Notwendigkeit und Freiheit in der Mathematik.

Von H. LIEBMANN in Leipzig.

Akademische Antrittsvorlesung, gehalten in Leipzig am 26. Februar 1905.

(Seite 230) Ganz unter dem Bann gesetzmäßiger Notwendigkeit scheint die Mathematik zu stehn. Widersprüche, Ausnahmen, Zweifel darf es hier nicht geben. Mathematische Beweisführung ist das Vollkommenste, und was mathematisch bewiesen ist, ist unumstößlich wahr. An dieses Ideal dachte Spinoza, als er seine Philosophie „more geometrico“, d. h. nach der Methode Euklids aufbaute. Fest, aber auch einförmig und starr, so erscheint die Mathematik, eben weil sie ganz von der (Seite 23l) Notwendigkeit beherrscht wird. Woher soll der Raum für freie Bewegung in diesen Fesseln, in der Sklaverei der logischen Gesetze kommen?

Und doch konnte ein bekannter Mathematiker sagen, daß die Mathematik in ihrer Entwicklung völlig frei ist, ja er hat sogar die Bezeichnung „freie Mathematik“ statt „reine Mathematik“ vorgeschlagen. (231-1)

Der der Mathematik ferner Stehende wird sich über eine solche Behauptung wundern, und so ist vielleicht eine Auseinandersetzung über diesen Widersprach nicht unwillkommen. Hoffentlich nehmen es auch die Mathematiker selber nicht übel, halten es nicht für müßige Spielerei, wenn hier ein ihnen gewiß überflüssig erscheinender Versuch gemacht wird, zu zeigen, daß unsere Wissenschaft nicht das starre, kalte Marmorbild ist, sondern ein lebendiges Geschöpf, in dessen Adern ein frisches Blut pulsiert.

Wohl muß ich fürchten, daß meine Ausführungen sehr im Hintertreffen bleiben gegen die dialektisch durchgebildete, an markanten Bemerkungen reiche Rede eines Mathematikers(231-2)), dem es weit mehr als mir zukommt, aufklärend und berichtigend gegen falsche Vorstellungen aufzutreten. Energisch und doch spielend zerpflückt er eine Reihe von groben Mißverständnissen, die sich Träger mehr oder weniger bekannter Namen haben zu Schulden kommen lassen, wenn sie geringschätzig und mit durch Sachkenntnis nicht getrübtem Urteil über die Mathematik den Stab brachen.

Ganz besonders wird Schopenhauer von ihm aufs Korn genommen, der nicht etwa nur die seiner Meinung nach der Anschaulichkeit und Überzeugungskraft entbehrende Methode Euklids bekämpft, sondern von der Mathematik ganz allgemein in einem äußerst abfälligen Ton spricht.

Beiläufig bemerkt, Vermutungen über die Quelle dieses Hasses liegen nahe. Goethe hatte bereits 1798 in einem Brief an Schiller sich über Newton abfällig geäußert(231-3), „weil er zur Unzeit den Geometer in seiner Optik macht“. Überhaupt, so führt er aus, brauchten (d. h. wohl mißbrauchten) die meisten Forscher die Naturphänomene als eine Gelegenheit, die Kräfte ihres Individuums anzuwenden und ihr Handwerk — also Newton die Mathematik — zu üben, Schopenhauer sowohl wie sein Antipode Hegel sind bekanntlich von Goethe persönlich (Seite 232) über die Farbenlehre unterrichtet worden und haben später das vom verehrten Meister übernommene Urteil über mathematische Naturerklärung weiter verschärft. Deutlich spricht aus Schopenhauers temperamentvollen Worten jene Empfindung Goethes, daß die mathematische Theorie der Natur das Leben raubt. (Schillers Gedicht „die Götter Griechenlands“ entspringt auch einem ähnlichen Grundgedanken.(232-1)) — Natürlich mußte mit Newton auch sein überflüssiges Handwerkszeug, die Mathematik, in den Staub getreten werden.

Dazu kommt noch, daß der Mathematiker (z. B. Euklid) in seinem eigenen Gebiet (nach Schopenhauers Ansicht) alles Leben vernichtet, wenn er die intuitive Erkenntnis durch überflüssige Beweise stört(232-2) und damit in gewisser Hinsicht gegen seine Wissenschaft noch einmal das Verbrechen begeht, was er sich schon gegen die Naturlehre zu Schulden kommen läßt.

So sehn wir, wie ein persönliches Motiv, die eindringlichen Lehren Goethes, hier den Anstoß gegeben hat zu groben und ihren Urheber recht kompromittierenden Verunglimpfungen.

Subjektive Gründe, weniger uneigennützigen Antrieben entsprungen, haben übrigens mehrfache polemische Erörterungen gegen die Mathematik ausgelöst. So berichtet uns Montucla(232-3), daß der Philologe Joseph Scaliger den Mathematikern einen schwerfälligen und stumpfsinnigen Geist vorwarf; dabei dürfe man aber nicht vergessen, daß er eine Quadratur des Kreises (Nova cyclometria 1592) und eine Dreiteilung des Winkels veröffentlicht hatte, also Scheinlösungen von Aufgaben, bei denen man niemals in dem vom Autor beabsichtigten Sinne zum Ziel gelangen kann. Die verdiente Kritik, welche dem Scaliger zu teil wurde, verwandelte ihn in einen Gegner der Mathematik. Auch Thomas Hobbes(232-4), den man seiner ganzen Richtung nach hier nicht (Seite 233) vermuten sollte, findet sich in der Reihe der Widersacher, durch verletzte Eitelkeit aufgestachelt. Außer den bereits von Scaliger „gelösten“ Aufgaben steht noch eine Kubatur der Kugel und eine geometrische Verdoppelung des Würfels auf seinem Schuldkonto. John Wallis hat ihn widerlegt, aber Hobbes ließ sich nicht überzeugen, daß seine Konstruktionen Fehler enthielten, er gelangte vielmehr zu dem Ergebnis, daß die Mathematik falsch betrieben wird, insbesondere die Geometrie „mit dem Aussatz der Arithmetik behaftet sei“.

Wallis nahm übrigens keinen seiner sechs polemischen Aufsätze in die gesammelten Schriften auf; er wollte nicht über einen Toten triumphieren. (Der erste Band der Werke erschien 1699, zwanzig Jahre nach Hobbes' Tod). —

Schwerer als die Abwehr solcher Angriffe fällt der versprochene Nachweis, daß die Mathematik trotz des festen Panzers der Logik, trotz der ineinander greifenden Kettenglieder der Beweise freie Beweglichkeit besitzt. Freilich kann man sich darauf berufen(233-1), daß Männer wie Kronecker und Weierstraß, die doch gerade auf strenge Beweise Wert legen, die Mathematik eine Kunst genannt haben; und diese Mathematiker sind doch sicher über den Verdacht erhaben, die Freude an ciceronianischen Superlativen und feuilletonistischen Phrasen auf Kosten der Wissenschaft zu pflegen.

Aber zwischen gelegentlich hingestreuten Äußerungen und der Begründung im einzelnen ist noch ein Unterschied. Wenn die Mathematik eine freie, schöpferische Kunst ist, so muß auf sie auch der Satz angewendet werden, daß der Künstler schaffen und nicht von sich reden soll, daß er nur durch sein Werk für sich werben soll. Gerade unsere moderne Kunst weist es nach dem Ausspruch eines ihrer anerkannten Meister (Max Liebermann) mit Stolz von sich, zum Publikum zu gehn und ihm gefällig zu sein; sie verlangt vielmehr, daß der Laie sich ihrem Sehn und Empfinden anpaßt. Dieser spröde Stolz steht aber gewiß einer Kunst des Denkens eben so gut wie der bildenden Kunst.(233-2)

(Seite 234) Wenn die Mathematik hier als eine Kunst des Denkens bezeichnet wird, so steht dem eine weitverbreitete (durch Schopenhauer u. a. genährte) Auffassung gegenüber, sie sei ein trockenes und langweiliges Handwerk, öde und geisttötend. Freilich, für die Schulmathematik gilt dieser Tadel zuweilen. So wird in der Rede eines akademischen Mathematikers gesagt, daß sie manchmal nach der Ansicht des Schülers nur im Konstruieren von Dreiecken aus möglichst unpassend gewählten Stücken, im Hersagen von trigonometrischen Formeln und im Wälzen von Logarithmentafeln besteht.(234-1) Nicht immer wird dieser etwas enge Kreis verlassen, nicht immer dem etwas einförmigen Gewebe ein Einschlag gegeben durch Hinweis auf höhere Probleme, durch Andeutungen, daß mit den aufgezählten Gegenständen die Mathematik noch nicht an ihrem Ende angelangt ist.

So kommt es denn mitunter, daß sogar das Studium nach dem Gesichtspunkt gewählt wird, möglichst von Mathematik verschont zu bleiben. Der Lehrer der Mathematik aber hat sich dem Gedächtnis als Spender langweiliger und gefährlicher Formeln eingeprägt.

Trotzdem ruht schon in der Formelsprache eine schöpferische Kraft, wie dies uns bereits in der Wahl der Zahlzeichen entgegentritt.

Nicht umsonst hat Wallis seiner „Mathesis universalis“ eine Geschichte der Ziffern einverleibt, nicht umsonst hat Gauß gesagt, er könne es dem Archimedes nicht verzeihen, daß er die Dezimalrechnung nicht erfunden hat.

Gehen wir kurz auf die Geschichte der Zahlzeichen ein. Höhere Zahlen können nicht mehr wie die ersten durch einen einzigen Schriftzug dargestellt werden, man mußte sich also der Gruppen von Zeichen bedienen. Dazu gehört aber eine Abstraktion, man muß, um den Sinn z. B. von MDCC aufzufassen, erst in Gedanken eine Addition vollziehen. Bestimmte Zahlen werden noch durch einzelne Zeichen angegeben, Zahlen, (Seite 235) die willkürlich herausgegriffen und durch den Bau der Hand, der noch heute viel gebrauchten einfachsten Rechenmaschine(235-1), nahe gelegt sind.

Der nächste, von späteren Zeiten nicht mehr übertroffene Fortschritt ist die Positionsarithmetik, speziell die aus Indien stammende Dezimalrechnung. In der hingeschriebenen Zeichenfolge erhält jede Ziffer erst durch ihre Stellung ihren vollen Sinn. Jetzt kommt man mit so viel Ziffern aus, als die Grundzahl des Systems Einheiten enthält, also im Dezimalsystem mit zehn, in dem von Leibniz vorgeschlagenen und für viele mathematische Untersuchungen sehr praktischen Zweiersystem mit zwei Zeichen. Unentbehrlich in der Positionsarithmetik ist die Null, die sich aber nur sehr langsam einbürgerte. Daß man dieser Zahl z. B. im Altertum fremd gegenüber stand, zeigt die Bemerkung des Nikomachus(235-2): Jede Zahl ist die Hälfte der Summe aus der nächstvorangehenden und der nächstfolgenden Zahl, nur die Eins macht davon eine Ausnahme, denn ihr geht keine Zahl voran.

Der praktische Wert der Positionsarithmetik besteht darin, daß der Zeichensprache auch für beliebig große Zahlen keine Grenzen gesetzt sind. Daneben ist ihre Bedeutung noch heuristisch, wie bei jeder guten Bezeichnung, sie dient der Wissenschaft als Wegweiser auf neuen Pfaden. Als Beispiel seien die unendlichen periodischen Dezimalbrüche genannt, auf die man bei der Darstellung der Brüche 1/3, 1/7 usw. kommt. Hier sieht man direkt, wie eine unendliche (konvergente) Reihe, die nach Potenzen einer Zahl (1/10) entwickelt ist, einen bestimmten Wert hat, und es entsteht die Frage nach den Reihenentwickelungen überhaupt.(235-3)

Es wäre eine interessante Aufgabe, an anderen Beispielen zu verfolgen, wie mitunter schwerfällige Bezeichnungen als Hemmschuh wirken können und die Erlösung dann durch eine geschickte Formelsprache kam.

(Seite 236) So deuten z. B. die Zeichen in den Lehrbüchern des sechzehnten Jahrhunderts darauf hin, daß man sich unter den ersten Potenzen der Unbekannten in einer Gleichung immer Strecke, Quadrat mit der Strecke als Seite, Würfel mit der Strecke als Kante vorstellte; dann liegt aber vorerst gar kein Grund vor, höhere Potenzen als die dritte in Gleichungen aufzunehmen, denn solchen Gleichungen vom vierten Grad an aufwärts, kommt dann ein geometrischer Sinn nicht mehr zu.(236-1)

Ganz besonderer Wert kommt aber einer geschickten Bezeichnung in der höheren Mathematik zu. Leibniz, bekanntlich selbst ein Meister dieser Kunst, hat darauf mit Vorliebe hingewiesen. Seine Terminologie der Differential- und Integralrechnung ist auch allgemein angenommen worden, sowie in den Elementen die Dezimalrechnung, die Zeichen + und - u. anderes. Newton aber hat merkwürdigerweise weder die Technik der Fluxionslehre noch die der analytischen Geometrie in seinen „Principia“ angewendet.(236-2) Überall werden gesondert die nötigen Grenzbetrachtungen angestellt, die allgemeine Methode der Differential- oder Fluxionsrechnung aber, für die doch gerade die Ableitung der Keplerschen Gesetze aus dem Newtonschen Anziehungsgesetze eines der schönsten Objekte ist, tritt nirgends hervor. Er mochte fühlen, daß seine Fluxionsrechnung sich nicht bequem genug handhaben ließ. Andrerseits feierte in der raschen Entwickelung der kontinentalen, vor allem der französisichen Mathematik Leibniz' Terminologie ihre Triumphe.

Weitere Beispiele dieser Art könnten vielleicht ermüdend wirken. Immerhin wird das eine bereits zur Genüge hervortreten: Die freie durch geschickte und geniale Mathematiker geförderte Entwickelung der Formelsprache hat die Wissenschaft befruchtet, etwa wie die fortschreitende Kunst in der schriftlichen Niederlegung der Gedanken von den ältesten ideographischen Zeichen an bis auf das Alphabet für die Kultur überhaupt von Bedeutung gewesen ist.

Die Freiheit in der Wahl des Werkzeugs tritt uns noch in anderer Gestalt als gerade in der Formelsprache entgegen. Ich erinnere z. B. daran, daß die Forderung des Euklid, nur solche Konstruktionen zuzulassen, bei denen allein Zirkel und Lineal benützt werden, ganz willkürlich ist und eingeschränkt oder erweitert werden kann. Bekannt sind die Konstruktionen mit dem Zirkel allein (Mascheroni) oder mit dem Lineal und einem festgegebenen Kreis (Steiner), weniger verbreitet sind die hübschen Methoden, mit Hilfe des Lineals und eines (oder mehrerer) (Seite 237) beweglicher rechter Winkelmaße (senkrecht sich schneidender, fest verbundener Lineale) die (trotz Hobbes!) mit Zirkel und Lineal nicht ausführbare Winkeldreiteilung und Würfelverdoppelung konstruktiv zu behandeln. (237-1)

Ferner wäre die Wahl des Koordinatensystems zu nennen. Den gewöhnlichen rechtwinkligen Cartesischen Punktkoordinaten, den Maßzahlen der senkrechten Abstände eines Punktes von zwei einander senkrecht schneidenden Graden bezw. von drei einander senkrecht schneidenden Ebenen ist eine bunte Fülle anderer Koordinatensysteme an die Seite getreten, Polarkoordinaten, elliptische, parabolische Koordinaten usw., die den einzelneu Problemen angepaßt sind, wie die Schlüssel dem Schloß.

Viel weiter aber noch trägt ein anderes Verfahren, das treffend mit dem Namen „Wechsel des Raumelements“ bezeichnet worden ist.(237-2) In der Ebene braucht z. B. nicht der Punkt zum Element gewählt zu werden, das durch zwei Zahlen (Koordinaten) bestimmt ist, an seine Stelle kann die Gerade treten. Man bezeichnet bekanntlich die negativen reziproken Maßzahlen der Stücke, welche eine Gerade auf den rechtwinkligen Achsen abschneidet, als „Linienkoordinaten.“ Die Gerade wird das Element, der Punkt ein abgeleitetes Gebilde. War zuerst die Gerade analytisch wiedergegeben durch die lineare Gleichung, welche die Cartesischen Koordinaten ihrer Punkte erfüllen, so wird jetzt der Punkt analytisch dargestellt durch die lineare Gleichung, welche die Linienkoordinaten der auf ihn sich stützenden Geraden erfüllen. Kurven sind nicht mehr aufzufassen als Orte eines sich bewegenden Punktes, sondern als Gleitbahnen rollender Tangenten(237-3) usw.

Ein und dasselbe Gleichungssystem kann in beiden Koordinatenarten gedeutet werden, und so lassen sich ganz verschiedene geometrische Sätze auf dieselbe analytische Grundlage zurückführen, z. B. der Lehrsatz des Pascal, daß die drei Schnittpunkte der Paare von gegenüberliegenden Seiten des dem Kegelschnitt einbeschriebenen Sechsecks auf einer Geraden liegen, und der Lehrsatz des Brianchon, daß die drei Verbindungslinien gegenüberliegender Ecken des dem Kegelschnitt umschriebenen Tangentensechsseits durch einen Punkt gehen.

(Seite 238) Zu den Linienkoordinaten kommen dann im Raum die Ebenenkoordinaten, die Plückerschen Linien- und Studyschen dualen Strahlenkoordinaten usw.

Sehr fruchtbar hat sich dieser „Wechsel des Raumelements“ auch für die Auffassung des Problems der Integration von Differentialgleichungen erwiesen. Wenn man die geistige Beweglichkeit erhöht durch Aneignung der Fähigkeit, in Gedanken mit dem neuen Raumelement eben so leicht zu operieren, wie mit dem hergebrachten, dem Punkt, so knüpfen sich daran weitere Begriffsbildungen, wie Linienelement, Flächenelement usw., mit deren Hilfe die rein analytischen Methoden von Cauchy für die Zurückführung partieller Differentialgleichungen auf gewöhnliche durchsichtig werden. Neue Möglichkeiten, manche Gleichungen auf einfachere zurückzuführen, eröffnen sich, scheinbare Ausnahmen ordnen sich von selbst ein, ja wir erkennen in ihnen die einfachsten Beispiele, die allgemeinen Methoden der Lösung zu illustrieren.(238-1)

Wenn nun in der Wahl des Werkzeugs dem Mathematiker auch große Freiheit zugestanden wird, so ist damit doch noch nicht allzuviel geleistet. Buchstaben erzeugen noch keinen Geist, Farben keine Gemälde, Zeichen keine Mathematik, so wird man gewiß einwenden.

Nun, es kommt eben noch eine höhere Freiheit dazu, die Freiheit in der Wahl der Voraussetzungen, die allerdings vorsichtig gehandhabt werden muß und die durch eine bestimmte Regel einzuschränken ist.

Sehr weit geht in dieser Hinsicht Poincaré(238-2), wenn er z. B. behauptet, daß man zwischen den verschiedenen Geometrien wählen kann (Seite 239) etwa wie zwischen verschiedenen Maßsystemen. Viele werden sich gerade hiergegen mit ganzer Kraft sträuhen; dabei spricht wohl auch eine gewiße Bequemlichkeit mit, die die durch strenge Beweisführung garantierte Eindeutigkeit in den Ergebnissen mathematischer Untersuchungen in den Grundlagen nicht gerne vermissen möchte.

Diesen begreiflichen Wünschen gegenüber wird der Mathematiker nur an der einen Forderung festhalten: Er muß verlangen, daß jedes in einem Beweis als Hilfsmittel gebrauchte Element weder mit sich selbst noch mit andern Elementen in Widerspruch steht (wie etwa das von Gauß(239-1) als Beispiel hierfür genannte gleichseitige Dreieck mit einem rechten Winkel).

Noch schärfer und vollständiger können wir die formale Vorschrift in der Gestalt auesprechen: Wähle die Voraussetzungen für weitere Untersuchungen so, daß sie miteinander verträglich sind und daß keine überzählig ist.

Wie einfach und selbstverständlich klingt dieses Gebot und doch, wie selten wird es mit aller Strenge befolgt!

Auf die Gefahr hin, die Mathematik in schlechten Ruf zu bringen, will ich darauf hinweisen, wie mit Umgehung des Gebotes oft eine Freiheit erschlichen wird; von der erlaubten Freiheit, die dem Mathematiker bleibt, wird später die Rede sein. (S. 241.)

In der analytischen Geometrie ordnen wir den Strecken Maßzahlen zu, und darin liegen schon sehr viele Voraussetzungen, die im einzelnen herauszuschälen eine sehr sorgfältige und mühsame Arbeit erforderte.(239-2) Die geschichtliche Entwicklung ist freilich andere Wege gegangen. Lange bevor jene Fragen beantwortet, ja überhaupt gestellt waren, ist die analytische Geometrie in die Breite gegangen. Von Cartesius und Fermat zunächst für die Ebene aufgestellt, wobei die Entdecker übrigens noch oft mitten zwischen den analytischen Betrachtungen rein geometrische Hilfsmittel hereinziehen(239-3), bemächtigt sie sich bald des Raumes, außerdem in der Graderhöhung der zu untersuchenden Gleichung ein ebenso einfaches wie natürliches Erweiterungsprinzip sich schaffend.

Hand in Hand mit der Einführung der Maßzahl in die Geometrie und von ihr gefordert geht die Erweiterung des Zahlbegriffs überhaupt. Es mußten außer den ganzen und gebrochenen (rationalen) Zahlen noch die irrationalen herangezogen werden. Darf man mit diesen neuen Zahlen genau so operieren wie mit den ganzen Zahlen, den gewöhnlichen (Seite 240) Regeln folgend? Obwohl dies geschehen ist, seitdem man sich zur Einführung dieser allgemeinen Zahlen veranlaßt sah, ist doch an der scharfen Fassung des allgemeinen Zahlbegriffs bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gearbeitet worden.

Und nun erst die Differential- und Integralrechnung! Die großen Mathematiker des achtzehnten Jahrhunderts haben auf den Grundlagen von Leibniz und Newton in schaffensfreudigem Eifer weiter gebaut, ohne vorher die Fragen gründlich zu erörtern, die bei strenger Beweisführung nicht zu umgehen sind. Konvergenz unendlicher Reihen, mathematisch strenge und verwertbare Definition des Begriffes „Stetigkeit“, Vertauschbarkeit von Grenzübergängen — alle die schwierigen Untersuchungen, die mit diesen Überschriften angedeutet sind, wurden einfach ignoriert und mußten später nachgeholt werden. Man darf annehmen, daß auch hier die Eroberung des neuen Gebiets nicht so schnell gelungen wäre, hätte, man erst mit der Herstellung geordneter Zustände in jedem neuen Fleckchen vollen Ernst machen wollen.

Vielleicht darf ich hier eine Beobachtung einschalten, die das allgemeine Gesetz vom Parallelismus der Entwicklung des Individuums und der Entwicklung der Gattung bestätigt. Der einzelne spiegelt in seinem Studiengang die Geschichte der Wissenschaft wieder, und gerne wird sich jeder daran erinnern, wie die Differential- und Integralrechnung seinem Geist Flügel zu verleihen schien. Ich weiß noch genau, wie mir der kürzlich verstorbene Ernst Abbe in meinem ersten Semester sagte, er beneide den mit den Erstlingsstudien der höheren Mathematik Beschäftigten um seinen schönen Glauben an die allgemeine Gültigkeit der ihm anvertrauten Regeln; er hatte wohl die Überzeugung, es hieße jenen Flug allzusehr erschweren, wenn man gleich auf alle Fallen aufmerksam macht, die hinter den allgemeinen Formeln lauern.

Später freilich darf es keinem erspart bleiben, etwa an der Hand eines modernen, kritischen Lehrbuchs in alle Einzelheiten der schwierigen Fragen einzudringen: sich zu überzeugen, daß die überall stetige Funktion einer Veränderlichen an keiner Stelle einen Differentialquotienten zu haben braucht, daß man vielmehr im allgemeinen statt des einen Differentialquotienten an einer Stelle vier verschiedene Derivierte zu erwarten hat usw.

Fragen der richtigen Pädagogik im mathematischen Hochschulunterricht hier entscheiden zu wollen, liegt mir fern. Ich glaube aber, ein Blick in die Lehrbücher zeigt uns, wie weit wir in vielen Gebieten noch von dem Ideal entfernt sind, die strenge Beweisführung auch zur einfachsten und natürlichsten gestaltet zu haben. —

Die manchmal dem Autor selbst nicht ganz deutlich ins Bewußtsein (Seite 241) tretende Kühnheit, nicht hinreichend scharf geprüfte Elemente in den Gang eines Beweises aufzunehmen, begegnet uns noch oft in einzelnen mathematischen Disziplinen; meist war jenes Element gerade das Samenkorn, dem eine neue Frucht entsprang. So gründen sich bekanntlich Riemanns Untersuchungen über Abelsche Funktionen auf drei fundamentale Sätze, bei denen die Existenz von Funktionen mit gewissen Eigenschaften angenommen wird.(241-1) Zum Nachweis der Existenz dieser Funktionen bediente sich Riemann des sogenannten Dirichletschen Prinzips, ohne zu bemerken, daß dieses Prinzip nicht streng bewiesen war, worauf bekanntlich Weierstraß aufmerksam machte.

Waren Riemanns Untersuchungen deswegen falsch? Durchaus nicht! Es erwuchs nur die Aufgabe, das Prinzip zu ersetzen, was durch sehr verschiedene, nicht sämtlich gleichweit tragende Methoden geschehen ist, oder aber, es direkt zu begründen, nachzuweisen, daß die gegen ein Minimumsproblem im allgemeinen vorliegenden Weierstraßschen Bedenken im speziellen Fall des Dirichletschen Prinzips sich beseitigen lassen.

Das wäre ein Beispiel, aber ungezählte können angeführt werden, um zu zeigen, wie auch die Abhandlungen namhafter Autoren häufig durchsetzt sind von „stillschweigend gemachten“ Annahmen, und gerade solche Unvollkommenheiten gestalten die Lektüre anregend, stellen dem Mathematiker neue Aufgaben.

Soll nun mit dem Hinweis auf die „erschlichenen Freiheiten“ etwa dem Leichtsinn das Wort geredet werden? Ein solches Mißverständnis brauche ich wohl nicht zu fürchten, ich wollte nur betonen, daß in den Händen der großen von Intuitionen beflügelten Geister die Mathematik nicht selten zu einem υστερον προτερον wird, ohne deshalb auf die Dauer ins Wanken zu geraten.

Kommen wir jetzt auf unsere Forderung über die Grundlagen eines strengen Beweises zurück und unterrichten wir uns dann, wie viele Freiheiten sie dem Mathematiker noch läßt.

An der Spitze der Zahlentheorie, des Rechnens mit den ganzen Zahlen stehen eine Reihe bekannter Gesetze, das kommutative, das assoziative, das distributive usw. Es ist bekannt, daß man ganz ohne Bedenken einzelne dieser Gesetze fallen lassen kann, d. h. Zahlensysteme sich ausdenken, bei denen nicht alle diese formalen Gesetze gelten. (Seite 242) Wie fruchtbar sich z. B. die Quaternionen und die dualen Zahlen bei der Behandlung geometrischer Probleme erwiesen haben, nicht nur als künstliche Formelstenographie, sondern als ordnendes Prinzips, zeigt eine ganze mathematische Literatur(242-1).

Verweilen wir auch ein wenig bei den vielerörterten Grundlagen der (euklidischen) Geometrie, indem wir zunächst, um von philosophischer Seite keinen Einspruch zu erfahren, noch annehmen, daß unsere geistige Organisation durchaus nur den euklidischen Raum als Realität zu betrachten gestattet.

Die Gesamtheit aller Sätze der Geometrie haben wir uns dann als ein System von unbegrenzt vielen Aussagen vorzustellen, die sämtlich miteinander verträglich sind und in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis stehn. Eine möglichst kleine Anzahl von ihnen können und müssen als Voraussetzungen an die Spitze treten, die übrigen sind Folgen. Die Auswahl und die Formulierung ist bis zu einem gewissen Grad frei und willkürlich, und so kann es kommen, daß ein und derselbe Satz in der einen Darstellung als Axiom benutzt wird, bei einem andern Mathematiker dagegen als Folgerung erscheint. In diesem Verhältnis steht z. B. das euklidische Parallelenpostulat zu dem Satz, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte beträgt(242-2)

Wie hat man die Axiome auszuwählen? Die Antwort lautet im Prinzip sehr einfach: Man hat so zu wählen, daß kein Axiom überflüssig ist und daß sie ausreichen. In Wirklichkeit hat es große Mühe gekostet, das Programm durchzuführen, und wer darf es wagen zu behaupten, daß wir bereits die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht haben? Freilich, einem Aprioristen vom Schlage Schopenhauers wird solche Mühe gänzlich vergeudet erscheinen; für ihn sind ja alle geometrischen Sätze selbstverständlich, sie müssen intuitiv klar sein und werden nur von pedantischen Kleinigkeitskrämern in die langweiligen Bruchstücke zerhackt, die einzelnen Schritte, die einen Beweis zusammensetzen. Aber schon Christian Wolff nennt die beiden Einwände gegen die elementare Geometrie: Sie zerre den natürlichen Zusammenhang der Dinge auseinander, und sie beweise selbstverständliche Sachen, und er weist beides als unberechtigt zurück.(242-3)

(Seite 243) Um festzustellen, ob wirklich ein gegebenes System von grundlegenden Sätzen lauter unabhängige Axiome darstellt, wird man sich ein System von Objekten aussuchen (am besten ist es, wenn man analytisch einwandfrei definierte hierfür nimmt), die alle Bedingungen bis auf die eine erfüllen. Gelingt dies, dann ist gezeigt, daß die eine Aussage wirklich ein unabhängiges Axiom darstellt. Gerade solche Objekte werden am besten herangezogen, die dem naiven Denken gesucht und paradox erscheinen, um so weniger ist dann zu fürchten, daß man sich durch die Gewohnheit täuschen läßt. Sehr instruktiv für diese ganze Methode ist die von Hilbert in einer Vorlesung gegebene Analyse des Desarguesschen Lehrsatzes. Dieser bekannte Satz aus der projektiven Geometrie (schneiden sich die Verbindungslinien AA1, BB1, CC1 der entsprechenden Ecken zweier Dreiecke ABC, A1B1C1 in einem Punkt, dann liegen die drei Schnittpunkte der entsprechenden den Ecken gegenüberliegenden Seiten dieser Dreiecke auf einer Geraden) war immer durch Projektion aus dem Raum bewiesen worden. Die Frage ist: War das wirklich nötig, oder folgt der Satz nicht allein schon daraus, daß die Geraden in der Ebene ein System von Kurven darstellen derart, daß durch zwei Punkte eine Gerade eindeutig bestimmt ist? Gewisse Linien, die sich aus einem Stück einer Geraden und einem als Fortsetzung zu betrachtenden Kreisbogenstück zusammensetzen, dabei aber doch die Grundeigenschaften der Geraden haben, zeigten in der Tat die Unabhängigkeit des Desarguesschen Satz von der Grundeigenschaft; er gilt für diese Pseudogeraden nicht. In dieser Weise sind die Axiome sämtlich gewissen Elastizitätsproben (Seite 244) zu unterziehen, wenn man sich über ihre gegenseitige Stellung logisch strenge Rechenschaft geben will.(244-1)

An dieser Stelle habe ich jetzt auch der nichteuklidischen Geometrie im engern Sinne, der Geometrie ohne Parallelenpostulat zu gedenken. Man kann sie bekanntlich mit Hilfe gewisser Definitionen in die euklidische Geometrie einbauen. Gewisse Systeme von Kugeln und Kreisen können die „Ebenen“ und „Geraden“ darstellen, in einer andern Darstellungsform wird eine ovale Fläche zweiten Grades, die nach Euklidischer Maßbestimmung im Endlichen liegt, als unendlich fern liegendes Gebilde interpretiert, endlich gilt auf den Flächen konstanten Krümmungsmaßes die nichteuklidische Geometrie.

Aus dieser bunten Fülle der Bilder zur Veranschaulichung im euklidischen Raum erwächst wohl oft der nichteuklidischen Geometrie der Vorwurf, das seien lauter künstliche Konstruktionen, die den Stempel des Absurden an der Stirne tragen, in Wirklichkeit könne man sich nur die euklidische Geometrie vorstellen. Allein dieser Einwand wäre ebensowenig berechtigt, wie die Behauptung, perspektische Verkürzung bedeute ein wirkliches Zusammenschrumpfen des Objekts.

Übrigens hat Helmholtz sich auf die Seite der Mathematiker gestellt, die die Vorstellbarkeit des nichteuklidischen Raumes zugeben, Cayley, der Mathematiker, dessen Untersuchungen zu dem zweiten der drei aufgezählten Bilder geführt haben, verhält sich ablehnend, ihm war es anfangs durchaus nicht verständlich, wie Klein aus den Cayleyschen Maßbestimmungen die nichteuklidische Raumvorstellung entwickelte. Ich neige zu der an dieser Stelle schon einmal verteidigten (Seite 245) Auffassung, daß die Vorstellbarkeit des nichteuklidischen Raumes Sache der Gewöhnung ist.(245-1)

Mag der Mathematiker mit einer solchen These in den Augen des Philosophen die ihm gesteckten Grenzen überschreiten, so kann er doch die Geschichte der Wissenschaft für sich in die Schranken rufen. Gerade die ersten Baumeister des Lehrgebäudes, Gauß, Lobatschefskij und Bolyai verfuhren durchaus realistisch; sie zogen Folgerungen aus der (nach ihrer Ansicht durch feine Messungen der Winkelsumme in sehr großen Dreiecken zu prüfenden, also nicht etwa aus der Luft gegriffenen) Annahme, daß das Parallelenpostulat nicht gilt. Sie fragten nicht etwa: Gibt es im euklidischen Raum ein System von Kurven Flächen und Transformationen, das durch künstliche Deutung die Geraden, Ebenen und Bewegungen eines chimärischen, nichteuklidischen Raumes wiederspiegelt.

Von diesem realistischen Gesichtspunkt aus könnte übrigens die Argumentation einfach umgekehrt und gegen die euklidische Geometrie gewendet werden: Kann man sich die nichteuklidische Geometrie oder vielmehr die verschiedenen Arten von nichteuklidischer Geometrie nur durch künstliche Interpretation darstellen, so gilt dasselbe für die euklidische Geometrie im nichteuklidischen Raum: die Grenzfläche des hyperbolischen Raumes und die Cliffordsche Fläche des elliptischen Raumes, auf denen die euklidische Geometrie gilt, sind nicht eben sondern gekrümmt. Das soll kein Argument gegen die euklidische Geometrie sein, es soll nur zeigen, daß ein immer wieder geäußerter Vorwurf gegen die nichteuklidische unberechtigt ist.

Doch, ziehen wir uns von diesem metaphysischen Boden zurück, gehn wir der Freiheit des Mathematikers auf einem gewiß nicht anfechtbaren (Seite 246) Gebiete nach, dem Wahl des Ziels seiner Forschung, dessen große Mannigfaltigkeit meist nicht genug gewürdigt wird. Nur wegen der Fülle des Materials fällt es hier schwer, die behauptete Freiheit einleuchtend hervortreten zu lasssen; es müßte eine Heerschau gehalten werden, und wir könnten sehen, wie sich in der Mannigfaltigkeit der Probleme und in ihrer Behandlung Charakter und Rasseneigentümlichkeiten wiederspiegeln.

Greifen wir wenigstens ein dem Laien oft einförmig erscheinendes Gebiet heraus, machen wir aus der Lehre von den algebraischen Gleichungen eine Stufenfolge von Fragen namhaft, die zeigt, wie viel hier zu erledigen ist.

Erste Frage: Eine bestimmte algebraische Gleichung ist vorgelegt, mit gegebenen Zahlenkoeffizienten. Wie berechnet man ihre Wurzeln? Vorfrage: Gibt es überhaupt Zahlenwerte, die die Gleichung erfüllen? Bekanntlich hat die Vorfrage erst Gauß für alle Fälle befriedigend beantwortet, während Newton bereits durch seine Näherungsmethoden zur Hauptfrage beigetragen hat. Analytische und graphische Methoden gingen auf diesen Wegen immer weiter. Die Fragen nach dem Wurzelwert differenzieren sich ins einzelne: Es kommt vielleicht nicht darauf an, die Zahlenwerte der Wurzeln zu bestimmen, sondern nur, festzustellen, wie viele Wurzeln liegen in einem reellen Gebiet. (Beispiel: Wie viele Schwingungsknoten befinden sich auf einem bestimmten Stab- oder Saitenstück?). Dieses für die Praxis wichtige Problem hat die feinsten mathematischen Köpfe von Descartes an beschäftigt. Weiter: Dieselbe Frage soll für das komplexe Gebiet erledigt werden.

Zweite Frage: Die Gleichung liegt nicht als Ausdruck mit gegebenen Zahlenkoeffizienten vor, sondern in allgemeiner Form, z. B. ax² + bx + c = 0. Kann man die Wurzeln dann auch in die Gestalt einer allgemeinen Formel bringen, so daß man, sobald für die Koeffizienten bestimmte Zahlenwerte gegeben sind, diese nur in die Schlußformel einzusetzen braucht, um die Zahlenwerte der Wurzeln zu erhalten? Antwort: Für die Gleichungen bis zum vierten Grad einschließlich gelingt dies allgemein auf die Art, daß in der Endformel nur über und nebeneinander geordnete Wurzelzeichen vorkommen (z. B. in der Cardanischen Formel). Bei den Gleichungen vom fünften Grade an, kommt man mit so elementaren Funktionen nicht mehr aus. — Von selbst schließen sich daran weitere Fragen, nach der Gestalt der Funktionen, die zur Auflösung der Gleichungen höheren Grades dienen, ferner nach Gleichungen von höheren Grad als vier, die doch noch einer Vereinfachung fähig sind, wie z. B. die sogenannten reziproken Gleichungen. Bei den reziproken Gleichungen ordnen sich die Wurzeln zu Paaren (Seite 247) reziproker Zahlen zusammen; die Gleichungen lassen sich vereinfachen, weil es Funktionen der Wurzeln gibt, die bei Vertauschung der Wurzeln ihren Wert nicht ändern, und die Anzahl dieser Funktionen kleiner ist, als die Anzahl der Wurzeln. Für diese Funktionen bekommt man eine Hilfsgleichung, Resolvente, von niederem Grad als die Hauptgleichung, und aus den Wurzelwerten der Resolvente wieder ebenso für die Wurzeln der Gleichung. — Wie kann man allgemein Gleichungen mit niederer Besolvente bilden, resp. die Gleichungen nach diesem Gesichtspunkt klassifizieren? Hier setzt bekanntlich die Galoissche Gruppentheorie ein, eine kräftige Stütze für die Behauptung des Montucla, daß die Algebra genau so gut, wie die Geometrie eine konstruierende, nicht etwa eine analysierende Wissenschaft ist.(247-1)

Dritte Frage: Systeme von mehreren Gleichungen mit mehreren Unbekannten sind gegeben. Wann sind sie verträglich, wie bestimmt man das allgemeine Wertsystem, das die Gleichungen erfüllt, welches ist die einfachste Form, auf die man die Gleichungen bringen kann, ohne dabei den Wertbereicb der Lösungen zu erweitern oder einzuschränken? Eliminationstheorie, Determinantenlehre und die wieder in hohem Maß konstruktiven Charakter zeigende Invariantentheorie haben in diesen Fragen ihre Quellen.

Die Mathematiker bitte ich um Nachsicht bei Kritisierung dieses unvollständigen Schemas; aber dem Vorwurf der Eintönigkeit, den ja manchmal auch die Vertreter einzelner mathematischer Disziplinen gegen einander erheben(247-2), kann nur durch einen solchen Versuch begegnet werden.

Dem Mathematiker ist auch die Tatsache wohlbekannt, daß unter derselben Überschrift sich die verschiedensten Gegenstände und Behandlungsarten verbergen, z. B. haben die Differentialgleichungen, ein und dasselbe Objekt mathematischen Denkens, für die verschiedenen Köpfe die allerverschiedensten Aufgaben gestellt, wobei ein gewisser Parallelismus mit dem eben gewonnenen Schema der Algebra sich aufdrängt. Der Natur des Objektes nach ist aber die Mannigfaltigkeit bei den Differentialgleichungen viel reicher.(247-3)

(Seite 248) Die neuen Fragen entnimmt die Mathematik zum großen Teil sich selbst, manchmal durch die Unmöglichkeit, die gerade Linie weiter zu verfolgen, auf neue Wege gedrängt, die erst als Umwege erscheinen. Natürlich ist es auf der anderen Seite die angewandte Mathematik, die theoretische Astronomie, die Physik, die physikalische Chemie usw., welche neue Kraftproben der Mathematik verlangt. Da bewährt sich immer von neuem, was einst Baco(248-1) gesagt hat: Prout physica maiora in dies incrementa capiet et nova experimenta educet, eo mathematicae nova opera in multis indigebit et plures demum fient mathematicae mixtae.

Die Mathematik wird eben nicht nur, wie es heute oft heißt, als Dienerin nachträglich zur Beschreibung des Beobachteten herangezogen, nein, es werden auch oft schon feine mathematische Hilfsmittel erfordert, um die besten Versuchsbedingungen herauszufinden.

Mit gutem Gewissen kann sie den Vorwurf von sich weisen, daß sie in reserviertem Hochmut die Probleme der Praxis vernachlässigt(248-2) (man denke z. B. an die Mühe, die in letzter Zeit auf die approximative Lösung von Differentialgleichungen verwendet worden ist), offen wird sie anerkennen, wieviele Gelegenheiten zu neuen Gedankengängen sie der Praxis verdankt. Aber wehren muß sie sich gegen die Umkehrung des Kantschen Ausspruchs, daß in der Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft enthalten ist, als Mathematik in ihr angewandt werden kann, gegen die Umkehrung, welche lautet: Die Mathematik hat nur soweit Wert, als sie für die Anwendung in der Naturwissenschaft, Technik usw. zu brauchen ist.

Wer so urteilt, wird überdies noch häufig darüber klagen, daß der Mathematiker meist nicht in der Lage ist, auf die vorgelegte Frage schnell die gewünschte Antwort in handlicher Form geben zu können. Er ist von seinen selbst gewählten Aufgaben in Anspruch genommen, die volle Konzentration auf den einen Gegenstand erfordern, und er wird die Wissenschaft nicht so treiben, daß ihre Resultate möglichst oft praktisch angewendet werden können, sondern sein Wahlspruch lautet: Treibe die Wissenschaft so, daß Deine Untersuchungen der Ausgangspunkt für weitere Fortschritte innerhalb der Mathematik werden können!

Quelle:

Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.
Bd. 14 (1905)
Seite 230 – 248

Letzte Änderung: 20.03.2024     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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