Adolf Mayer †

Von H. LIEBMANN in Leipzig.

In Leipzig, der alten Handels- und Meßstadt, sind manche jetzt noch blühende kaufmännische Patriziergeschlechter seit vielen Generationen ansässig. Wohltätige und Kunstsinn kündigende Stiftungen, die nicht immer den Namen der Spender tragen, zeigen ihren Sinn für Gemeinwohl, einige Straßen sind nach ihnen benannt, Familienbegräbnisse im malerischen alten und im blumengeschmückten, rosenreichen neuen Johannisfriedhof bergen ihre Toten. In der Geschichte Leipzigs haben sie sich verewigt, wir finden sie z. B. genannt in Darstellungen aus der Zeit nach 1806, als es galt, vom Sieger milde Bedingungen und Schutz für Leipzigs Bürger zu erlangen, und wieder nach der Völkerschlacht, als tatkräftige Hilfe so notwendig war.

Einer solchen Familie entstammt Christian Gustav Adolf Mayer, geboren am 15. Februar 1839 in Leipzig, gestorben am 11. April 1908 in Bozen. Er widmete sich, nachdem er das Thomasgymnasium absolviert hatte (Herbst 1857), im Gegensatze zu den Traditionen der Familie, nicht dem kaufmännischen Berufe, sondern studierte Mathematik und Naturwissenschaften zuerst in Heidelberg (zwei Semester), dann in Göttingen (Herbst 1858 bis Herbst 1859) im besonderen bei Stern, dann wieder in Heidelberg. Hier fesselten ihn die Vorlesungen von Otto Hesse, des Meisters eleganter Darstellungen. Im Sommersemester 1861 war er in Leipzig, dann wieder zwei Semester in Heidelberg, wo er auch promovierte. Das Diplom ist vom 14. Dezember 1861 datiert.

Hochburg für das Studium exakter Wissenschaften war damals Königsberg; dorthin wandte sich auch Adolf Mayer, die lichtvollen und immer neue Ergebnisse bietenden, neue Wege weisenden Vorträge Franz Neumanns zu hören, und in Richelots, des Schülers Jacobis, zuweilen recht schwierigen und nicht gerade durchsichtigen Vorlesungen und Übungen seine Kenntnisse zu erweitern. Ihm verdankte er die Anregung, sich mit der Variationsrechnung zu beschäftigen, ein Gebiet, das er zeitlebens mit bestem Erfolge bearbeitet hat. — Der Kreis junger Gelehrter in Königsberg, dem z.B. auch Heinrich Weber angehörte, hat wohl viele Stunden darauf verwendet, sich durch Gedankenaustausch in seinem Streben zu fördern; so findet sich in Mayers Nachlaß — neben sehr sorgfältigen Ausarbeitungen einiger Vorlesungen von Otto Hesse — ein Heft: Franz Neumann, Kapillarität, nach Webers Nachschrift.

In seiner Vaterstadt habilitierte sich dann Adolf Mayer im Dezember 1866 mit der Arbeit: „Beiträge zur Theorie der Maxima und Minima einfacher Integrale“ (Nr. l des Verzeichnisses). Seine Vorlesungen betrafen neben einigen elementaren Gegenständen (Algebra und Determinanten, Differential- und Integralrechnung) noch Differentialgleichungen (gewöhnliche und partielle), Variationsrechnung und analytische Mechanik. Vor allem war die „Theorie der dynamischen Differentialgleichungen“ (Mechanik II) ein Muster klaren logischen Aufbaues. Das ganze Gebäude wurde auf dem Gaußschen Prinzipe des kleinsten Zwanges errichtet. Wer die Vorlesungen gehört hat, wird sich daran erinnern, wie hier jedes Wort, jeder Gedanke wohlgesetzt an seiner Stelle stand; kein Wort des ruhigen und sicheren Vertrags durfte verloren werden. Da machte dann wohl die Ausarbeitung manche Mühe und schwoll zu großem Umfange an. Entsprechend legte Mayer in den Übungen, denen er viel Zeit und Kraft widmete, großen Wert darauf, daß die Aufgaben wirklich mit Hilfe der aufgestellten oder abgeleiteten Prinzipien (z. B. Prinzip der virtuellen Verrückungen oder Prinzip des letzten Multiplikators) gelöst wurden, nicht mit Hilfe ad hoc erdachter Kunstgriffe, die ja oft auch Nebengriffe waren oder nur auf Umwegen zum Ziele führten. Auf diesen Weg wußte er seine Schüler auch mit freundlicher Geduld zu führen.

Im großen Kriegsjahre hat er als freiwilliger Krankenpfleger sich dem Dienste des Vaterlandes gewidmet.

Die einzelnen Stufen der akademischen Laufbahn erreichte er in Leipzig. Er wurde 1872 außerordentlicher Professor, 1881 ordentlicher Honorarprofessor und Mitglied der Prüfungskommission für die Kandidaten des höheren Schulamts, 1882 Mitdirektor des von Klein gegründeten mathematischen Seminars, 1890 Ordinarius.

Die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften und die Leopoldinisch-Carolinische Akademie ernannten ihn zum Mitgliede, auch wurde er Korrespondent der Göttinger und der Turiner Akademie.

Am 1. April 1900 beurlaubte ihn das Kultusministerium auf sein Ansuchen, mit dem Vorbehalt, nach Belieben weitere Vorlesungen zu halten; sehr bald nahm er auch die geliebte Lehrtätigkeit in vollem Umfange wieder auf.

Aus dem Nachrufe von der Mühlls (Mathematische Annalen Bd. 63), der seiner als Mitredakteur gedenkt (1873-1902), sei es erlaubt, folgende Stelle anzuführen: „Seine Zuhörer hat er gefördert, wie er konnte, sie zu weiterem Forschen angeregt und ihnen auch für auswärtige Studien den Weg eröffnet. Seinen Kollegen war er der treueste Freund; für die Vertretung der Mathematik an der Leipziger Universität hat er in der uneigennützigsten Weise gewirkt; und wenn es galt, eine auswärtige Kraft zu gewinnen, so war ihm keine Mühe und kein persönliches Opfer zu groß. Mit der vollendeten Liebenswürdigkeit, die ihm eigen war, hat er die Herberufenen in seinem Hause aufgenommen, sie in die Leipziger Kreise eingeführt und alles aufgeboten, ihnen die neue Heimat lieb zu machen. Er fühlte sich reich belohnt, wenn es gelang, den neuen Kollegen ganz für Leipzig zu gewinnen; er hat auch in schweren Tagen treulich beigestanden.“

Sein gastliches Heim in Leipzig und das behagliche Landhaus in Abtnaundorf am alten Park, wo er im Sommersemester wohnte, ist seinen Freunden und Gästen in angenehmster Erinnerung, ebenso das gemütliche „Sachsenhaus“ in Oberstdorf im Allgäu, der alte Familienbesitz, in dem er viele Sommerferien mit den Seinen Erholung suchte.

Adolf Mayer war in früheren Jahren ein eifriger Turner und Schwimmer, machte auch den einstündigen Weg von der Sommerresidenz zum Kolleg mit Vorliebe zu Fuß. Seit einigen Jahren war seine Gesundheit nicht mehr so fest; er klagte über Heiserkeit und suchte vergeblich Erholung an der See, ohne sich doch in seinem Pflichteifer durch die Beschwerden jemals beirren zu lassen. Im Wintersemester 1907/1908 mußte er seine Vorlesung über Variationsrechnung abbrechen; stechende Schmerzen in der Brust, namentlich bei Nacht — es war wahrscheinlich schleichende Lungenentzündung — hatten seine Kraft erschöpft. Und doch hofften wir beim Abschied bestimmt, ihn gestärkt und erfrischt wiederzusehen. Der Aufenthalt in Bozen ließ sich auch zunächst günstig an. Gattin und Tochter, die ihn begleitet hatten, sahen mit Freuden den Fortschritt, und er selbst berichtete brieflich voller Zuversicht. Dann aber trat ein rascher Kräfteverfall ein, und er entschlief sanft und ohne Schmerzen am 11. April dieses Jahres in Bozen.

Während der akademischen Trauerfeier für den Spezialkollegen und Fakultätssenior Wilhelm Scheibner wurde in Leipzig die neue Trauerbotschaft bekannt.

Am Gründonnerstag wurde er bestattet; in der Feier hatten zwei Spezialkollegen im Namen der Fakultät und der Gesellschaft der Wissenschaften Kränze am Sarge niedergelegt und seiner Verdienste gedacht. Der Universitätsprediger gab ein sprechendes Bild des edeln und reinen Menschen, der nie nach Ruhm, Würden und Ehre strebte, der mit aller Freundlichkeit und Herzlichkeit eine große, keusche Zurückhaltung verband, und dessen inneres verborgenes Leben der Ewigkeit zugekehrt war. Bene vixit qui bene latuit.

Unter den Trauernden waren außer der verwaisten Familie, den Freunden und der Universität auch viele, die er mit Wohltaten bedacht hatte. Dabei hatte ihn immer der Grundsatz geleitet, daß die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte tut. Selbst seine Familie wußte nicht von allen Spenden, die Hilfsbedürftige ihm verdankten.


Adolf Mayers Denkrichtung war durchaus analytisch, er war indirekt Schüler von Jacobi. Seine Arbeiten umfassen das Gebiet der Variationsrechnung, vielfach in Verbindung mit der analytischen Mechanik, vor allem auch die Differentialgleichungen. Er war einer der deutschen Mathematiker, welche die Arbeiten von Lie, dem er auch persönlich nähe stand, als großen Fortschritt begrüßten (vgl. F.Engel, Zur Erinnerung an Sophus Lie, Berichte der K. S. G. d. W. zu Leipzig, Bd. 51 [1899], S. XI-LXI). Eine eingehende Würdigung der Verdienste von Adolf Mayer wird später, von berufenster Seite abgefaßt, ebenfalls in den Leipziger Berichten und in den Mathematischen Annalen erscheinen. Hier muß, auch des vorgeschriebenen Umfangs halber, eine kurze Charakteristik genügen, die sich auf Hinweise beschränkt. Wer die Leistungen Mayers im Gebiete der Variationsrechnung kennen lernen will, findet in Knesers Artikel „Variationsrechnung“ (Math. Enzyklopädie II, A, 8, S. 571-625) eingehende Belehrung und wird daraus ersehen, daß seine Arbeiten nicht nur den formalen Teil (Äquivalenzfragen; Vertauschung von Nebenbedingungen und Extremforderung, d.h. Reziprozitätsgesetz, Gestalt der zweiten Variation usw.) gefördert haben, daß er vielmehr auch den kritischen Fragen nicht fremd gegenüberstand.

Trotz eines gewissen konservativen Zuges in seiner ganzen Persönlickkeit hat er immer mit größtem Eifer die Resultate anderer Forscher in sich aufgenommen, z. B. die von Scheeffer und Hilbert; dies zeigen auch sorgfältige Exzerpte, die eine Reihe wohl disponierter Hefte in seiner zierlichen Handschrift füllen. Er klagte sehr darüber daß die Ergebnisse und Methoden von Weierstraß solange fast unzugänglich waren, z. B. wurde ihm das Manuskript einer Nachschrift von Weierstraß' Vorlesung nur für vierundzwanzig Stunden zur Verfügung gestellt.

Von den Arbeiten zur Mechanik wollen wir nur Nr. 49, 50 und 52 des Verzeichnisses erwähnen. Sie enthalten z. B. Betrachtungen über den Satz von Kelvin, daß bei Stößen der Verlust der lebendigen Kraft ein Minimum ist, nebst weiteren Untersuchungen über den Ansatz der Differentialgleichungen in schwierigen Fällen, im Anschluß an die Untersuchungen von Ostragradskij.

In seinen Untersuchungen über Differentialgleichungen begegnete er sich mit Lie; die Reduktion vollständiger Systeme auf Jacobische Systeme, desgleichen die Integration der Systeme von partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung ist in Lehrbücher, besonders in ausländische (z. B. Goursat und Forsyth) aufgenommen. Denjenigen modernen Untersuchungen, welche vor allem darauf zielen, den analytischen Charakter der Lösungen zu diskutieren, sind Mayers Fragestellungen allerdings nicht verwandt. Es handelt sich vielmehr um die Zerlegung eines Problems in Teilprobleme möglichst niedriger Ordnung, womöglich Quadraturen, wobei auf die Durchführung der erforderlichen Eliminationen nicht immer eingegangen wird; übrigens ist die Seite des Gebietes auch später noch, von Stäckel und anderen, weiter ausgebildet worden.


  Verzeichnis Verzeichnis der Wissenschaftlichen Arbeiten von Adolf Mayer.


Quelle:
Liebmann, Heinrich (1874-1939):
Adolf Mayer †
In: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. - 17 (1908), S. 355-362
Signatur UB Heidelberg: L 22::17.1908


Letzte Änderung: 29.04.2010     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis