Felix Klein:
Geometer des Crelleschen Journals

Steiner

Ehe wir auf sie näher eingehen, haben wir uns nun mit dem Neubegründer der synthetischen Geometrie in Deutschland zu beschäftigen, mit Jacob Steiner.

Steiner, der Schweizer Bauernsohn, der bis zum 19. Jahr den Acker pflügte und sich dann, von seiner großen Sehnsucht nach dem Lehrerberuf getrieben, der Pestalozzischen Ausbildung widmete, ist, soviel ich weiß, das einzige Beispiel in unserer Wissenschaft für eine Heranbildung mathematischer Fähigkeiten erst im reifen Mannesalter, die trotzdem noch bis zur Meisterschaft führt; einzigartig dürfte er auch dastehen als ein führender Geist und bedeutender Universitätslehrer, der aus der methodischen Zucht des Volksschulbetriebes hervorgegangen ist.

Steiner wurde am 18. März 1796 in Utzendorf bei Solothurn geboren. Als Bauer aufgewachsen, trat er 1815 zunächst zur eigenen Weiterbildung, später als Lehrer in das pädagogische Institut ein, das Pestalozzi zu Iferten gegründet hatte, um seine reformatorischen Ideen auf dem Gebiet der Erziehungskunst in die Praxis umzusetzen. So schöpferisch und belebend auch Pestalozzis Ideen waren, wie ja ihre Nachwirkung nach vielen Seiten beweist, so fehlte es ihm offenbar selbst doch an Geschick, ihnen durch die Tat zum Durchbruch zu verhelfen. Sein Unternehmen in Iferten scheiterte, vor allem an finanziellen Schwierigkeiten. Steiner, den es mächtig nach wissenschaftlicher Weiterbildung verlangte, verließ ihn 1818, um bis 1821 in Heidelberg, kümmerlich durch Privatstunden seinen Unterhalt verdienend, sich vor allem durch eigene Studien der französischen Geometrie weiter zu entwickeln. Dennoch verhalf ihm seine frühere Lehrertätigkeit zuerst vorwärts. In Berliner ministerialen Kreisen war nämlich ein Interesse an der Pestalozzischen Methode lebendig, und so wurde Steiner nach Berlin gezogen, wo er zunächst verschiedene Lehrerstellungen inne hatte. Der Zutritt zum Hause Wilhelm von Humboldts, des früheren Ministers, dessen Sohn er unterrichtete, verhalf ihm zum Anstieg. 1834 wurde, als letzter Ausläufer der Bestrebungen nach Gründung einer polytechnischen Schule, ein Extraordinariat an der Berliner Universität für ihn errichtet; zugleich wurde er Mitglied der Akademie. Er starb am 1. April 1863.

Es mag auffallen, daß Steiner ein Ordinariat in Berlin versagt geblieben ist. Offenbar hielt man dafür, daß es ihm für eine solche Stellung an der gesellschaftlichen Befähigung mangele. Und in der Tat würde Steiner sich in die offiziellen Kreise auf eine seltsame Weise eingefügt haben, zumal in späteren Jahren, als der alternde Mann, mit Gott und der Welt zerfallen, seinen Argumenten im Gespräch häufig durch eine nicht leicht zu übertreffende, urwüchsige Grobheit Nachdruck zu verleihen pflegte. Über seine Persönlichkeit und seine Entwicklung finden sich viele interessante Notizen in der Schrift seines Neffen C. F. Geiser: Zur Erinnerung an Jacob Steiner (Verhandlungen der Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft 1872-73, 56. Jahresversammlung. Schaffhausen 1873, S. 215ff.).

Nach allem, was Geiser über Steiners Entwicklung erzählt, und nach der Art, wie sich Steiners Gaben äußerten, müssen wir sein Talent, das von der anschauungsmäßigen Erfassung der Raumformen ausgeht, und eben darum die Analysis verschmäht, als ein durchaus ursprüngliches ansehen. Die Rückführung seiner Anschauungskraft auf Pestalozzischen Einfluß muß jedem als unhaltbar erscheinen, der einmal das in diesem Zusammenhang oft genannte Pestalozzische Buch „ABC der Anschauung“ in der Hand gehabt hat. Das Buch ist von einer inhaltlichen Armut, die einen wahrlich erschrecken und in dem Verfasser den Begründer der auf Anschauung gerichteten neuen Pädagogik nicht ahnen läßt. Einzig und allein die Zerlegung von Strecken in gleiche Teile, von Quadraten in gleiche Quadrate, wird in immer neuer ansteigender Anzahl bis zum Überdruß geübt. Welch sonderbare Vorstellungen diese ersten Pädagogen, die doch wirklich eine neue, äußerst fruchtbare Idee lebendig gemacht haben, von der Ausführung ihrer Pläne hatten, geht auch aus dem Kommentar hervor, den der große Philosoph und Pädagoge Herbart zu dem Pestalozzischen Werk verfaßte. Herbart entwirft für die Pflege der Anschauung eine Tafel mit lauter rechtwinkligen Dreiecken verschiedener Gestalt und Größe, durch deren ständigen Anblick er eine lebhafte Vorstellung der rechtwinkligen Dreiecksgestalt in seinen Zöglingen erwecken wollte; ja, zur dauernden, unvergeßlichen Einprägung empfiehlt er, diese Tafel bereits neben der Wiege des Säuglings aufzuhängen! Um den richtigen Kern aus diesen pädagogischen Monstrositäten herauszuschälen und die Erziehungskunst in vernünftigere Bahnen zu lenken, bedurfte es erst eines Fröbel. Er, und mit ihm Harnisch, stellte die körperliche Gestalt, also das Dreidimensionale, bei der Erziehung des Kindes voran. Bei beiden Pädagogen macht sich der eigene Bildungsgang, nämlich das Ausgehen von Mineralogie und Kristallographie, geltend.

Seine anschauliche Kraft hat also Steiner gewiß nicht aus dieser Quelle geschöpft; aber etwas anderes verdankte er für sein Leben der eigenartigen Ausbildung: die Kunst des Unterrichtens. Die Pestalozzische Richtung pflegte das liebevolle, sorgfältige Eingehen auf den Standpunkt des Lernenden, zu dessen Förderung sie die sog. Sokratische Methode anwandte. Alle Erkenntnis soll von dem Schüler selbst erarbeitet, entdeckt, produziert werden; nur eine Anleitung für die einzuschlagende Richtung soll der Lehrer dem selbstdenkenden Schüler geben. Steiner verwendete aus diesem Prinzip, das er mit großem Geschick und Erfolg ausbaute, in seinen Vorlesungen keine Figuren; das lebendige Mitdenken des Hörers sollte ein so deutliches Bild in seiner Vorstellung erzeugen, daß er das sinnlich Angeschaute entbehren könnte. (Noch weiter geht später, beim Unterricht seiner Seminarkandidaten in Mörs, Diesterweg, indem er beim Geometrieunterricht die Stube auch noch ausdrücklich verfinsterte!)

Steiners Arbeiten sind als gesammelte Werke in zwei Bänden von der Berliner Akademie herausgegeben (1880/82). Sie zerfallen in zwei recht scharf getrennte Gruppen.

Die erste umfaßt die Periode von 1826 (Crelle, Bd. 1) bis etwa 1845. Sie enthält die eigentlich originalen Konzeptionen Steiners, freilich an relativ elementaren Gebilden durchgeführt.

Die zweite Periode enthält Arbeiten über höhere algebraische Gebiete, oft nur Ankündigungen von Resultaten ohne Beweis. Leider geht aus dem von Graf 1896 herausgegebenen Briefwechsel Steiners mit Schläfli aus den Jahren 1848 bis 1856 mit Deutlichkeit hervor, daß Steiner sich hier in ausgiebiger Weise englischer (und anderer) Quellen bedient hat, die er nicht zu kennen vorgab. Es ist die Tragik dieses an sich gewiß ungewöhnlichen Mannes, daß er nach einem selten ruhmvollen Aufstieg, von seiner Umgebung mit Verehrung und Bewunderung überschüttet, das Schicksal der im Alter versiegenden Produktivität nicht ertrug und, verbittert, wie er war, sich mit verzweifelten Mitteln dagegen wehrte, indem er vor sich selbst und anderen den Glanz früherer Tage zu erhalten suchte. Wieweit hier wirkliche Täuschung vorliegt, wieweit Steiner selbst das Opfer einer durch lebhaften Wunsch getrübten Beurteilung der eigenen Erfindungskraft war, wer will das entscheiden?

Jedenfalls beschränken wir uns hier im Zusammenhang mit den Betrachtungen, die uns z. Zt. beschäftigen, auf die früheren Steinerschen Arbeiten. Das Hauptwerk ist die „Systematische Entwicklung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von einander“, von dem aber statt der geplanten fünf Teile nur der erste Teil, Berlin 1832, erschienen ist.

Projektive Erzeugung

Der Plan eines rein synthetischen Aufbaues der Geometrie ruht auf der Grundidee der projektiven Erzeugung. Ausgehend von der Projektivität der „Grundgebilde“ — in der Ebene: Gerade, Strahlbüschel, die Ebene selbst; im Raume: Gerade, ebenes Strahlbüschel, Ebenenbüschel, Strahlbündel und Ebenenbündel, der Raum selbst — soll das Lehrgebäude der Geometrie durch sukzessive Erzeugung höherer Gebilde aufgeführt werden. Die Grundgebilde werden projektiv aufeinander bezogen und die Erzeugnisse dieser Beziehungen als die nächstwichtigen höheren Gebilde untersucht.

Ausgeführt ist diese Untersuchung im vorliegenden Teil I nur für Kegelschnitte und einschalige Hyperboloide, die als Durchschnitt der entsprechenden Ebenen zweier projektiver Ebenenbüschel erzeugt werden. Etwas weiter führen die von Schröter 1867 herausgegebenen Vorlesungen.

Das Neue und Wichtige an diesen Ausführungen liegt nach Seite der Systematik; stofflich ist in ihnen nicht wesentlich Neues enthalten. Die Strenge der Durchführung des einmal gefaßten Planes aber, die sich mit einer glänzenden Diktion verbindet, zwingt durch ihre Einseitigkeit und Originalität den Leser in ihren Bann. Es kommt bei Steiner neben dem Interesse der Forschung immer auch der Sinn für Darstellung und Unterricht zur Geltung. Welchen Wert er selbst seinen Untersuchungen beilegte, geht aus der Vorrede hervor:

„Gegenwärtige Schrift hat versucht, den Organismus aufzudecken, durch welchen die verschiedenartigen Erscheinungen in der Raumwelt mit einander verbunden sind … Es tritt Ordnung in das Chaos ein, und man sieht, wie alle Teile naturgemäß ineinandergreifen, und verwandte zu wohlbegrenzten Gruppen sich vereinigen.“

Die Mittel, mit denen Steiner dieses Ziel erreichen wollte, sind heute bekannt genug, aber wir wissen auch, daß sie nur einen Ausschnitt der Geometrie beherrschen, und daß andererseits Steiner selbst sie nicht bis zur vollkommenen Durchführung brachte.

Das „Steinersche Prinzip“ der sukzessiven Erzeugung höherer Gebilde aus niederen entspricht analytisch der Nullsetzung von Determinanten gewisser Matrices. So wird etwa die projektive Erzeugung der Regelfläche zweiten Grades gewonnen durch Nullsetzung der aus den Ebenengleichungen gebildeten Determinante in zweifacher Anordnung:

als die zwei Scharen von Erzeugenden. Ähnlich führt nun die Weiterbildung des Steinerschen Prinzips, wie sie von Reye, von Schur und Sturm vollzogen ist, auf die systematische Kombination von Determinanten aus einer Matrix,
durch deren Nullsetzung immer neue geometrische Theoreme entstehen. So übersichtlich dies Prinzip scheint, so trägt es doch nicht weit genug, um einem Aufbau der gesamten Geometrie als Grundlage zu dienen. Es erschöpft sich bereits bei den Problemen dritten Grades.

Steiner bleibt jedoch auch innerhalb des von ihm ausgeführten Gebietes hinter seinem Ziel zurück, indem er, Moebius' Fortschritt rückgängig machend, das Prinzip der Vorzeichen nicht in die synthetische Geometrie aufnimmt und sich dadurch einer Möglichkeit allgemeiner Formulierungen beraubt. So ist er gezwungen, bei dem Doppelverhältnis immer noch besonders die Reihenfolge der Elemente zu nennen; vor allem aber fehlte ihm die Handhabe, das Imaginäre zu bewältigen. Er hat sich nie damit auseinandergesetzt und es bei Bezeichnungen, wie „,das Gespenst“ oder „das Schattenreich der Geometrie“ bewenden lassen. Daß durch diese Selbstbeschränkung auch die Vollständigkeit seiner Systematik Mangel leidet, liegt auf der Hand(*). So gibt es, projektiv gesehen, zwei Kegelschnitte, x12 + x22 - x32 = 0 und x12 + x22 + x32 = 0; für die Einordnung des zweiten Falles ist in dem Steinerschen System kein Raum. Von diesen und anderen Unvollkommenheiten ist die synthetische Geometrie erst durch von Staudt befreit worden, wie wir noch ausführlich besprechen werden.

Neben Teil I der systematischen Entwicklungen stellt sich noch als selbständig erschienenes kleines Buch 1833: „Die geometrischen Konstruktionen ausgeführt mittels der geraden Linie und Eines festen Kreises (als Lehrgegenstand auf höheren Schulen und zur praktischen Benutzung)“. Der Grundgedanke ist von Poncelet entlehnt, die Ausführung wieder besonders anregend. Der Untertitel verrät, daß Steiner sich damals (wie anderweitig bekannt) für die Leitung des geplanten polytechnischen Instituts empfehlen wollte. Es ist auch charakteristisch, daß Steiner sich nach 1835, wo er die ersehnte Anstellung an der Universität erreicht hatte, nicht mehr zur Fertigstellung der doch geplanten zusammenfassenden Darstellungen entschließen konnte.

Isoperimetrisches Problem

Von den verschiedenen Einzelabhandlungen der frühen Steinerschen Periode erwähne ich eine kleine Schrift, die durch ihren nach völlig anderer Seite liegenden Inhalt zeigt, wie umfassend Steiner trotz seiner Einseitigkeit im rein Geometrischen war, und die sich durch ihre hervorragend klare und glänzende Darstellungsweise auszeichnet: Sur le maximum et le minimum des figures dans le plan, et sur la sphère dans l'espace en général (Crelle, Bd. 34. 1842). Sie enthält eine Behandlung zahlreicher Probleme der Maxima und Minima mit elementargeometrischen Methoden. Bekannt ist z. B. die Aufgabe, einem Dreieck eine Figur von vorgeschriebenem Umfang (größer als der des einbeschriebenen Kreises) einzubeschreiben, so daß ihr Inhalt ein Maximum wird. Sie setzt sich aus drei Kreisbogen von gleichem Radius und Stücken der Dreiecksseiten zusammen. Besonders berühmt aber ist der darin enthaltene Beweis, daß beim Wegfall aller Nebenbedingungen der Kreis die ebene Figur sei, die bei kleinstem Umfang den größten Inhalt besitzt. Die mit elementaren Mitteln glänzend durchgeführten Untersuchungen über diese und andere Fälle der „isoperimetrischen“ Aufgabe enthalten freilich eine logische Lücke, die erst eine spätere Zeit zu empfinden imstande war: den Existenzbeweis für die Auflösung der Aufgabe. Diese Lücke wurde von Weierstraß, bei den speziellen Beispielen von H. A. Schwarz ausgefüllt.

Fassen wir das über Steiner Gesagte zusammen, so müssen wir zu dem Schluß kommen, daß auch er noch nicht der einseitige und in sich systematische Projektiviker ist, auf den die Entwicklung dieser Jahre hinzielt. Wie in seinem Hauptwerk das Doppelverhältnis, ebenso wie bei Poncelet und Moebius, auf metrische Weise definiert wird, so bleibt auch in dem ganzen Gebäude die Beziehung der metrischen Geometrie zur projektiven unaufgeklärt.

Wie die Folgezeit dieses Problem löste, das wird uns die Betrachtung der Entwicklung nach 1830 lehren, der das folgende Kapitel gewidmet ist.


Anmerkung:

*) Weitere Unvollkommenheiten haften den Grunddefinitionen von Steiner an, so daß noch viel mehr Sätze Ausnahmen erleiden als ihm bewußt war. VgL darüber eine Arbeit von R. Baldus: Zur Steinerschen Definition der Projektivität, Math. Ann. Bd. 90 (1922/23), S. 86ff.


S. 126-131 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926. - XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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