus selbst motivirt wurde.

Noch denselben Tag wurden Witekind und Niger auf 1 Uhr ins Schloss beschieden, wo Probus ihnen den früher erwähnten Bescheid ertheilte und drohend hinzufügte: Pfalzgraf Christoph habe selbst die Absicht bei Ramus zu hören, und schon deshalb müssten sie diesen als Professor einsetzen, oder den Zorn des Fürsten fürchten.

Die darauf zu erwartende unmittelbare Entgegnung des Senates blieb aus und so richtete, wie es scheint, Friedrich III. in rühmlicher Achtung des Gesetzes an Ramus das Ersuchen, noch einmal eine gütliche Beilegung durch eine wirkliche Anmeldung bei der philosophischen Facultät anzubieten. Der vom 10. November datirte, am 12. eingereichte Brief des Ramus (IV, 91a) ist offenbar mit zu genauer Abwägung jedes Wortes geschrieben, als dass wir uns nicht veranlagst sähen, ihn im Originaltext wiederzugeben. Er lautet: P. Ramus testificatur speciabili Decano Facultatis artium Heidelbergensis Academiae sibi ah illustrissimi principis excellentia mandatum esse ut interna dum bellorum in Gallia civilium tempestas pacaretur professione aliqua juventuti communicaret earum artium fructum, in quibits adhuc versalus esset: seque mandato illustrissimi principis acquievisse, libentissimeque se Academiae gratificaturum recepit, omniaque ipsius causa facturum, quae e re studiosae juventutis esse cognoverit. Man kann sich des Lächelns kaum erwehren, wenn man in dem Sitzungsprotocolle der philosophischen Facultät vom 12. November den jetzt erfolgten kindischen Beschluss liest: hanc rem esse dissisimulandam, sowie die Ernennung des Xylander zum ausserordentlichen Lehrer der Ethik. Dem Senate gegenüber liess man indessen die hier freilich unnöthige Maske zum Theile fallen und erklärte in ausführlichem Schreiben (IV, 91b –92b), dass man den Antiaristoteliker nicht könne aufkommen lassen ohne künftigen Zank und Aergerniss herbeizuführen.

(Seite 141) Dieselben Gründe setzte der Senat endlich am 16. November dem Kurfürsten auseinander (IX, 92b). Wie könne man einem Gegner des Aristoteles Erlaubniss geben, da zu lehren, wo bei den Promotionen die Verpflichtung auferlegt werde „des Aristoteles Lehr, so viel an jenem, zu propagiren“. Noch stehe der Streit der Realisten und der Nominalsten in zu traurig frischem Andenken, als dass man wieder solche Händel hervorrufen möchte, wie sie bei einem Manne, der schon von Paris her den Ruf der Uneinigkeit mit sich bringe, nicht anders zu vermuthen seien. Am Schlusse des Briefes ist dann freilich die eventuelle Nachgiebigkeit in den Wunsch des Fürsten angesagt, aber mit entschiedener Abwälzung der Verantwortlichkeit für die Folgen.

Fast einen Monat scheinen die stillen Unterhandlungen noch fortgedauert zu haben, von welchen allerdings nur der negative Beweis existirt, dass nichts Officielles geschah. Erst Samstag 11. December kam Ramus in Begleitung des Rathes Zuleger zu Witekind, um einen Brief des Kurfürsten (IX, 99a) zu überbringen. Man habe auch in dem letzten Punkte dem Willen des Senates nachgegeben, dass Ramus nicht über den Aristoteles, sondern über Cicero's Rede pro Marcello lesen werde. Diese Vorlesung solle Dienstag um 12 Uhr in dem philosophischen Auditorium beginnen, welches um diese Zeit frei sei, und Montag solle Ramus die vorläufige Ankündigung anschlagen. Noch am Montag in aller Frühe erging ein Protest von Seiten, des Senates. Pithopaeus sei schon Professor der lateinischen Litteratur und Beredtsamkeit, und somit seien auch diese Vorlesungen des Ramus unstatthaft. Dienstag um 10 Uhr wurde der Rector nebst den vier Decanen beim Kurfürsten vorgelassen und durften ihre Sache persönlich vertheidigen. Als aber der Rector von Praktiken sprach (IX, 102a), die Ramus angewandt habe, fuhr Friedrich III. aus der so lange bewahrten Ruhe auf, nahm den Angegriffenen erzürnt in Schutz und entliess die Deputation ohne weitere Antwort. In der That eröffnete Ramus seine Vorlesung Mittwoch 14, December unter grossem Tumulte. Schon vor dem Auditorium begann derselbe zwischen den deutschen Studenten, welche über Verletzung der Universitätsreehte klagten, und den Franzosen, welche unter der Leitung eines Alexander Campagonolla sich auf den Kurfürsten als alleinigen Richter beriefen. Bei der Vorlesung setzte der Lärm mit Stampfen und Pfeifen sich weiter fort. Energisch verlangte Pfalzgraf Christoph, der zugegen war, die Bestrafung der Schuldigen, und man erhält eine eigenthümliche Anschauung von der Gerechtigkeit des Senates, wenn man als Resultat der Untersuchung nur die Relegation des Campagonolla am 17. December, zugleich mit einer Versöhnungsdeputation an den Kurfürsten beschlossen findet.

Inzwischen vollendete Ramus wohl ohne weitere Störung die Erklärung der oratio pro Marcello und kündigte als neues Thema seine Dialectik an, welche er am 3. Januar 1570 beginnen wollte. Damit handelte er freilich (Seite 142) seinem Versprechen, nicht über Aristoteles lesen an wollen, entgegen, indem seine Dialectik nur in einer Widerlegung jenes Autors bestand, und der Senat ergriff diese willkommene. Gelegenheit, nochmals den Versuch zu machen, den ihm lästigen Eindringling wieder zu entfernen. In neuem ausführlichem Schreiben (IX, 102b flgg.) wurde der Sachverhalt in anständiger Sprache ziemlieh unverhüllt vorgetragen. Es sei die Streitfrage die, ob Ramus ob Aristoteles aus den Schulen zu lassen, wenn man nicht die unangenehme Eventualität bestehen lassen wolle, dass „was professor organi Aristotelici oder Dialectices ordinarius morgens umb 6 Uhr gelehrt, balde dernach von einem Andern widerfahren, und was von jenem erpaut, von diesem wird solch eingerissen werden“. Deshalb gebe die Bitte der Universität dahin, man möge dem Ramus aufgeben in Erfüllung seiner früheren Zusage nur über Cicero's Reden und ähnliche Gegenstände vorzutragen. Dieses gegen die frühere Widerspenstigkeit sehr mässige und auch wohl billige Verlangen überbrachte der Rector nebst den vier Decanen am 3. Januar um 8 Uhr dem Fürsten, welcher indessen schon Rathssitzung hielt. Die Deputation wurde in das Sitzungszimmer eingelassen, und im Gegensatze zu jener früheren Audienz wurde die Rede des Rectors huldvoll (perbenigne) aufgenommen, worin er urgirte, wie es sich hier um einen wissenschaftlichen Streit handle und man als Autoritäten darüber wohl einen Adr. Turnebius, einen Phil. Melanchthon, nicht aber Leute hören müsse, die Nichts von der Sache verstünden und nur zu hetzen wüssten. Die Deputation musste auf Antwort warten, während Friedrich III. sich zurückzog und alsbald herauswissen ließ: er habe vorläufig dem Ramus dea Befehl angeschickt, heute nicht zu lesen, vielleicht auch künftig nicht (IX, 106a).

Dieses ist das Letzte(Anm. 17), welches wir in dem Acten gefunden, wenn wir ein Schreiben des Pfalzgrafen Christoph um Rücknahme der Relegation des Campagonolla ausnehmen, worein der Senat bedingungsweise willigte(Anm. 18). Aus einem von Waddington publicirten Briefe des Ramus an Theodor Zwinger in Basel geht indessen hervor, dass er in der That nicht wieder lesen durfte und im Monate März Heidelberg verliess. Interessant müssten noch für das Ende dieses Streite» die Sitzungsprotocolle der philosophischen Facultät vom Jahre 1570 sein, wenn dieselben nicht eigenthümlicber Weise fehlten. Die Blätter 93 und 94 sind nämlich, wie an der Paginirung und auch sonst noch deutlich zu sehen, aus d«m Protocollbuche IV. ausgeschnitten, und die Rückseite des Fol. 92, wo diese Procolle beginnen müßten, ist weiss (nach dem Urtheile verschiedener Personen, die das Pergament sahen: gewaschen).

So die actenmässige Darstellung eines Streites, welcher von beiden (Seite 143) Seiten nicht immer in zu billigender Weise geführt wurde, bei welchem indessen, wenn man ein unparteiisches Urtheil fällen soll, Ramus zu Anfange wenigstens im entschiedensten Rechte war. Erst ganz zuletzt vergab er sich von diesem Rechte, und von diesem Augenblicke an verlor er den Schutz Friedrichs III., dessen Regententugenden gerade in diesen Zwistigkeiten in einem glänzenden Lichte erscheinen.


Anmerkungen:

  1. Hauptquellen waren der 9. Band der Acten des Senates der Heidelberger Universität, sowie der 4. Band der Protocolle der philosophischen Facultät. Erstere sollen kurzweg als IX., letztere als IV. citirt werden. Für die politische Geschichte wurde besonders benutzt: Haeusser, Geschichte der rheinischen Pfalz.
  2. Vergl. Ramus, Arithmetica Vorrede p. 3.
  3. Für die Auszüge aus der Reformation rergl. F. O. Wund, Beiträge zu der Geschichte der Heidelberger Universität. Mannheim 1786,S. 93–138. Die hier angezogene Stelle vergl. S. 105.
  4. Beispiele dieses Gebrauches finden sicli u. A. IV, 75a. und 78b. bei der Ernennung des Niger und Grynaeus.
  5. Der ordentliche Rathstag ist Mittwochs Nachmittag, als wo keine lectiones publicae gehalten werden (Wund I. c. S. 96).
  6. Dieser vortreffliche Jüngling konnte leider die grossen Hoffnungen die man auf ihn setzte, nicht verwirklichen. Er fiel nämlich auf dem Schlachtfelde auf der Mockerhaide April 1574 im Kampfe für die Unabhängigkeit der Niederlande.
  7. Vergl. p. 64,65 der Schol.math., deren drei ersten Bücher bekanntlich schon 1567 unter besonderem Titel erschienen.
  8. Vergl. diese Zeitschr. Bd. II, S. 356.
  9. Nach Friedrich III. Tode musste er wegen seiner religiösen Ansichten nach Neustadt an der Hardt fliehen , von wo er unter Joh. Casimir zurückkehrte und alsdann Mathematik lehrte. Frucht dieser Studien war sein Werk: De doctrina et studio astronomiae.
  10. Auch er floh 1570 und kehrte 1583 nach Heidelberg zurück, wo er eine Zeit lang lehrte, dann 1596 in Zurückgezogenheit starb.
  11. geb. zu Hof 1497, † zu Heidelberg 1572, vergl. Nouvelle Biographie universelle XII, 638.
  12. Weltuntergangsprophezeiungen waren damals nicht selten. Bekanntlich sagte Michael Stifel das Ende der Welt auf 1533 voraus; in Tübingen auf den Monat Februar 1524 (Klüppel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, 1849, S, 17) u. a. m.
  13. Joh. Voegelinus aus Heilbronn lebte zu Anfang des 16. Jahrhunderts. Er war der Schüler des auch als Herausgeber der Tabulae eclipsium Georgii Purbachi bekannten Wiener Mathematikers Tannstetter, der ihn oft als Lehrer substituirte und den er alsdann auch sein Elementale geometricum (Strassburg 1529, Frankfurt 1534 u. m.) widmete. Dasselbe ist ein 57 Seiten (kl. 8o) starkes Excerpt ans Euclid mit wenig Aenderungen und noch weniger Verbesserungen.
  14. Er starb zu Heidelberg am 10. Febr. 1576 morbo ex intempestinis lucubrationinibus contructo. Vergl. Freher. Theatrum vironan eruditione clarorum p. 1471, sein Portrait ad p. 1467.
  15. Heilbronner p. 794 berichtet von 500 Thalern, welches sicher irrthümlich ist.
  16. Locus, tempus et praemium. Damals las nämlich nicht Jeder zu einer ihm beliebigen Zeit, sondern Stunden und Auditorium waren in der Reformation für jeden Gegenstand und jeden einzelnen Lehrer ihrem Range nach festgestellt worden.
  17. Waddington führt noch aus den Acten die Nachricht von der Abreise des Ramus an. Ich konnte sie nicht finden.
  18. Vergl. IX, 196a. Zuerst wird die Straferlassung verweigert. Am Schlusse heißt es aber: Si princeps denuo instet, respondendum esse aliter Campogonollae poenam impositam remitti non posse; nisi se poenae mitiori hoc est carceri subjiciat et submittat.


Quelle: Zeitschrift für Mathematik und Physik. — Bd. 3 (1858). — S. 133–143


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