Notwendigkeit und Freiheit in der Mathematik.

Von H. LIEBMANN in Leipzig.

Anmerkungen

231-1)
G. Cantor, „Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre“, (Leipzig 1883) p. 19. — Ich zitiere nach dem vortrefflichen „mathematischen Büchmann“ (W. Ahrens, Scherz und Ernst in der Mathematik. Leipzig 1904. S. 434).
231-2)
Alfred Pringsheim, Über Wert und angeblichen Unwert der Mathematik. (Diese Berichte XIII, 1904. S. 357—382).
231-3)
Ahrens, a. a. O. S. 368.
232-1)
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.
232-2)
Pringsheim, a. a. O. S. 369.
232-3)
Montucla, Histoires des Mathématiques I, p. 27.
232-4)
Th. Hobbes, Opera latina IV. ed. G. Molesworth. Lond. 1845 ist eine Fundgrube handgreiflicher Irrtümer und maßloser Schmähungen, ein Denkmal lächerlichen Eigenlobs. — Bei der Quadratur des Kreises wird durch Konstruktion einmal der Zahlenwert π = 3 1/5 gefunden (p. 375, 447, 489). An anderer Stelle wird die von Regiomontanus gegebene Widerlegung des arabischen Wertes π = √10 für unrichtig erklärt (p. 464). In der „Duplicatio cubi“ wird eine Konstruktion gelehrt, aus der folgt: π = 2 + 2/√3 (p. 505). tang 30° ist größer als 1 : √3, daher der Pythagoreische Lehrsatz (Eukl. Elem. I, 47), der damit nicht im Einklang steht, falsch (p. 461). — Von der analytischen Geometrie des Cartesius heißt es: Infecit geometras huius aevi, geometriae verae pestis (p. 442). Die Arithmetik nennt er „scabies geometriae“ (p. 522). Die Gegenschriften des „vastus geometra Oxoniensis“, John Wallis sind „puerilia, rustica, indocta, inficeta“ (p. 622). Von den 7 eigenen Werken, Quadratura circula usw. aber heißt es an derselben Stelle, gegen Wallis gerichtet: per te non peribunt. — Der Skeptiker Bayle schreibt in dem Artikel Zeno des „Dictionnaire“, wer als Philosoph einen Mathematiker bekämpfen will, muß guter Philosoph und geschickter Mathematiker sein.
233-1)
Ahrens a. a. O. S. 73, 226, 326 usw.
233-2)
Das Thema: „Mathematik und Kunst“ ist mehrfach behandelt worden. Die hier im einzelnen zu erörternde Freiheit in der Wahl des Werkzeugs, der Ziele und der Stolz, mit dem die Zumutung, anderen Zwecken zu dienen, zurückgewiesen wird, verbinden diese Gebiete menschlichen Könnens. Außerdem wäre zu erwähnen, daß es auch in der Mathematik Werturteile gibt. (F. Engel lenkt hierauf in seiner Antrittsvorlesung: Der Geschmack in der neueren Mathematik, Leipzig 1890 die Aufmerksamkeit. Dem Geschmack unterworfen sind natürlich nicht die mathematischen Wahrheiten, wohl aber die Operationen, mit deren Hilfe man sie ableitet. Der Geschmack verlangt „alle Aufgaben, die sich innerhalb eines Gebietes lösen lassen, auch zu lösen, ohne es zu überschreiten“ a. a. O. S. 10). Ferner verbindet die Mathematik mit der Musik z. B. die Schwierigkeit der Geschichtsforschung auf diesen beiden Gebieten. Nur wer selbst eine gewisse produktive musikalische Ader fühlt, kann Geschichte der Musik treiben, und Ähnliches gilt für die Mathematik.
234-1)
Lehren und Lernen in der Mathematik. Rede beim Antritt des Rektorats von F. Lindemann. München 1904. S. 14.
235-1)
Vgl. W. Ahrens, Mathematische Unterhaltungen nach Spiele. Leipzig 1901. S. 22–23.
235-2)
M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik I, 2. Aufl. Leipzig 1894. S. 169.
235-3)
Ähnliches wiederholt sich auf andern Gebieten. Vgl. z. B. die Bemerkung von F. Hausdorff in seinem Artikel: Eine neue Strahlengeometrie (Besprechung von Studys Geometrie der Dynamen), Zeitschrift f. mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht. 35. Jahrgang, 1906, p. 470 ff. H. betont, daß die Bezeichnung, die Einführung der dualen Größen, keine bloße Stenographie, keine formale Neuerung ist, daß ihr vielmehr eine suggestive Kraft innewohnt. „Ein natürliches Zeichensystem, das seinem Begriffssystem angepaßt und sozusagen in prästabilierter Harmonie zugeordnet ist, läßt sich nicht ohne erheblichen Verlust an Gedankenenergie durch ein anderes ersetzen.“ Es wirkt, wie z. B. das periodische System der Elemente in der Chemie, es macht auf auszufüllende Lücken der Begriffsbildungen aufmerksam. Inwiefern auch hier wieder, in der Ausfüllung gewisser Lücken, große Freiheit herrscht, das ist ein Kapitel für sich.
236-1)
Tropfke, Geschichte der Elementarmathematik I. Leipzig 1902. S. 191. — Für höhere Potenzen werden Bezeichnungen wie sursolidum usw. gebraucht.
236-2)
Vgl. Zeuthen, Geschichte der Mathematik im 16. und 17. Jahrhundert. Leipzig 1903. 8. 383.
237-1)
Hierher gehört auch die Methode der japanischen Tischler, aus einer Zahl mit Hilfe zweier beweglichen rechten Winkel die Kubikwurzel zu ziehen. (Harzer, die exakten Wissenschaften im alten Japan. Kiel 1906, S. 38.)
237-2)
F. Klein, Einleitung in die höhere Geometrie I. (Autographisches Vorlesungsheft. Göttingen 1893) S. 149.
237-3)
Sophus Lie nannte in seinen Vorlesungen diesen Übergang von einer Auffassung zur andern „philosophisch.“ In der Tat hat W. Wundt in der „Methodenlehre“ (Logik, zweiter Teil Stuttgart 1883) dieses Verfahren in der Geometrie einer Besprechung gewürdigt. S. 158.
238-1)
Vgl. z. B. Lie und Scheffers, Geometrie der Berührungstransformationen I. Leipzig 1896. 8. 531. An dem Beispiel einer Gleichung, welche Differentialquotienten überhaupt nicht enthält, wird das allgemeine Integrationsverfahren der partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung genau verfolgt!
238-2)
Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, deutsch von F. und L. Lindemann. Leipzig 1904. 8. 75.

Wenn Poincaré zu dem Resultat gelangt, daß die geometrischen Axiome praktische Festsetzungen sind, willkürliche Stempel, dem Bewußtseinsinhalt, soweit er sich auf die Außenwelt bezieht, aufgeprägt, nur von dem etwas schattenhaften Schema der Gruppe beherrscht (S. 70), so überkommt den Leser dabei wohl dasselbe unbehagliche Gefühl, wie bei der philosophischen Lehre vom willkürlichen Gesellschaftsvertrag, eine Lehre, die das moralische Apriori mit demselben Radikalismus ausschaltet, wie Poincaré die synthetischen Urteile a priori bis auf einen schwachen Rest. — (Vgl. auch die Ausführungen weiter unten S. 244). Gegenüber diesem Relativismus in bezug auf Raumanschauung vgl. man z. B. O. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. Dritte Auflage. Straßburg 1900. S. 72–86, wo die Vorstellung des euklidischen Raumes als zwingend betrachtet und diese Auffassung näher analysiert wird.

239-1)
Gauß Werke III (Göttingen 1876), S. 6.
239-2)
Vgl. z. B. Hölder, Die Axiome der Quantität und die Lehre vom Maß (Leipzig 1901, Berichte der K. S. G. d. W.).
239-3)
Zeuthen, a. a. O., p. 210.
241-1)
Vgl. C. Neumann, Das Dirichletsche Prinzip in seiner Anwendung auf Riemannsche Flächen. Leipzig 1865. — Im übrigen findet sich eine vergleichende Analyse der Arbeiten von C. Neumann, H. A. Schwarz, H. Poincaré, D. Hilbert und anderer Autoren z. B. bei Fouët, Fonctions analytiques II, Paris 1904, S. 49 ff. sowie in andern Lehrbüchern.
242-1)
Vgl. die Anmerkung oben (S. 236). Hierher gehören auch die Graßmannschen Zahlen, die Vektoren usw.
242-2)
Sammlung Schubert 49 (Nicheuklidische Geometrie) gibt p. 2–5 eine Übersicht äquivalenter Formen des Parallelenpostulats.
242-3)
Ch. Wolff, Elementa matheseos I 2. ed. Genevae 1743, p. 12. Die „obiectiones“ gegen die Mathematiker sind
1) qnod multa definiant, quae definitione non habent opus et quod multa probent, quae probatione npn indigent.
2) quod ordinem, quo generaliora et simpliciora specialibus et compositis praeponi necesse est, negligent, nec ad unum argumentum pertinentia uno loco absolvent.
Sehr richtig bemerkt er dazu, daß die Definitionen nicht nur zur Erklärung d. h. zur Erzeugung einer vorn Autor gewollten Vorstellung dienen sollen, sondern bestimmt sind, Elemente eines Beweises zu geben, daher ganz besondere Sorgfalt erfordern. Als Beispiel eines „überflüssigen Beweises“ wäre etwa der von Pasch in seiner Gießener Rektoratsrede (1894) „Über den Bildungswert der Mathematik“, erwähnte Beweis der Gleichheit zweier Scheitelwinkel zu nennen (Pasch betont die Wichtigkeit lückenloser Beweise, im Gegensatz zu einem irgendwoher genommenen Verfahren, aus dem man die Überzeugung von der Richtigkeit einer Behauptung schöpft). Ferner gehört hierher Hilberts Begründung der Lehre vom Flächeninhalt (Grundlagen der Geometrie, zweite Auflage, Leipzig 1903. S. 39–46). Die so selbstverständlich scheinende Annahme, daß einer Figur ein bestimmter, nicht etwa von der Art der Ausmessung abhängiger Inhalt zukommt, muß genauer untersucht, verschiedene Arten der Gleichheit je nach den Mitteln, die zum Nachweis dieser Tatsache dienten, müssen festgestellt werden usw.
244-1)
Eine solche Elastizitätsprobe einer analytischen Definition der Kurve (die rechtwinkligen Koordinaten x und y sind stetige Funktionen eines Parameters t) ist die Peanosche Kurve, die in ihrem Verlauf alle Punkte eines Quadrats trifft. Wie Klein dazu bemerkt (Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf die Geometrie. Eine Revision der Prinzipien. Autographierte Vorlesung Göttingen 1902, p. 248) liegt das Paradoxe bei der Peano-Kurve durchaus nicht in der Sache, sondern in der Ausdrucksweise, daß wir nämlich bei ihr das Wort „Kurve“ in einem allgemeineren Sinne brauchen, als zulässig ist, wenn wir die Analogie mit den empirischen Kurven festhalten wollen. — Das Beispiel zeigt, wie schwer es ist, eine greifbare Definition zu geben, die mit der Anschauung in Einklang steht, wie vorsichtig mit solchen allgemeinen Begriffen „Kurve, Fläche“ etc. umzugehen ist, wenn man nicht von vornherein in die Definition eine Menge einzelner Determinationen aufnimmt. Ebenso erfordern bei der Lehre von den bestimmten Integralen die freien Begriffsbildungen oft sehr sorgfältige Konstruktionen von Beispielen, um sich über den Inhalt einer Definition klar zu werden.
245-1)
F. Hausdorff, Das Raumproblem. Antrittsvorlesung in Leipzig am 4. Juli 1903 gehalten, p. 5–6. (Erschienen in Band III von Ostwalds Annalen der Naturphilosophie). Außer dem a. a. O. erwähnten Veranschaulichungsverauch von Helmholtz wäre noch Poincaré (a. a. O., p. 67–69) zu nennen. Instruktiv ist vielleicht auch folgende Betrachtung: Man denke sich das Bild aus, unter dem eine zu der als unbegrenzte Ebene vorgestellten Wasseroberfläche außerhalb gelegene parallele Ebene von einem Punkt innerhalb erscheint. Sie drängt sich innerhalb eines Kreises zusammen, dessen Radius leicht durch die Tiefe des Punktes unter der Oberfläche und den Grenzwinkel der Totalreflexion zu bestimmen ist. Strecken erscheinen immer kürzer, je weiter sie entfernt sind, das Bild der unendlich fernen Punkte jener Ebene wird ein endlicher Kreis, und man kann an diesem Bild leicht Poincarés Betrachtungen wieder aufnehmen. — Cayley konnte sich nicht überzeugen, daß das erwähnte Bild der nichteuklidischen Geometrie sich auch frei von dem Substrat der euklidischen Geometrie begründen läßt. (Vgl. Cayley, Mathematical Papers II, Cambridge 1889, p. 606.)
247-1)
Montucla, Hist. de Math. I, p. 9.
247-2)
Nach dieser Richtung könnte das Buch von Ahrens, Scherz und Ernst in der Mathematik, manche indiscrete Vervollständigung erfahren.
247-3)
Wie wenig Berührungspunkte haben z. B. die Bücher von Lie-Scheffers (Anwendung infinitesimaler Transformationen), Riemann-Weber (Differentialgleichungen der Physik), C. Runge (Approximative Behandlung für die Zwecke der Praxis) und L. Schlesinger (Funktionentheoretische Untersuchungen). Fast nur der Titel „Differentialgleichungen“ ist ihnen gemein!
248-1)
De augmentis scientiarum Lib. in, cap. 6.
248-2)
Über das Thema „angewandte Mathematik“ und die sich daran knüpfenden Diskussionen und Programme soll hier nicht weiter gesprochen werden; das liegt außerhalb des hier gesteckten Zieles.

Letzte Änderung: 20.03.2024     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis