Über Wert und angeblichen Unwert der Mathematik.Von ALFRED PRINGSHEIM in München.Festrede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften zu München am 14. März 1904. |
Euklid
behaupteten Unmöglichkeit eines Königsweges zur
Mathematik scheint es leider sine Richtigkeit zu haben, wenn auch der
Bologneser Pietro Mengoli
(357-2)
allen Ernstes das Gegenteil behauptet und durch,
die Tat zu beweisen versucht hat. Seine der Königin Christine von Schweden
dedizierte „Via regia ad mathematicas“ erweist sich, bei näherer Betrachtung
lediglich als eine Sammlung höchst schauderhafter lateinischer Disticha,
vermittelst deren die Elemente der Arithmetik, Algebra und Planimetrie in
einer — wohl nur nach des Verfassers Meinung — besonders einfachen, und
eindringlichen Art gelehrt werden sollen. Aber auch der ganz anders ernsthaft
zu nehmenden Behauptung des 1873 verstorbenen Mathematikers Hermann
Hankel
(357-3),
daß mit der sogenannten projektiven Geometrie der Königsweg zur
Mathematik gefunden, zu sein scheine, wird, man doch kaum anders als äußerst
skeptisch gegenüberstehen können.
Im übrigen, wie dem auch sei: so viel darf wohl als feststehend betrachtet
werden, daß in den weitesten Kreisen die Mathematik sich einer glänzenden
Unpopularität erfreut. Bedürfte es hierfür noch irgend eines äußeren Beleges,
so könnte man vielleicht auf den Umstand hinweisen, daß, ohne Übertreibung,
das mathematische Wissensgebiet wohl das einzige ist, dessen unser sonst
allwissender Journalismus noch in keiner Weise sich bemächtigt hat.
In allzu respektvoller Entfernung verharrend, bringt zwar die Majorität der
Gebildeten der Mathematik eine gewisse Hochachtung entgegen: zumeist freilich
wohl wegen des anerkannten Nutzens, den sie den Naturwissenschaften und vor
allem, der mächtig emporgewachsenen, in alle Zweige des menschlichen Lebens
eingreifenden Technik gebracht hat. Das verhindert dann keineswegs, daß gar viele
den „reinen“
(Seite 358)
Mathematiker, wenn auch nicht geradezu als „reinen Toren“, so doch zum
mindesten als ziemlich überflüssigen Vertreter einer eingebildeten und abstrusen
Brahminenweisheit ansehen. Andere, die bei ihrer Schätzung der Mathematik
vielleicht mehr durch das Gefühl, als durch verstandesmäßigen Erwägungen sich
leiten lassen, erblicken in ihr eine ihnen zwar unbegreifliche, aber doch wohl
bewundernswürdige Äußerung menschlicher Geisteskraft und sind allenfalls
geneigt, die Mathematik eher zu hoch als zu niedrig zu bewerten. Ein
interessantes literarisches Beispiel dieses Typus in seiner höchsten Potenz bietet
der Romantiker Novalis
, dessen Aussprüche über Mathematik einen kaum
minder religiös-schwärmerischen Charakter tragen als seine Dichtungen: „Das
Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttlichen Gesandten müssen
Mathematiker sein. Reine Mathematik ist Religion. Die Mathematiker sind die
einzig Glücklichen. Der Mathematiker weiß alles. Er könnte es, wenn er es nicht
wüßte.“ Usf.(358-1) —
Man wird einigermaßen erstaunt sein, die nach der
landläufigen Meinung so „trockene“ Mathematik hier im trautesten Verein mit
der „blauen Blume der Romantik“ zu finden. Des Rätsels Lösung ist nicht so
schwierig, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Das gemeinsame Band
bildet die wunderreiche Zahlenwelt, deren mystische Geheimnisse den religiösen
Schwärmer nicht weniger in ihren Bann ziehen, wie eben auch den forschenden
Mathematiker. Und das geheimnisvolle Wissen, welches nur dieser durch die
Zauberkraft seiner Methoden erwirbt, das gerade ist es, was jenes anderen
überschwängliche Bewunderung hervorruft.
Im übrigen ist dafür gesorgt, daß die Bäume der so „einzig glücklich“ gepriesenen Mathematiker nicht in den Himmel wachsen. Denn auch an Feinden hat es der Mathematik bis auf den heutigen Tag nicht gefehlt, ja an völligen Verächtern, die ihr jeden Wert absprechen, soweit sie nicht bloßen Nützlichkeitszwecken dient Meine Absicht, zu einer angemesseneren Wertschätzung der Mathematik mein bescheidenes Teil beizutragen, glaube ich am besten dadurch zu erreichen, daß ich zunächst die wesentlichsten gegen sie erhobenen Vorwürfe zu entkräften versuche und, daran anschließend, einige allgemeine Bemerkungen über Ziel und Zweck des mathematischen Schulunterrichts und der mathematischen Wissenschaft folgen lasse.
Mit ganz besonderer Schärfe hat sich bekanntlich Schopenhauer
an
verschiedenen Stellen seiner Schriften gegen die Mathematik gewendet. Das ist
nun zwar schon ziemlich lange her: trotzdem sind seine Ausführungen meines
Wissens niemals widerlegt worden, vielleicht nur deshalb, weil ihre
Widerlegung, als gar zu einfach, den Mathematikern nicht der Mühe wert schien.
Da aber bis in die neueste Zeit, namentlich in Schriften und Aufsätzen, die einer
Einschränkung des mathematischen Unterrichts an den Mittelschulen das Wort
reden, mit fast unfehlbarer Regelmäßigkeit versucht wird, Schopenhauers
Autorität als eine besonders gewichtige in die Wagschale zu werfen, so scheint
es mir dringend wünschenswert, die Schopenhauer
ischen Argumente, die
wissenschaftliche Legitimation ihres Autors und seine, wie ich nachweisen
werde, keineswegs ganz sauberen Praktiken einmal einer öffentlichen Prüfung zu
unterziehen.
(Seite 359)
Was Schopenhauer
über die Elementar-Geometrie sagt (359-1),
kommt für
unsere Zwecke nur insofern in Betracht, als schon bei dieser Gelegenheit sein
Mangel an jeder tieferen mathematischen Einsicht deutlich zum Ausdruck
gelangt. Kann man auch die von ihm hervorgehobene didaktische
Unzweckmäßigkeit der Euklid
ischen Beweismethoden ihm ohne weiteres
zugestehen, so liegen doch die weitaus wesentlicheren Mängel des Euklid
ischen
Lehrgebäudes sehr viel tiefer, nämlich in den grundlegenden Definitionen und
Axiomen: und gerade hierfür hat Schopenhauer
nicht das geringste
Verständnis, macht sich vielmehr über die von den Mathematikern in dieser
Hinsicht geäußerten Bedenken in recht billiger Weise lustig.(359-2)
Will man aber mit
Schopenhauer
jene Fundamente beibehalten, so bleiben Euklids
Elemente
auch heute noch ein in seiner Art bewundernswürdiges Werk von hoher
Vollkommenheit Und bei den meisten Euklid
ischen Beweisen ist das, was dem
Lernenden die Einsicht erschwert, keineswegs der Inhalt, sondern lediglich die
rein synthetische Form des Vortrages, welche von jedem geschickten Lehrer
mit Leichtigkeit durch eine mehr analytisch-genetische und zugleich geometrisch
anschaulichere ersetzt werden kann. Ein schlagendes Beispiel hierfür bietet gerade
der von Schopenhauer
als „stelzbeinig, ja hinterlistig“ charakterisierte
Euklid
ische Beweis des Pythagore
ischen Lehrsatzes, welcher bei unerheblicher
Änderung der Darstellungsform geradezu als glänzendes Muster eines tadellosen
elementar-geometrischen Beweises erscheint, während das, was Schopenhauer
als Ersatz zu bieten wagt, gelinde gesagt, als äußerst naiv bezeichnet werden
muß. Und nicht einmal an dem armseligen Spezialfall(359-3), auf den sein ganzer
Beweis sich beschränkt, gelingt
(S. 360)
ihm dasjenige, was er eigentlich prätendiert: nämlich anstatt des beim
Euklid
ischen „Mausefallenbeweises“ lediglich zum Vorschein kommenden
Erkenntnisgrundes den angeblich existierenden wahren Seinsgrund(360-1) aufzudecken.
Jeder Sachkundige sieht, unmittelbar, daß Schopenhauer
in Wahrheit um
kein Haar mehr gibt als Euklid
: nämlich den Erkenntnisgrund.(360-2)
Zum Kapitel „Arithmetik“ äußert sich Schopenhauer
folgendermaßen(360-3):
„Daß die niedrigste aller Geistestätigkeiten die arithmetische sei, wird dadurch
belegt, daß sie die einzige ist, welche auch durch eine Maschine ausgeführt
werden kann: wie denn jetzt in England dergleichen Rechenmaschinen
bequemlichkeitshalber schon in häufigem Gebrauch sind. Nun läuft alle
analysis finitorum et infinitorum im Grunde doch auf Rechnen zurück.
Danach bemesse man den „mathematischen Tiefsinn“, über welchen schon
Lichtenberg
sich lustig macht, indem et sagt: „ „Es ist fast mit der
Mathematik, wie mit der Theologie. So wie die der letzteren Beflissenen,
zumal wenn sie in Ämtern stehen. Anspruch auf einen besonderen Kredit von
Heiligkeit and eine nähere Verwandschaft mit Gott machen, obgleich sehr viele
darunter wahre Taugenichtse sind, so verlangt sehr oft der sogenannte
Mathematiker für einen tiefen Denker gehalten zu werden, ob es gleich
darunter die größten Plunderköpfe gibt, die man nur finden kann, untauglich
zu irgend
(Seite 361)
einem Geschäft, das Nachdenken erfordert wenn es nicht unmittelbar durch
jene leichte Verbindung von Zeichen geschehen kann, die mehr das Werk der
Routine als des Denkens ist.“ “ (S. Lichtenbergs
vermischte Schriften,
Göttingen 1801. Bd. 8. 287 ff.)“
Nochmals kurz zusammengefaßt: Nur die arithmetische Geistestätigkeit
kann durch Maschinen ausgeführt werden, folglich ist sie die allerniedrigste.
Alle Analyse läuft aber auf Rechnen hinaus, folglich hat Lichtenberg
ganz
recht, wenn er die Mathematiker für Plunderköpfe erklärt. Ein wundervoller
Schluß vom besonderen zum allgemeinen, der die herrlichsten Perspektiven
eröffnet. Z. B.: Stanley Jevons
hat eine Maschine konstruiert(361-1), mittels deren
man gewisse logische Schlußformen auf rein mechanischem Wege erzeugen
kann. Damit wäre vor allem belegt, daß die logische Geistestätigkeit der
arithmetischen an Niedrigkeit nichts nachgibt. Nun läuft aber alles vernünftige
Denken im Grunde doch auf logisches Schließen zurück. Man bemese danach
den „philosophischen Tiefsinn“ der sogenannten Denker usf.
Jene ganze Schopenhauer
sche Schlußweise beruht auf dem Mißbrauche, welcher
mit dem Wort arithmetische Tätigkeit getrieben wird. In Wahrheit handelt es sich
hier doch ausschließlich um das gewöhnliche numerische Rechnen, d. h. um die
Ausführung der vier Spezies an gegebenen Zahlen. Will man diese, allerdings
ziemlich untergeordnete, geistige Tätigkeit mit dem pompösen Namen einer
arithmetischen beehren, so ist dagegen vom rein etymologischen Standpunkte
kaum etwas einzuwenden. In der Tat findet man den entsprechenden
Lehrgegenstand auf den Lehrplänen der bayerischen Gymnasien nach altem
scholastischen Brauch schlechthin als „Arithmetik“ bezeichnet. Doch scheint mir
dieser einigermaßen luxuriöse Usus wenig empfehlenswert: einmal schon deshalb,
weil nicht recht abzusehen ist, warum man ungefähr dasselbe Gericht(361-2), welches
auf den Volksschulen weit bescheidener und zweckmäßiger als „Rechnen“
dargeboten wird, den gymnasialen oberen Zehntausend unter einem so viel
feineren, weit größere Erwartungen erregenden Namen serviert: sodann aber, weil
man auf diese Weise die an sich schon äußerst dunklen Vorstellungen, welche in
weiteren Kreisen über Wesen und Inhalt der Mathematik herrschen, nur noch
verdunkeln hilft. Die Arithmetik, auch die elementare, ist eine Wissenschaft; sie
lehrt, gewisse allgemeine Gesetze in systematischer Form aufzustellen und
logisch zu begründen. Das Rechnen ist im wesentlichen ein Können, kein Wissen
— eine in der Hauptsache rein technische Fertigkeit, deren Ziel und Zweck in der
zahlenmäßigen Anwendung eines verhältnismäßig sehr geringen Bestandes von
zumeist nur
(Seite 362)
notdürftig erklärten und unzulänglich bewiesenen arithmetischen Regeln
besteht. Usurpiert man hierfür die viel zu anspruchsvolle Benennung Arithmetik
(die älteren Lehrbücher sagen in diesem Zusammenhange wenigstens „gemeine“
Arithmetik), so bringt man damit die Arithmetik in einen gänzlich falschen
Gegensatz zur „eigentlichen Mathematik“ oder man erweckt den irrigen Glauben,
daß die Mathematik, abgesehen von der reinen Geometrie, dem numerischen
Rechnen eng verwandt oder gar im wesentlichen damit identisch sei. So
ungefähr scheint auch Schopenhauer
sich die Sache vorgestellt zu haben.
Und doch involviert sein Ausspruch, daß die gesamte Analysis auf ein der
Tätigkeit einer Rechenmaschine vergleichbares Rechnen hinauslaufe, eine
vollendete petitio principii, welche unwiderleglich zeigt, daß er von den
Methoden und dem Inhalte jener Wissenschaft auch nicht die leiseste Ahnung
besitzt.
Hiervon werden wir uns im folgenden alsbald noch des genaueren
überzeugen. Zuvor aber wollen wir noch feststellen, daß jenes Lichtenberg
-Zitat,
durch welches Schopenhauer
die Lacher auf seine Seite zu ziehen und seine
fadenscheinige Argumentation zu stützen sucht, bei näherer Betrachtung als eine
vollkommen bewußte, recht plumpe und bösartige Fälschung sich erweist. Der
fragliche Ausspruch Lichtenbergs
beginnt nämlich in Wahrheit mit den
Worten: „Die Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft, aber die
Mathematiker taugen oft den Henker nicht.“ Schopenhauer
, der ja gerade die
geistige Minderwertigkeit der Mathematik zu beweisen wünscht, entblödet sich
nicht, diesen einen, das völlige Gegenteil besagenden Satz kurzweg zu
unterschlagen(362-1),
um so im Leser die irrige Meinung hervorzurufen, als habe
Lichtenberg
durch seinen Ausfall auf gewisse Mathematiker die Mathematik
selbst treffen wollen. Im übrigen kann für jeden, der mit der Geschichte der
Mathematik einigermaßen vertraut ist, kaum ein Zweifel darüber bestehen, auf
welche Mathematiker jener Angriff gemünzt ist. Es handelt sich dabei
offenbar um die Anhänger der, heute fast völliger Vergessenheit
anheimgefallenen sogenannten kombinatorischen Schule, welche gegen Ende des 18.
und Anfang des 19. Jahrhunderts fast alle mathematischen Lehrstühle an den
deutschen Universitäten okkupierten und deren weitschweifige, zumeist in ödesten
Formalismus sich verlierende Produktionen einem geistreichen Kopfe wie
Lichtenberg
, der ja überdies als Professor der Physik in Göttingen
mathematisch selbst wohlbewandert war, nur höchstes Mißbehagen
verursachen konnten.
Doch kehren wir wieder zu Schopenhauer
zurück! Um seine völlige
Unkenntnis des Wesens der Analysis zu charakterisieren, führe ich zunächst
die folgende Stelle an(362-2):
„Will man von den räumlichen Verhältnissen abstrakte
Erkenntnis haben, so müssen sie erst in zeitliche Verhältnisse d. h. in Zahlen
übertragen werden. . . . Diese Notwendigkeit, daß der Raum, mit seinen drei
Dimensionen, in die Zeit, welche nur eine Dimension
(Seite 363)
hat, übersetzt werden muß, wenn man eine abstrakte Erkenntnis seiner
Verhältnisse haben will, diese Notwendigkeit ist es, welche die Mathematik so
schwierig macht.(363-1)
Dies wird sehr deutlich, wenn wir die Anschauung der
Kurven vergleichen mit der analytischen Berechnung derselben, oder auch nur
die Tafeln der Logarithmen der trigonometrischen Funktionen mit der
Anschauung der wechselnden Verhältnisse der Teile des Dreiecks, welche durch
jene ausgedrückt werden: was hier die Anschauung in einem Blick, vollkommen
und mit äußerster Genauigkeit auffaßt, nämlich wie der Kosinus abnimmt, indem
der Sinus wächst, wie der Kosinus des einen Winkels der Sinus des anderen ist, das
umgekehrte Verhältnis der Ab- und Zunahme beider Winkel u. s. f., welches
ungeheure Gewebe von Zahlen, welche mühsälige Rechnung bedurfte es nicht,
um dies in abstracto auszudrücken!“
Ohne auf die groben, einem einigermaßen mathematisch gebildeten Leser
unmittelbar ersichtlichen Ungereimtheiten einzugehen, die jeder einzelne dieser
Sätze darbietet, will ich mich nur an das Endergebnis halten: danach soll der
Mathematiker, um eine einfache geometrische Beziehung in abstracto
auszudrücken, eines nur durch „mühsäligste“ Rechnung zu gewinnenden
„ungeheuren Zahlengewebes“ bedürfen. Ach nein! Das leistet er mit Hilfe einer
einzigen Formel. Und noch mehr: diese ersetzt ihm nicht nur die Anschauung,
sondern sie präzisiert mit absoluter Genauigkeit, was jene nur in grobem Umrisse
zeigt. Auch enthält eine einzige Formel unendlich viel mehr als sämtliche
Logarithmentafeln der Erde: denn sie umfaßt die unbegrenzte Mannigfaltigkeit
aller überhaupt denkbaren Fälle, während jene Logarithmentafeln, mögen sie
noch so zahlreich und noch so dick sein, immer nur auf eine begrenzte Anzahl
von bestimmten Fällen sich erstrecken können. Von der wahren Bedeutung und
der wunderbaren Kraft einer analytischen Formel hat Schopenhauer
gar keine
Vorstellung. Die Analysis, die nach seiner Meinung nur mit Hilfe „ungeheurer
Zahlengewebe“, d. h. Tabellen sich verständlich macht, besitzt dazu ein
unendlich viel ausdrucksvolleres und kürzeres Hilfsmittel: die Funktion,
gewissermaßen eine auf den minimalen Umfang von wenigen Zeichen reduzierte
Tabelle von unbegrenzter Feinheit. Die Analysis begnügt sich nicht, wie die
Algebra, zu fragen: „Wie berechnet man aus einer Gleichung, die neben gewissen
gegebenen Zahlen eine unbekannte Zahl y enthält, dieses unbekannte y?“
Vielmehr nimmt sie ihren Ausgang von der folgenden weit allgemeineren
Fragestellung (in welcher offenbar die ebengenannte als spezieller Fall enthalten
ist): „Welche Folge von Zahlenwerten durchläuft jenes y, wenn die betreffende
Gleichung außer den fest gegebenen Zahlen noch eine sogenannte veränderliche
Zahl enthält, d. h. einen Buchstaben x, an dessen Stelle man sich successive eine
Menge verschiedener Zahlen, z. B. jede überhaupt mögliche Zahl gesetzt denkt?“
Einen derartigen Zusammenhang zwischen zwei gleichzeitig
(Seite 364)
miteinander veränderlichen Zahlen x und y, wobei also gerade wie in einer Tabelle mit
zwei, x und y überschriebenen Kolonnen, jedem Zahlenwerte x immer wieder ein
gewisser Zahlenwert y zugehört (eventuell auch deren mehrere), bezeichnet der
Mathematiker mit dem Ausdruck: es sei y eine Funktion von x.
Der Nutzen und die Wichtigkeit des soeben rein arithmetisch definierten
Funktions-Begriffes dürfte einigermaßen deutlich werden, wenn wir auf seinen
geometrischen Ursprung und damit zugleich auf eine seiner fruchtbarsten
Anwendungen in Kürze eingehen, nämlich auf den Grundgedanken der
sogenannten analytischen Geometrie, deren Erfindung durch Cartesius
(Descartes
1637) und Fermat
(ungefähr gleichzeitig) den vollständigen Bruch
mit der bis dahin allein herrschenden geometrischen Tradition der Griechen
und den Beginn einer ganz neuen mathematischen Ära bezeichnet. Man denke
sich auf einem Blatte quadratisch liniierten Papieres, wie es die Anfänger
zum Rechnen benutzen, die Vertikal-, wie auch die Horizontal-Linien mit den
Nummern 0, 1, 2 ... u. s. f. versehen. Dann ist durch die Aussage: „es liege ein
Punkt in einer bestimmten Vertikale, z. B. Nr. 3. und einer bestimmten
Horizontale, z. B. Nr. 5“ —, offenbar ein einziger Punkt vollständig bestimmt.
Das hierbei auftretende Zahlenpaar (3, 5)
kann also dazu dienen, einen
bestimmten Punkt eindeutig zu charakterisieren. Denkt man sich jetzt neue
Vertikalen und Horizontalen gezogen, welche die bisher vorhandenen
Zwischenräume gerade halbieren, und numeriert dieselben demgemäß mit ½,
1½, 2½ ... u. s. f., so ist ohne weiteres klar, daß jetzt, auch Zahlenpaare,
wie: (3½, 5), (8, 5½), (3½, 5½), je einen bestimmten Punkt
charakterisieren. Durch Fortsetzung dieser Schlußweise und Heranziehung
gewisser Verallgemeinerungen des Zahlbegriffs (auf die ich hier nicht eingehe)
gelangt man zu dem Resultate: Man kann jedem Punkte einer Ebene ein ganz
bestimmtes Zahlenpaar (x, y) zuordnen, welches man als seine Koordinaten
bezeichnet, und umgekehrt entspricht dann auch jedem Zahlenpaare (x, y) ein
und nur ein bestimmter Punkt.
Ist jetzt in der fraglichen Ebene irgend eine Kurve, d. h. eine beliebige
krumme Linie verzeichnet, so können wir auf Grund des eben Gesagten die
Gesamtheit ihrer Punkte ersetzen durch einen Komplex von unendlich vielen
Zahlenpaaren (x, y). Zu jeder hierbei vorkommenden Zahl x gehört also
(mindestens) eine bestimmte Zahl y; das ist aber genau dasselbe, was wir
oben durch den Ausdruck bezeichneten: y ist eine Funktion von x. Mit anderen
Worten: es findet eine funktionale Beziehung, d. h. eine Gleichung zwischen den
beiden Veränderlichen x und y statt, welche gewissermaßen als das
arithmetische Abbild jener Kurve erscheint und schlechthin die Gleichung der
Kurve genannt wird. Umgekehrt wird man in entsprechender Weise für eine
Gleichung zwischen x and y eine gewisse Kurve als geometrisches Abbild
erhalten. Diese Wechselbeziehung zwischen Kurven und Gleichungen gestattet
dem Mathematiker, die Eigenschaften der Kurven an ihren Gleichungen zu
studieren, und auf arithmetischem Wege gewonnene Erkenntnisse in
geometrische Anschauung umzusetzen. Gleichwie der Musiker imstande ist, aus
dem bloßen Anblicke einer Partitur sich eine akustische Vorstellung von dem
Eindrucke eines nie zuvor gehörten Tonstückes zu bilden, so liefert dem
Mathematiker die Gleichung einer Kurve, die er nie gesehen, ein
vollkommenes Bild ihres Verlaufes. Ja noch mehr: wie dem
(Seite 365)
Musiker die Partitur oft Feinheiten enthüllt, die seinem Ohre bei der Komplikation
und dem raschen Wechsel der Gehöreindrücke entgehen würden, so ist die
Einsicht, die der Mathematiker der Gleichung einer Kurve entnimmt, eine viel
tiefere als die durch bloße Anschauung vermittelte. Denn abgesehen von der
schon oben kurz hervorgehobenen, an und für sich viel größeren Präzision der
arithmetischen Darstellung gegenüber der bloßen Anschauung, besitzt der
Mathematiker in dem von Newton
und Leibniz
(1675) erfundenen
Infinitesimal-Kalkül ein mit gleichsam mikroskopischer Schärfe arbeitendes
Instrument der rechnerischen Analyse.
Diese Betrachtungen lassen sich auch leicht von der Ebene auf den Raum übertragen. Und ähnliche Dienste wie der Geometrie leistet die Einführung des Funktions-Begriffs der Mechanik. Wie Lage, also die Koordinaten eines beweglichen Punktes erscheinen hier als Funktionen einer neuen Veränderlichen, der Zeit (die man sich, von einem bestimmten Momente an nach irgend einer Zeiteinheit gemessenen, als bloße Zahl vorzustellen hat); und die Differentialrechnung gibt die nötigen Mittel an die Hand, um auch Begriffe, wie Geschwindigkeit, Beschleunigung analytisch zu formulieren, d. h. in Funktionsbegriffe umzusetzen. Die Auffindung von Bewegungsgesetzen wird auf diese Weise wieder auf das Stadium gewisser Funktionalbeziehungen (Integration von Differentialgleichungen), also auf „Analysis“ zurückgeführt.
Für Schopenhauer
, nach dessen Meinung „die Mathematik, wie sie von
Eukleides
als Wissenschaft aufgestellt wurde, bis auf den heutigen Tag
geblieben ist“(365-1),
existiert das alles nicht. „Rechnungen“, sagt
er(365-2),
„haben bloß
Wert für die Praxis, nicht für die Theorie. Sogar kann man sagen, wo das
Rechnen anfängt, hört das Verstehen auf. Denn der mit Zahlen beschäftigte Kopf
ist, während er rechnet, dem kausalen Zusammenhang des physischen Hergangs
gänzlich entfremdet: er steckt in lauter abstrakten Zahlbegriffen. Das Resultat
besagt nie mehr als Wieviel, nie Was.“
Und an einer anderen Stelle(365-3): „Sie hören nicht auf, die Zuverlässigkeit und Gewißheit der Mathematik zu rühmen. Aber was hilft es mir, noch so gewiß und zuverlässig etwas zu wissen, daran mir gar nichts gelegen ist — das Wieviel.“
Ich hoffe, die zuvor gegebenen, freilich recht unvollkommenen Andeutungen werden immerhin erkennen lassenn, daß die auf dem Funktionsbegriff aufgebaute Analysis eben nicht bloß auf die Frage Wieviel, sondern ganz wesentlich auf die Frage Was antwortet.(365-4) Sie zeigt (wenn wir des leichteren Verständnisses halber von der reinen Funktionslehre absehend, uns auf deren Anwendungen beschränken) z. B. nicht nur, wie man etwa (Seite 366) die Länge eines Kurvenbogens, den Inhalt eines irgendwie begrenzten Flächenstückes berechnet, sondern sie gibt Auskunft über die allgemeinen Eigenschaften und Lagenverhältnisse geometrischer Gebilde. Sie erfindet dem Astronomen und Physiker nicht bloß die Formeln zur Berechnung irgendwelcher Entfernungen, Zeiten, Geschwindigkeiten, physikalischen Konstanten; sie verschafft ihm vielmehr Einsicht in die Gesetze der Bewegungsvorgänge, lehrt ihn aus gewonnenen Erfahrungen zukünftige voraussagen und liefert ihm die Hilfsmittel zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis, d. h. zur Zurückführung ganzer Gruppen verschiedener oft äußerst heterogener Erscheinungen auf ein Minimum einfacher Grundgesetze.
Daß der Mathematiker, solange er rechnet, dem kausalen Zusammenhange eines Vorganges mehr oder weniger entfremdet ist, darf zugegeben werden: liegt doch gerade darin die erstaunliche Kraft der Analysis, daß die ihr eigentümliche Zeichensprache gestattet, verwickelte Gedankenreihen durch einfache Zeichenoperationen zu ersetzen, ohne daß derjenige, welcher sich ihrer zu bedienen versteht, genötigt ist, den gedanklichen Inhalt dieser Operationen immer wieder in alten Einzelheiten nachzuprüfen. Es wird doch auch niemandem einfallen, allemal, wenn ihm eine tadellose Reichsbanknote in Zahlung gegeben wird, nach Berlin zu reisen, um sich zu überzeugen, ob die Reichsbank-Hauptkasse ihm, wie geschrieben steht, den Betrag bar ausbezahlt. Wesentlich ist eben nur, daß jede analytische Zeichenoperation in ihrer Anwendung auf Größenbeziehungen einen bestimmten Gedankeninhalt repräsentiert und daß zwar nicht bloß „Rechnen“ an sich, d. h. das mechanische Operieren mit gewissen Symbolen, wohl aber die Auflösung jener Operationen in ihren Gedankeninhalt auch wirkliche Einsicht in das Zustandekommen des Endergebnisses verschafft. Es wäre nicht schwierig, das an einfacheren Fällen vollständig durchzuführen. Andrerseits soll nicht geleugnet weiden, daß mit zunehmender Komplikation der Probleme die Schwierigkeit und Weitläufigkeit der gedanklichen Analyse ins Ungemessene wächst. Das Gebiet, über welches die Sprache der Analysis ihre Macht erstreckt, ist zwar ein relativ begrenztes: doch innerhalb desselben ist sie der gewöhnlichen Sprache so unendlich überlegen, daß diese schon nach wenigen Schritten es aufgeben muß, ihr bis ans Ziel zu folgen. Der Mathematiker aber, der in jener wunderbar kondensierten Sprache zu denken versteht, ist vom mechanischen Rechner himmelweit verschieden.
Es kann nach dem bisher Gesagten nicht wundernehmen. daß
Schopenhauer
von dem allgemeinen Bildungswert der Mathematik eine
überaus geringe Meinung hat. Im Anschlusse an eine Abhandlung des
schottischen Philosophen Hamilton
(366-1),
auf die wir noch zurückkommen
werden, gelangt er zu dem folgenden, für die Mathematik nicht eben
schmeichelhaften Endergebnis(366-2):
„Der einzige unmittelbare Nutzen, welcher der
Mathematik gelassen
(Seite 367)
wird, ist, daß sie unstäte und flatterhafte Köpfe gewöhnen kann, ihre
Aufmerksamkeit zu fixieren. Sogar Cartesius
, der doch selbst als Mathematiker
berühmt war, urteilt ebenso über die Mathematik. In der Vie de Descartes par
Baillet 1693 heißt es. Liv. II, ch. 6, p. 54: Seine eigene Erfahrung hatte ihn von
dem geringen Nutzen der Mathematik überzeugt, zumal wenn man sie nur wegen
ihrer selbst treibt. . . . Nichts erschien ihm zweckloser, als mit bloßen Zahlen und
eingebildeten Figuren sich zu beschäftigen u. s. f.“(367-1)
Ich kann nicht verhehlen, daß ein so vernichtendes Urteil gerade aus dem
Munde eines bahnbrechenden Mathematikers und auch sonst so vielseitigen und
tiefen Denkers wie Descartes
seinerzeit einen großen Eindruck auf mich machte.
Es war mir daher ein wahrer Trost, als ich gelegentlich entdeckte, daß auch
dieses Schopenhauer
sche Zitat auf einer Fälschung beruht. Durch
Verstümmelung des Zusammenhanges hat es Schopenhauer
wahrhaftig fertig
gebracht, den wahren Sinn von Descartes'
Urteil in das vollkommene Gegenteil
zu verwandeln. Zwischen den beiden von Schopenhauer
zitierten Sätzen steht in
Baillets
Descartes
-Biographie die Bemerknng, daß zu einer gewissen Zeit,
nämlich 1623, Descartes
aufhörte, sich mit Mathematik zu
beschäftigen.(367-2)
Zur Motivierung dieser Tatsache
(Seite 368)
folgt dann der zweite von Schopenhauer
angeführte Satz: „Nichts erschien ihm
zweckloser, als mit bloßen Zahlen und eingebildeten Figuren sich zu
beschäftigen“, aber mit dem von Schopenhauer
unterdrückten Zusatze: „ohne
seine Blicke weiter zu richten“, einer Einschränkung, durch welche jener Hauptsatz
schon an und für sich eine ganz andere Bedeutung bekommt. Sodann, nach einer
Bemerkung des Inhalts, daß Descartes
die mathematischen Beweise — wohl
gemerkt die mathematischen Beweise jener Zeit — oberflächlich und
unzulänglich fand, heißt es weiter: „Aber man darf sagen, daß er das
Spezialstudium der Arithmetik und Geometrie nur aufgab, um sich ganz der
Beschäftigung mit jener allgemeinen, aber wahren und unfehlbaren Wissenschaft
hinzugeben, die von den Griechen scharfsinnig Mathesis (d. h. „Wissenschaft“
überhaupt) genannt wurde, und die alle mathematischen Disziplinen als Teile
enthält. Er behauptete, daß diese Spezialkenntnisse sich mit Verhältnissen,
Proportionen und Maßbeziehungen beschäftigen müßten, wenn sie den Namen
Mathematik verdienen sollten. Und er schloß daraus, daß es eine allgemeine
Wissenschaft gebe, zur Aufklärung aller Fragen, die man in bezug auf
Verhältnisse, Proportionen und Maßbeziehungen stellen könnte, sofern man diese
als losgelöst von jeder Materie betrachtet; und daß diese allgemeine
Wissenschaft, mit vollem Rechte den Namen Mathesis oder Allgemeine
Mathematik tragen dürfte, weil sie alles in sich enthält, was innerhalb unserer
sonstigen Kenntnisse den Namen Wissenschaft und Mathematik verdient.
Hierin liegt die Lösung der 8ehwierigkeit, welche man darin finden müßte,
anzunehmen, daß Descartes
gänzlich auf die Mathematik verzichtet haben sollte
— zu einer Zeit, wo es ihm nicht mehr frei stand, darin unwissend zu sein.“
Mit dieser auf das Jahr 1623 bezüglichen Aussage vergleiche man nun die
Tatsache, daß Descartes
im Jahre 1637 seine berühmte Geometrie publizierte,
jenes Wert, welches eben die früher erwähnten Fundamente der analytischen
Geometrie enthält und eine der wichtigsten Grundlagen unserer modernen
Mathematik bildet. Wie sehr Descartes
der Neuheit
(Seite 369)
und Tragweite seiner Erfindung sich bewußt war, beweist folgende Stelle aus
einem seiner Briefe (an Pater Mersenne
)369-1):
„Es ist mir recht peinlich, mich selbst
loben zu müssen. Aber da nur wenige Leute fähig sind, meine Geometrie zu
verstehen, und da Sie mich danach fragen, was ich von ihr halte, so scheint es mir
angemessen. Ihnen zu sagen: Sie ist genau so, daß ich nichts mehr wünsche. In
meiner Dioptrik und der Schrift über die Meteore habe ich wohl den Leser zu
überzeugen versucht, daß meine Methode besser sei als die bisher übliche; aber
ich behaupte, durch meine Geometrie das wirklich bewiesen zu haben.“
Und nachdem er hervorgehoben, daß die Tragweite seiner Methode alles frühere weit übertreffe. fügt er nach Erwähnung der hauptsächlichsten zeitgenössischen Produktionen hinzu: „Keiner dieser Modernen hat etwas zustande gebracht, was nicht schon die Alten gekannt haben.“(369-2)
Überhaupt richtet sich alles, was er gelegentlich an der Mathematik auszusetzen scheint, niemals gegen diese selbst, sondern immer nur gegen ihre mangelhafte Behandlung. Arithmetik und Geometrie erklärt er ausdrücklich für die einzigen Wissenschaften, die nichts Falsches oder Ungewisses enthalten(369-3): nur an den Autoren, die sich damit befaßt hätten, sei mancherlei auszusetzen und nur sie treffe die Schuld, wenn gerade viele gut beanlagte Geister diese Wissenschaften als leere und kindliche Spielereien verachtet oder nach wenigen Anfangsversuchen wieder aufgegeben hätten.(369-4)
Daß Schopenhauer
trotz alledem gewagt hat, diesen großen Mathematiker
als einen seiner Eideshelfer für den Unwert der Mathematik zu zitieren, muß nach
dem Gesagten als eine unerhörte und nichtswürdige Geschichtsfälschung
bezeichnet werden.
Charakteristisch für das unglaublich niedrige Niveau, auf welches
Schopenhauer
bei seinem Feldzuge gegen die Mathematik herabsteigt, ist der
Umstand, daß er die oben erwähnte Hamilton
sche Abhandlung als „eine sehr
gründliche und kenntnisreiche“ dringend empfiehlt. Das Ergebnis derselben,
nämlich, daß die Mathematik der allgemeinen Ausbildung des Geistes
keineswegs förderlich, ja sogar entschieden hinderlich sei, werde „nicht nur durch
gründliche dianoiologische Untersuchungen der mathematischen Geistestätigkeit
dargetan, sondern auch durch eine sehr gelehrte Anhäufung von Beispielen und
Autoritäten befestigt.“ — Ich kann es mir, um den Geist der so dringend
empfohlenen Schrift zu kennzeichnen, nicht versagen, einen großen Teil jener
„Autoritäten“ wenigstens zu nennen: Aristo von Chios;
(Seite 370)
Philoponus; Fracastorius; Klumpp; Kenelm Digby; Sorbière; Poiret;
Buddeus; Barbeyrac; Salat; Kirwan: Monboddo; Gundling
u. s. f. Ich
muß zu meiner Schande gestehen, daß ich vor der Lektüre der Hamilton
schen
Abhandlung keine einzige dieser glänzenden Autoritäten auch nur dem Namen
nach kannte; zu meiner Entschuldigung dient vielleicht der Umstand, daß ich
einzelne von ihnen sogar nicht einmal a posteriori in den Adreßbüchern der
Wissenschaft ausfindig machen konnte. Freilich wird auch eine Anzahl
bekannterer Namen ins Treffen geführt: zunächst natürlich, wie es für einem
gründlichen Philosophen sich ziemt, die Vor-Euklidiker Sokrates, Plato,
Aristoteles;
dann Cicero, Seneca. Plinius; Albertus Magnus;
der Mystiker
and Kabbalist Pico von Mirandula;
der Dichter Coleridge;
der Historiker
Gibbon;
Frau v. Staël;
der Memoirenschriftsteller Walpole;
die
Philologen Wolf
und Bernhardi
u. s. f. — lauter Leute, die keinesfalls
durch ein Übermaß mathematischer Kenntnisse daran verhindert waren,
über den Wert der Mathematik sich ein maßgebendes Urteil zu bilden. Als
besonders schwerwiegend erscheinen dann noch der hl. Augustinus
, der die
Mathematik „als von Gott abwendend“, der hl. Hieronymus
, der sie als
„nicht die Frömmigkeit lehrend“ erwähnt, während der hl. Ambrosius
erklärt: „Sich mit Astronomie und Geometrie beschäftigen, heiße die Sache
der Erlösung verlassen und die des Irrtums ergreifen.“ Fast noch
Schlimmeres freilich läßt uns Hamilton
durch den Mund des Mystikers
Poiret
, „eines der tiefsten Denker seiner Zeit“, vernehmen: „Der
mathematische Genius pflegt die Gemüter seiner allzu heftigen Anhänger mit
den bösartigsten Neigungen zu erfüllen. Denn er infiziert sie mit Fatalismus,
religiöser Gleichgültigkeit, Unglauben, Roheit und einem nahezu unheilbaren
Hochmut.“ — Sapienti sat! Und ferne sei es von mir, den Frankfurter
Philosophen um solche Bundesgenossen beneiden zu wollen.
Wenn Hamilton
der Mathematik vorwirft(370-1),
daß ihr intensives Studium
den Geist für anderweitige Betätigung, wie sie z. B. die Philosophie und das
Leben erfordern, unfähig macht, so meine ich, der erste Teil dieses Vorwurfs
dürfte dahin zu berichtigen sein, daß allerdings die Mathematiker für
nebelhafte und haltlose metaphysische Spekulationen wenig Sinn und Neigung
zu besitzen pflegen. Und wenn sie es demnach zumeist für nützlicher hielten,
mathematische Werte zu schaffen, statt den Wust blühenden Unsinns, den
zahlreiche Metaphysiker im Laufe der Jahrhunderte angehäuft haben,
vermehren zu helfen, so kann ich darin allenfalls nur ein Verdienst, sicherlich
aber kein Zeichen eines geistigen Defektes erblicken. Andrerseits genügt es
wohl, die Namen Descartes
und Leibniz
zu nennen, um nachzuweisen, daß
führende Mathematiker auch führende Philosophen sein können.
Wird aber den Mathematikern nachgesagt, daß ihre Wissenschaft sie
den Forderungen des praktischen Lebens entfremde, so trifft dieser Vorwurf,
soweit er berechtigt ist, die Mathematiker nicht mehr als die Gelehrten
überhaupt. Um sich zu überzeugen, daß die Mathematik an sich hieran völlig
unschuldig ist, braucht man nur den Blick zu unseren westlichen Nachbarn
zu wenden, bei denen seit dem 18. Jahrhundert gerade die Mathematiker eine
ganz hervorragende Rolle im öffentlichen Leben gespielt haben, nicht etwa
bloße Auch-Mathematiker, sondern zum Teil produktive mathematische
(Seite 371)
Geister hohen und höchsten Ranges. Um nur die bedeutendsten zu nennen:
Gaspard Monge
(1746 bis 1818), den Schöpfer der Géométrie déskriptive
(1799) und Verfasser der Applications de l'analyse à la géométrie (1801),
zweier klassischer Werke, deren Einfluß bis auf die heutige Zeit reicht, finden
wir 1792 als Marineminister; im folgenden Jahre leistet er geradezu
Märchenhaftes in der Herbeischaffung von Kriegsmaterial für die
Landesverteidigung, gründet 1794 die Ecole polytechnique, begleitet 1798
seinen Freund Napoleon Bonaparte
nach Ägypten, führt dort ein kriegerisches,
an Gefahren und Entbehrungen überreiches Leben und ist dabei zugleich die Seele
der wissenschaftlichen Untersuchungen zur Erforschung der ägyptischen
Altertümer. Lazare Carnot
(1753–1823), des Konvents und
später Bonapartes
genialer Kriegsminister, schreibt mitten in seiner erfolgreichen politischen
Wirksamkeit seine vielgenannten Réflexions sur la métaphysique du calcul
infinitésimal und seine die Entwicklung der neueren Geometrie vorbereitende
Géométrie de position. Joseph Fourier
(1768 bis 1830), der unsterbliche
Schöpfer der Théorie analytique de la chaleur, gehörte auch zu den
Teilnehmern der Napoleon
ischen Expedition nach Ägypten. Als Kommissär
beim ägyptischen Divan entfaltet er eine geradezu glänzende diplomatische
Tätigkeit, unterdrückt mit höchster Umsicht und Unerschrockenheit einen
Aufstand der Bewohner von Kairo, publiziert bei alledem eine Anzahl
mathematischer Abhandlungen und ist zugleich auch eifriger Mitarbeiter an der
archäologischen Description de l'Egypte. Später (1802) wird er Präfekt des
Isère-Departements und vollbringt die lange angestrebte Austrocknung der
Sümpfe von Bourgoin.(371-1)
François Arago
(1786–1853),
der Erbe von Monges
geometrischem Lehrstuhl, bekannter durch seine hervorragenden physikalischen
und astronomischen Leistungen, seit 1830 beständiger Sekretär der Akademie
und als solcher „unerreicht und ohnegleichen“, war zugleich unter dem
Juli-Königtum als Deputierter der gefürchtete Redner der Opposition. Bei der
provisorischen Regierung von 1848 finden wir ihn als Minister des Krieges und
der Marine, später als energisches und durch persönliche Tapferkeit
ausgezeichnetes Mitglied der Exekutivkommission.
Jean Victor Poncelet
(371-2)
macht 1812 als Leutnant den russischen Feldzug mit, wird in der Schlacht bei
Krasnoi (18. November 1812) verwundet und gefangen, nach Saratow an der
Wolga geschleppt und entwirft dort in der Gefangenschaft, von allen
wissenschaftlichen Hilfsmitteln entblößt, die Grundlagen seines epochemachenden
Werkes: Traité des proprietés projectives des figures, das ihm, als dem Begründer
der projektiven Geometrie, einen hervorragenden Platz unter den Geometern
aller Zeiten sichert. Nach Frankreich zurückgekehrt (1814), tritt er wieder in
die Armee ein, entwickelt später, trotz gleichzeitiger Fortsetzung seiner rein
geometrischen Arbeiten, eine umfangreiche Tätigkeit als Genie-Offizier, wird
1848 General,
(Seite 372)
in welcher Eigenschaft er noch 1852 die vereinigten Nationalgarden kommandiert.
Schließlich noch einen Namen, der zwar nicht die wissenschaftliche Bedeutung
der bisher genannten, dafür aber den Vorzug der Aktualität besitzt: Freycinet
,
welcher als Minister und Ministerpräsident durch seine verständige and
friedliche Politik sich auch in Deutschland einen guten Namen gemacht hat, ist
Mathematiker und ein keineswegs unbedeutender Mathematiker: er hat außer
einem zweibändigen Traité de mécanique rationelle zwei beachtenswerte Bücher
über die philosophischen Grundlagen der Infinitesimal-Analysis und der
Mechanik publiziert.(372-1)
Die vorstehenden Beispiele, die sich leicht vermehren
ließen, dürften für unseren Zweck genügen Wenn in Deutschland die Göttin
Justitia nicht die leidige Gewohnheit hätte, die Ministerportefeuilles nur ihren
eigenen Sprößlingen in die Wiege zu legen, wer weiß, ob nicht schon mancher
deutsche Mathematiker einen trefflichen Minister abgegeben hätte!
Ohne auf weitere Einzelheiten der Hamilton
schen Abhandlung
einzugehen, möchte ich nur, an eine besonders prägnante und auf den ersten
Blick verblüffend annehmbar erscheinende Stelle anknüpfend, nunmehr versuchen,
festzustellen, welchen Bildungswert wir der Mathematik etwa beimessen können,
soweit sie als Lehrgegenstand der höheren Schulen, insbesondere der
humanistischen Gymnasien, in Betracht kommt. Selbst ihre Verächter pflegen in
diesem Zusammenhange meist zuzugestehen, daß sie als eine Art praktische
Schule der Logik vor allen anderen Wissenschaften geeignet sei, die formale
Verstandesbildung wesentlich zu fördern: in der Tat verdankte sie ja zunächst
hauptsächlich diesem Umstande ihre Aufnahme in die Lehrpläne der
Gelehrtenschulen. Hiergegen bemerkt nun
Hamilton
(372-2):
„Die Kunst, richtig zu
schließen, wird sicherlich nicht durch ein Verfahren gelehrt, bei welchem es kein
unrichtiges Schließen gibt. Durch Vorübung in einem Bassin voll Quecksilber
lernen wir nicht im Wasser schwimmen, Wenn also die Mathematik empfohlen
wird, um unserer natürlichen Neigung zum Irrtum entgegenzuwirken, warum
schlägt man nicht auch das Quecksilber vor, um unsere natürliche Neigung zum
Untersinken zu beseitigen?“
Nun, darauf wäre zu erwidern: Man schlagt es in Wahrheit nicht bloß vor,
sondern man wendet es sogar konsequent an — Notabene, nachdem man es von
den ihm anhaftenden metaphysischen Schlacken gründlich gereinigt hat. Der
Metaphysiker Hamilton
übersieht nämlich, daß das spezifische Gewicht des
Quecksilbers dreizehnmal so groß ist als das des Menschen, so daß der letztere
überhaupt nicht in der Lage wäre, tief genug einzutauchen, um darin
Schwimmbewegungen auszuführen Und das wäre doch erforderlich, wenn das
angewendete Bild überhaupt einen Sinn haben soll — denn logische
Schwimmbewegungen, d. h. Schlüsse werden ja wirklich in der Mathematik
ausgeführt. Hamilton will also in Wahrheit nur sagen, der Mensch könne nicht
die Fertigkeit erwerben, im Wasser zu schwimmen, wenn er seine Übungen in
einer Flüssigkeit anstellt, die spezifisch so schwer sei, daß er darin nicht
untersinken könne. Und nun sage ich: der Kulturmensch pflegt wirklich in einem
solchen Quasi-Quecksilber seine Schwimmstudien
(Seite 373)
zu machen, nachdem Archimedes
, der glücklicherweise ein Mathematiker und
kein Metaphysiker war, ihn gelehrt hat, wie er sich eine solche Flüssigkeit aus
gewöhnlichem Wasser in der denkbar einfachsten und billigsten Weise herstellen
kann; nämlich, indem er, statt die Flüssigkeit spezifisch schwerer zu machen,
sich selbst in ein spezifisch leichteres Wesen verwandelt Er bindet sich eben
einfach einen Schwimmgürtel um und erlernt sodann die Technik des
Schwimmens, nicht obgleich, sondern gerade weil er nunmehr gegen das
Untersinken gesichert ist. Und wenn er dann diese Technik vollständig beherrscht,
so hält sie ihn schließlich auch ohne Schwimmgürtel über Wasser, zumal wenn
durch allmähliche Abschwächung seiner Wirkung er sich nach and nach davon
entwöhnt. In ganz analoger Weise wirkt auch ein richtig geleiteter mathematischer
Schulunterricht. Nur die Anfangsgründe der Geometrie sind von der Art, daß sie,
bei genügender Präzisierung der zugrunde gelegten Axiome, die Möglichkeit
logischer Irrtümer so ziemlich ausschließen. Das gilt aber nicht einmal in gleichem
Maße von den Elementen der Arithmetik und Algebra. Und wenn nun gar der
Schüler beginnt, die erlernten Sätze zur Lösung von geometrischen und
algebraisch-geometrischen Aufgaben zu verwerten, geometrische und algebraische
Erkenntnisse auf physikalische Probleme anzuwenden, konkrete Fragen mannigfacher
Art in die abstrakte Form der mathematischen Zeichensprache, z. B. in
algebraische Gleichungen, zu übersetzen, so wird er zu Irrtümern und
Fehlschlüssen ausreichende Gelegenheit finden, um allmählich auch ohne
Euklid
ischen Schwimmgürtel schwimmen zu lernen.
Im übrigen schätzt man die
Einwirkung der Mathematik auf die formale Verständnisbildung von vornherein
viel zu niedrig ein, wenn man, wie häufig geschieht, lediglich annimmt, sie sei nur
eine nützliche Übung für die Kunst, logisch zu schließen, d. h. aus gegebenen
Prämissen richtige Schlußfolgerungen zu ziehen. Denn schon bei zweckmäßiger
Unterweisung in den Hauptsätzen der Elementar-Geometrie besteht der bei
weitem schwierigere Teil der Verstandestätigkeit nicht in der Schlußbildung
selbst, sondern gerade in der Auffindung der zur Fortführung des
Schlußverfahrens tauglichen, durch genaue Beobachtung des Sachverhaltes und
geschickte Heranziehung schon erworbener Erkenntnisse zn gewinnenden
Prämissen. Und der weitere Verlauf eines guten mathematischen Unterrichts
bietet reiches Material, um den Schüler nicht bloß im richtigem Beobachten and
Schließen, sondern vor allem zu logischem und selbttätigem Denken anzuleiten.
Zugleich wird ihm eine unvergleichliche Gelegenheit gegeben, an scharfe und
genaue Begriffsbestimmungen sich zu gewöhnen, sowie Klarheit and Präzision
des sprachlichen Ausdrucks sich anzueignen — eine Gelegenheit, die freilich bei
weitem nicht genügend ausgenützt zu werden scheint, wenigstens so weit meine
bei Studenten gemachten Erfahrungen reichen. Fügt man hierzu noch die von der
Geometrie, insbesondere von deren stereometrischem Teile dargebotene Übung zur
Ausbildung des Anschauungsvermögens, so wird man die formalen
Bildungsmöglichkeiten, welche dem mathematischen Schulunterrichte
innewohnen, als überaus reichhaltige und wesentliche anerkennen müssen.
Fassen wir ferner die Mathematik, wie sie auf den Gymnasien gelehrt wird oder doch gelehrt werden sollte, dem Inhalte nach ins Auge, so wird man ihren Nutzen für die allgemeine geistige Ausbildung der Schüler vor allem darin zu suchen haben, daß sie unter den Lehrgegenständen der (Seite 374) einzige ist, welcher ihnen das Beispiel einer wirklichen Wissenschaft, als eines Inbegriffs wohlerworbener and systematisch verknüpfter Erkenntnisse gibt. Zweitens erweist sie sich als unentbehrlich für den Unterricht in der Physik und den Elementen der Astronomie (der sogenannten mathematischem Geographie), soll dieser, statt wirkliche Einsicht auch nur in die einfacheren, physikalischen und astronomischen Erscheinungen zu verschaffen, nicht zu einer bloßen Mitteilung empirischer Tatsachen herabsinken. Und drittens gestattet sie zahlreiche und nützliche Anwendungen auf mannigfache Fragen des praktischen Lebens (sogenannte Textgleichungen, Zinseszins- and Rentenrechnung. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Feldmeßkunde).
Aus dem Zusammenwirken von Form und Inhalt der Mathematik erwächst schließlich dem Schüler die Bekanntschaft mit Methoden, welche ihn befähigen, innerhalb gewisser, wenn auch bescheidener Grenzen selbständig zu produzieren und durch eigenes Nachdenken seine Erkenntnis zu erweitern. Die mit dieser Art der Betätigung verbundene Steigerung des geistigen Kraftgefühls und das allmähliche Erwachen geistiger Selbständigkeit darf wohl als das schönste und höchste Resultat der mathematischen Erziehung bezeichnet werden.
Obschon ich von der Richtigkeit der vorstehenden Darstellungen aufs tiefste
überzeugt bin, so kann ich mir nicht verhehlen, daß dieselben manches enthalten,
was sein sollte und wohl auch sein könnte, aber im allgemeinen nicht ist. Denn es
wäre abgeschmackt, leugnen zu wollen, daß bei einein großen, ja sogar bei dem
größeren Teile der Schüler die Früchte des mathematischen Unterrichts recht
kümmerliche sind. Man hat zur Erklärung dieser Tatsache das Märchen erfunden,
daß die Fähigkeit, das mathematische Schulpensum zu bewältigen, eine ganz
spezielle mathematische Begabung erfordere(374-1);
und gewisse, glücklicherweise
allmählich seltener werdende Schulphilologen, namentlich aber mitleidige Eltern
unternormal oder anormal begabter, oft aber auch nur schlechthin fauler Schüler
haben redlich dazu beigetragen, jenem Märchen in den weitesten Kreisen Glauben
zu verschaffen. Wenn zur Unterstützung dieses Glaubens häufig angeführt wird,
mit der relativen Seltenheit der mathematischen Begabung verhalte es sich
ähnlich, wie etwa bei der musikalischen, so kann man dieser Analogie zustimmen,
aber gerade um daraus die entgegengesetzten Konsequenzen zu ziehen. Gewiß ist
derjenige Grad von musikalischer Begabung, welcher erforderlich ist, um mit
Erfolg sich der Musik zu widmen oder gar schaffender Musiker zu werden, ein
relativ seltener. Aber ein gewisses Maß von musikalischer Begabung, welches
dazu befähigt, Freude an der Musik zu empfinden und bei richtiger Anleitung
auch mehr oder weniger wirkliches Verständnis dafür zu gewinnen, darf doch
geradezu als Regel angesehen werden. Wie wollte man sonst die dominierende
Rolle erklären, welche heutzutage die Musik nicht bloß innerhalb des eigentlichen
Kunstlebens, sondern im gesamten Kulturleben des Volkes spielt? — So besitzt
nach der Meinung aller Einsichtigen auch jeder normal begabte Schaler ein
genügendes Maß geistiger Fähigkeiten, um dem mathematischen Unterrichte das
nötige Verständnis
(Seite 375)
entgegenzubringen. „Den Gedankengang eines Platonischen Dialogs, einer
Horazischen Epistel scharf und genau darstellen, die Idee eines Shakespearischen
Dramas, den Charakter einer seiner Personen entwickeln, einer Dichtung
Goethes in alle ihre Beziehungen folgen, das sind Übungen, die eine Kraft
und Beweglichkeit der Intelligenz hervorzubringen geeignet sind, der auch die
Schwierigkeit mathematischer und physikalischer Begriffe und Methoden nicht
unüberwindlich sein wird“ — sagt
Friedrich Paulsen
(375-1),
freilich mit einer ganz
anderen Tendenz, als die hier vorliegende: nämlich, um zu beweisen, daß die
humanistischen Fächer für die logische Verstandesausbildung mindestens
dasselbe leisten was die Mathematik. Nun, ohne meinerseits diese nämliche
Folgerung an das obige Diktum knüpfen zu wollen, sein Inhalt erscheint mir
in wesentlichen zutreffend, nämlich, daß Schüler, die in den humanistischen
Fächern wirklich Tüchtiges leisten, auch für die Mathematik ausreichende
Begabung haben dürften. Zugleich wird man aber zugeben müssen, daß ein ganz
ansehnlicher Teil der Gymnasialabiturienten auch von all den schönen Dingen,
welche Paulsen
anführt, recht wenig vermag: Leute, welche es allenfalls dazu
bringen, über einen gewissen Vorrat gedächtnismäßig eingeprägter
Sprachkenntnisse und historischer Daten zu verfügen und nach bewährtem
Rezepte, mit dem nötigen Aufwande klassischer Zitate, moralischer
Gemeinplätze und patriotischer Phrasen, einen sogenannten deutschen Aufsatz
anzufertigen. Für deren mathematische Begabung einzustehen, fühle ich mich
in keiner Weise berufen.
Aber selbst, wenn man von dieser letzteren Kategorie absieht, so bleibt
immerhin die Tatsache bestehen, daß gar mancher unter den besseren Schülern nur
notdürftige Kenntnisse in der Mathematik erwirbt, ja daß nur eine
verhältnismäßig geringe Anzahl von Schülern aus dem mathematischen
Schulunterrichte sichtlichen und nachhaltigen Gewinn zieht. Ich will auch
nicht verschweigen, daß ein sehr angesehener mathematischer Kollege
(Professor M. Pasch
(375-2)
in Gießen) zur Erklärung dieser Erscheinung die
Hypothese aufgestellt hat, daß der menschlichen Natur das mathematische
Denken im Grunde zuwiderlaufen müsse. Ich kann mich dieser pessimistischen
Auffassung nicht anschließen und bin vielmehr geneigt, den Hauptgrund für
die wenig günstigen Ergebnisse des mathematischen Schulunterrichts in seiner
Unvollkommenheit zu erblicken. Daß heutzutage nicht wenige rein als
Broterwerb den mathematischen Lehrerberuf ergreifen, die dazu in keiner
Weise veranlagt sind, erwähne ich nur nebenbei. Nachdrücklich möchte ich
jedoch hervorheben, daß nach meinem Dafürhalten die Ausbildung der Lehrer
gerade in bezug auf denjenigen Punkt, der mir der wichtigste erscheint,
nicht bloß viel, sondern geradezu alles zu wünschen übrig läßt. Lehren ist eine
schwere Kunst und das Lehren der mathematischen Anfangsgründe der
schwersten eine. Nun wird man ja niemals darauf rechnen dürfen, durch
Unterweisung Künstler zu erziehen. Aber das Können, welches die Grundlage
jeder Kunst bildet, wird doch wohl am besten durch Unterweisung erworben,
ja es kann von jemandem, der nicht ein Genie oder wenigstens ein
hervorragendes Talent ist, überhaupt auf keinem anderen Wege gründlich
erlernt werden. In dieser Richtung bietet das Universitätsstudium dem
zukünftigen Lehrer der
(Seite 376)
Mathematik nicht die geringste Handhabe, was um so schwerer ins Gewicht fällt,
als in keinem anderen Lehrfache die Divergenz zwischen dem Inhalt der meisten
Universitätsvorlesungen and den Lehrgegenständen der Schule eine so
vollständige ist, wie gerade in der Mathematik. Ich möchte diese
Bemerkung nicht etwa in dem Sinne verstanden wissen, daß ich die mit jenen
Universitätsvorlesungen bezweckte höhere wissenschaftliche Ausbildung der
Lehrer für überflüssig halte: Im Gegenteil! Aber ebenso notwendig, ja noch
notwendiger wäre doch eine systematische Ausbildung in der Kunst,
Elementarmathematik zu lehren. Daß das in Preußen eingeführte und, wie ich
höre, auch für Bayern in Aussicht genommene sogenannte Probejahr der
Lehramtskandidaten diesen Zweck nicht erfüllen kann, liegt auf der Hand und
wird durch die Praxis bestätigt. Überdies will mir das gewohnheitsmäßige und
bewußte Experimentieren an Schülern der Unterklassen quasi in corpore vili vom
ethischen Standpunkte äußerst bedenklich erscheinen.
Was in Wahrheit not täte, das sind Universitätsvorlesungen und Seminarübungen aus dem Gebiete der mathematischen Pädagogik, welche sich auf alle einzelnen in den Mittelschulen zu lehrenden Disziplinen zu erstrecken hätten. Inwieweit dis jetzigen Vertreter der Universitätsmathematik für einen derartigen Zuwachs an Tätigkeit etwa noch Zeit, Neigung und — worauf es offenbar ganz wesentlich ankommt, — auch praktische Schulerfahrung besitzen, entzieht sich meiner Beurteilung. Aber, ohne etwa von mir auf andere schließen zu wollen, so würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Durchführung jenen Planes die Errichtung besonderer Lehrstühle für mathematische Pädagogik erfordern. Damit greift dann freilich diese ganze Erörterung in jenes Gebiet hinüber, in welchem bekanntlich die Gemütlichkeit aufhört: sie dürfte daher in unserer für höhere Kulturzwecke so äußerst geldknappen Zeit zunächst wenig Aussicht haben, aus dem Stadium mathematischer Idealisierung heraustretend, reale Gestalt zu gewinnen.
Etwas leichter realisierbare, wenn auch nicht allzu sanguinische Hoffnungen ließen sich vielleicht an die Bemerkung knüpfen, daß die Mathematik innerhalb des Lehrplanes der bayerischen humanistischen Gymnasien noch keineswegs denjenigen Platz entnimmt, welcher erforderlich wäre, um die in ihr enthaltenen, eben geschilderten Bildungsmöglichkeiten zu voller Entwicklung zu bringen. Zwar wird man es als einen Fortschritt begrüßen müssen, daß man neuerdings an Stelle der sphärischen Trigonometrie die Elemente der analytischen Geometrie eingeführt hat — vorausgesetzt, daß dabei weniger auf eine möglichst große Anzahl formaler Einzelkenntnisse, als auf die Herausarbeitung des Funktionsbegriffes und seiner graphischen Darstellung, so wie auf die Herleitung der für die Naturwissenschaften unentbehrlichen Haupteigenschaften der Kegelschnitte Gewicht gelegt und durch Behandlung des Tangentenproblems, etwa an der Parabel, ein Ausblick auf die Differentialrechnung geschaffen wird. Dagegen scheint mir das arithmetisch-algebraische Pensum noch einer mäßigen Abrundung nach oben zu bedürfen, wenn dasselbe einigermaßen den Charakter wissenschaftlicher Geschlossenheit und den durchaus wünschenswerten Kontakt mit den unteren Grenzen der höheren Mathematik erlangen soll.(376-1) (Ohne hier auf Einzelheiten (Seite 377) einzugehen(377-1), möchte ich nur, um jedes Mißverständnis auszuschließen, bemerken, daß ich mit dem Gesagten nicht etwa die Einführung der Elemente der Differentialrechnung befürworten will.) Schließlich müßte noch für etwas reichlichere, das mathematische Interesse der Schüler anregende und an sich nützliche Anwendungen etwas mehr Platz geschaffen werden. Diese Forderungen dürften manchem als äußerst anspruchsvoll und verwerflich erscheinen. Demgegenüber möchte ich hervorheben, daß ja die Mathematik auf den humanistischen Gymnasien offiziell neben Deutsch und Latein als eines der drei Hauptfächer gilt. Wie reimt sich hiermit die Tatsache zusammen, daß in der Oberklasse, also dort, wo der Geist der Schüler am reifsten ist oder doch sein soll, von 27 obligatorischen Wochenstunden im ganzen 4, sage vier, nicht etwa auf Mathematik, nein auf Mathematik, Physik und mathematische Geographie entfallen, also zirka ein Siebentel aller Unterrichtsstunden gegen 12 Stunden Latein und Griechisch? In der siebenten und achten Klasse gibt es allerdings je 5 Stunden Mathematik und Physik, in der sechsten 4 Stunden (keine Physik); dagegen auf den preußischen Gymnasien, allerdings bei 28 Wochenstunden, je 4 Stunden Mathematik und 2 Stunden Physik in jeder der genannten vier oberen Klassen. Ich sollte meinen, es müßte zu ermöglichen sein, ohne Vermehrung der obligatorischen Schulstunden und ohne den Charakter des Gymnasiums, als eines „humanistischen“ wesentlich zu beeinträchtigen, die Anzahl der Mathematik- und Physikstunden wenigstens in den drei oberen Klassen auf sechs zu erhöhen. Das könnte natürlich nur auf Kosten der klassischen Sprachen geschehen. Aber sollte wirklich die „humanistische“ Seite der Bildung eine so merkliche Schädigung erleiden, wenn man sich entschlösse an der Klassikerlektüre einige Einsparungen zu machen? Von dem unechten Pathos und der geschwollenen, bis zur Widerwärtigkeit selbstgefälligen Rhetorik der Ciceronischen Reden dürften die Schüler schon durch Verabreichung ziemlich bescheidener Dosen einen ausreichenden Begriff bekommen, and es wäre lediglich ein Akt weiser und gerechter Ökonomie, wenn man ein reichlicheres Auskosten des Entzückens, welches ja die Latinisten beim Genusse der mehr wort- als inhaltreichen Ciceronischen Perioden erfahrungsgemäß empfinden sollen, dem Universitätsstudium der zukünftigen Philologen aufsparte. Und sollte wirklich die trostlos-öde Lektüre von Ciceros philosophischen Schriften ein so unentbehrliches Hilfsmittel allgemeiner Geistesbildung darbieten? Ja, ich kann mich sogar des ketzerischen Gedankens nicht erwehren, daß der geistige Gewinn, den jugendliche Köpfe aus der Beschäftigung mit der ermüdend weitläufigen Dialektik Platonischer Dialoge, trotz aller darin (Seite 378) verborgenen Weisheit, etwa davontragen mögen, wohl wesentlich überschätzt wird; und daß das mühselige und zeitraubende Zusammenbuchstabieren Sophokleischer Chöre eher dazu beitragen dürfte, den Schülern die Sophokles-Lektüre zu verleiden, als bei ihnen wahre Liebe für den großen Tragiker zu erwecken und sein tieferes Verständnis zu fördern. Ich fürchte, daß diese Bemerkungen bei den klassischen Philologen ein mehr oder weniger allgemeines Schütteln des Kopfes hervorrufen werden. Aber gerade, weil ich ein aufrichtiger Verehrer des klassischen Altertums und, cum grano salis, auch der humanistischen Bildung bin, so hege ich die Meinung, daß die humanistischen Gymnasien noch zu gewissen Konzessionen in der angedeuteten Richtung sich entschließen sollten, auf daß sie nicht allmählich zu bloßen Fachschulen für Philologen, Theologen und (wer weiß wie lange noch?) Juristen herabsinken.
Habe ich mich bei der Schulmathematik etwas länger aufgehalten, weil die Frage nach ihrer angemessenen Wertschätzung noch immer viel umstritten wird and zugleich auch weitere Kreise lebhafter zu interessieren pflegt, so kann ich bezüglich des Nutzens der Mathematik als Hilfswissenschaft für naturwissenschaftliche Erkenntnis und verschiedenartige praktische Zwecke mich um so kürzer fassen, als dieser heutzutage kaum mehr ernstlich in Zweifel gezogen wird. Auch würde es die Grenzen dieses Vortrages weit überschreiten, wollte ich nur versuchen, in äußerster Kürze auseinanderzusetzen, was Physik, Astronomie, Geodäsie, Geophysik und Ingenieur-Wissenschaften, als die Hauptanwendungsgebiete der Mathematik, ihr verdanken. Wird doch selbst der Mathematiker, der, wie ich, den Anwendungen ferner steht, von Staunen erfüllt, wenn er beispielsweise aus der im Erscheinen begriffenen Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften (einschließlich der Disposition der noch nicht erschienenen Teile) einen Überblick gewinnt über die ungeheure Anzahl und Mannigfaltigkeit den genannten Wissenschaften angehöriger Einzelgebiete, welche die Dienste der Mathematik in Anspruch nehmen. Damit ist indessen ihre Anwendungsfähigkeit noch bei weitem nicht erschöpft: zeigt sich doch bei allen Disziplinen, in denen Quantitäten eine Rolle spielen, das Bestreben, sich der mathematischen Methoden zu bemächtigen — freilich mit verschiedenem Erfolge. Wir können heute nur darüber lächeln, wenn wir Kunde empfangen von einer „Nova medicinae methodus ex mathematica ratione morbos curandi“, die ein gewisser Virdingus 1532 veröffentlicht hat.(378-1) Auch „Herrn George Sarganecks Versuch einer Anwendung der Mathematik in dem Artikel von der Größe der Sünden-Schulden“ (1749)(378-2) dürfte wohl nicht zu den besonders glücklichen Anwendungen der Mathematik gehören. Wenn aber selbst ein so enthusiastischer Verehrer der Mathematik, wie Auguste Comte(378-3), es für unwahrscheinlich gehalten hat, daß Chemie, Physiologie und Sozialwissenschaft zu Gegenständen mathematischer (Seite 379) Behandlung werden könnten(379-1), so hat ihm die Entwicklung jener Wissenschaften unrecht gegeben: Die Chemie ist mit wachsendem Erfolge bestrebt, ihre Fundamente auf mathematisch-physikalischen Betrachtungen aufzubauen(379-2); in die Physiologie haben mathematische Methoden erfolgreichen Eingang gefunden(379-3); und den Versuchen, auch die Nationalökonomie teilweise auf mathematische Grundlage zu stellen(379-4), wird man zum mindesten ein theoretisches Interesse nicht absprechen können, mag auch ihre praktische Bedeutung zweifelhaft erscheinen. Unbestritten ist hingegen der Nutzen der Mathematik auf den Nachbargebieten der Statistik(379-5) und des Versicherungswesens.(379-6)
Bei Gelegenheit der Erwähnung Comtes scheint es vielleicht nicht uninteressant, an eine andere, seiner Vorausssagen zu erinnern, welche in noch viel drastischerer Weise durch die Macht der Tatsachen widerlegt worden ist und die ein überaus lehrreiches Beispiel dafür gibt, wie vorsichtig man in den exakten Wissenschaften mit negativen Prophezeiungen sein muß. „Wir begreifen die Möglichkeit, Gestalt, Entfernung, Größe und Bewegungen der Gestirne zu bestimmen; aber niemals werden wir imstande sein, durch irgend ein Mittel ihre chemische Zusammensetzung zu studieren“ — so schreibt Comte(379-7) im Jahre 1835; nur 24 Jahre später entdeckten Kirchhoff und Bunsen die Spektralanalyse(379-8), durch welche das für unmöglich Gehaltene zur Wirklichkeit wird. Und, was ich in dem hier vorliegenden Zusammenhange noch ganz besonders hervorheben möchte: die endgültige Berechtigung dazu, die Resultate von Spektralbeobachtungen auf die chemische Analyse der Sonnenatmosphäre und der Gestirne anzuwenden, beruht gerade auf den mathematisch-physikalischen Untersuchungen Kirchhoffs.(379-9)
Herbarts
Versuch, auch die Psychologie mathematisch zu
behandeln(379-10),
darf zwar als mißlungen gelten, insofern er die fehlenden experimentellen
Grundlagen durch Hypothesen zu ersetzen suchte: immerhin hat er die
Möglichkeit dargetan, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.(379-11)
Der von
Fechner
betretene Weg des psychophysischen Experiments und die
Weiterbildung der
(Seite 380)
experimentellen Methoden, namentlich durch Wilhelm Wundt
, hat dann in
der Tat die nötigen Vorbedingungen geschaffen, um bestimmte Kategorien
psychologischer Probleme einer exakten mathematischen Behandlung zugänglich zu
machen(380-1).
Greift hiermit die Mathematik in das Gebiet der Philosophie hinüber, so
wird man diesen Erfolg nicht allzu hoch anschlagen dürfen: es liegt in der
Natur der Sache, daß die direkte Anwendungsfähigkeit der Mathematik hier
immer eine eng begrenzte bleiben wird, auch wenn man zu den
„philosophischen“ Anwendungen der Mathematik noch den von George
Boole
begründeten Logik-Kalkül(380-2) rechnet.
Viel wesentlicher ist, daß die Bestrebungen der Mathematiker, namentlich der
modernen Mathematiker, die Grundlagen ihrer Wissenschaft zu vertiefen, die
Begriffe der Zahl, des Raumes, der Zeit und des Unendlichen zu erforschen und zu
fixieren, zugleich einen wertvollen Zuwachs an philosophischem Wissen
repräsentieren. Auch wird man nicht vergessen dürfen, daß die moderne
Weltanschauung durchaus auf dem Boden der exakten
mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung erwachsen ist, und daß die
Philosophie diesem Einflusse nie mehr sich wird entziehen können. Was schon
Leonardo da Vinci
, eines jener merkwürdigen Universalgenies der Renaissance,
vor 400 Jahren gesagt hat(380-3),
gilt heute mehr denn je: „Wer die höchste
Weisheit der Mathematik tadelt, nährt sich von Verwirrung und wird niemals
Schweigen auferlegen den Widersprüchen der sophistischen Wissenschaften,
durch die man nur ein ewiges Geschrei erlernt.“
Der soeben gegebene kurze Überblick dürfte immerhin ausreichen, um deutlich zu machen, wie zahlreich und verschiedenartig die Gebiete sind, die alle an den Erfolgen der Mathematik ihren Anteil heischen. Und nun —
„Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen, — Naht der Poet,“ — der „reine“ Mathematiker, der die Mathematik nicht nur um ihrer selbst willen treibt, sondern noch obendrein behauptet, sie sei auch in erster Linie um ihrer selbst willen da. Sie verdanke ihre wahre Existenz einem rein idealistischen Bedürfnisse, welches dem Bedürfnisse nach Naturerkenntnis zwar verwandt und seiner Befriedigung in hohem Grade förderlich sei, aber weder in ihm allein wurzle, noch jemals darin aufgehen wolle: gerade so wenig, wie wir wiederum das Endziel aller Erkenntnis der Naturkräfte in deren Beherrschung zum Zwecke des praktischen Nutzens erblicken können. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß ausgedehnte Gebiet der Mathematik, vor allem die sogenannte Zahlentheorie, der bei weitem größere Teil der höheren Algebra, der Funktionen-Theorie, ja sogar der Geometrie, bisher keine außermathematische Anwendung gefunden haben oder, wie eine stark euphemistische Ausdrucksweise lautet, „noch der Anwendung harren“. In Wahrheit „harren“ sie überhaupt nicht oder doch zumeist vergebens! Und es wäre gerade so irrig, ja ich möchte sagen, unaufrichtig, die Existenzberechtigung jener rein mathematischen Untersuchungen aus der entfernten Möglichkeit anderweitiger Anwendung herleiten zu wollen, wie wenn man etwa die Forderung der nötigen Geldmittel für eine Polarexpedition damit (Seite 381) motivieren wollte, es erscheine gar nicht ausgeschlossen, daß mit der Zeit sehr gewinnbringende Handelsbeziehungen daraus erwachsen könnten.
Nun darf man immerhin sagen, der endgültige Nutzen einer mathematischen Untersuchung lasse sich von vornherein keineswegs voraussehen; der dabei gewonnene rein mathematische Kraftvorrat komme vielleicht anderen, nützlicheren Untersuchungen zu statten; auch ergebe sich zuweilen zwischen scheinbar weit auseinander liegenden Untersuchungsgebieten plötzlich ein so überraschender Zusammenhang, daß man schon ans diesen Gründen jene rein theoretischen Forschungen nicht von der Hand weisen könne. Und wenn etwa die staatlich angestellten Mathematiker des 20. Jahrhunderts durch einen Erlaß angewiesen würden, nur die Dinge zu lehren und mit solchen Problemen sich zu beschäftigen, welche sichere Aussicht bieten, den Naturwissenschaften und womöglich der Technik dienlich zu sein, so würde man der mathematischen Forschung gleichzeitig mit ihrer Freiheit auch einen großen Teil ihrer nutzbringenden Kraft entziehen.(381-1) Das ist sicherlich richtig, trifft aber doch nicht den eigentlichen Kern der Sache. Denn bei dieser Auffassung würde ein beträchtlicher Teil der Mathematik immer nur als eine Art notwendigen Übels erscheinen. Wir sehen vielmehr in dem tiefgreifenden Einflusse, welchen die Errungenschaften der Mathematik auf die Fortschritte der Naturwissenschaften und die Vervollkommnung der Lebensbedingungen ausüben, lediglich das charakteristische Symptom einer dem menschlichen Geiste zukommenden höheren Verpflichtung, die Gesetze und wechselseitigen Beziehungen der Zahl- und Raumgebilde in ihrem weitesten Umfange zu ergründen. Die mathematischen Erkenntnisse erscheinen uns daher, nicht nur soweit sie als Mittel für andere Zwecke dienen, sondern an sich als wertvoll, und wir erblicken zugleich in ihrem systematischen Auf- und Ausbau die vollendetste und reinste Form logischer Geistestätigkeit, die Verkörperung höchster Verstandes-Ästhetik.
In dem wahren Mathematiker steckt allemal ein gutes Stück vom Künstler: vom Architekten, ja vom Poeten. Außerhalb der realen Welt, doch in erkennbarem Zusammenhange mit ihr, haben die Mathematiker in schöpferischer Gedankenarbeit sich eine ideale erbaut, die sie zur vollkommensten aller Welten auszugestalten suchen und nach allen Richtungen durchforschen. Von dem Reichtum dieser Welt hat natürlich nur der eine Ahnung, der sie kennt: nur überhebliche Unwissenheit kann behaupten, daß der Mathematiker in einem engen Kreise sich bewege. Die Wahrheit, die er erstrebt, ist freilich, bei Lichte betrachtet, nicht mehr und nicht weniger als Widerspruchslosigkeit. Aber zeigt sich nicht vielleicht gerade in der Beschränkung auch hier der Meister? Letzte Fragen zu lösen, überläßt der Mathematiker neidlos anderen.
Vieles, was die überreiche mathematische Produktion hervorgebracht hat
und hervorbringt, ist vergänglich. Aber aus der Menge des Geschaffenen
(Seite 382)
scheidet sich ein kristallklarer Kern abstrakten Wissens ab, welcher allen
Zeiten als ein glänzendes Denkmal menschlicher Geisteskraft erscheinen wird.
Sollten diejenigen, die da, jeder nach seinen Kräften bemüht sind, an der
Aufrichtung dieses Denkmals mitzuarbeiten, wirklich, wie die landläufige
Meinung es will, nur einseitige und trockene Verstandesmenschen sein? Ich
denke, hier hat doch der schon zu Anfang zitierte Novalis
das Richtigere
getroffen, wenn er sagt(382-1):
„Der echte Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik.“
Letzte Änderung: 07.06.2024 Gabriele Dörflinger Kontakt
Zur Inhaltsübersicht Historia Mathematica Homo Heidelbergensis