Felix Klein:
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Unter „mathematischer Physik“ möchte ich hier möglichst das ganze Gebiet der mit Differentialgleichungen arbeitenden „phänomenologischen“ Physik verstehen, wie sie durch Franz Neumann usw. und die Engländer entwickelt worden ist und in den Maxwellschen Gleichungen gipfelt, d. h. derjenigen Physik, die mit der Idee kontinuierlicher Medien arbeitet — im Gegensatz zu der neuerdings wieder in den Vordergrund getretenen atomistischen Physik. Sowohl über diese sachliche wie über die nationale Begrenzung des Themas werde ich aber hinausgreifen, wo der historische Zusammenhang es verlangt. Unter den übrigen Gebieten der Anwendung beansprucht die mathematische Physik insofern unser besonderes Interesse, als sie am meisten in lebhafter Wechselbeziehung zur reinen Mathematik geblieben ist.
Wir hatten schon die Entwicklung in Frankreich besprochen (bis etwa 1830), die allmählich aus der atomistischen Auffassung von Laplace (punktförmige Kraftzentren) zur phänomenologischen führte, wie Fourier und Cauchy sie vertraten (vgl. S. 69, 73). Das Ziel ist die Schilderung der Vorgänge durch Differentialgleichungen, die sich auf die als kontinuierlich vorausgesetzte Materie beziehen. Dann hatten wir die Weiterbildung in Deutschland betrachtet durch Gauß und Weber, welch ersterer mehr den Phänomenologen, letzterer — seines elektrischen Grundgesetzes wegen — mehr den Atomisten zuzuzählen ist (vgl. S. 23). Schließlich hatten wir die rein mathematische, ganz auf phänomenologischer Basis ruhende Betrachtungsweise verfolgt, die sich an Dirichlets Namen knüpft, und die wesentlich auf Klarstellung der mathematischen Schwierigkeiten und ihre Überwindung im einzelnen Fall gerichtet war (vgl. S. 98ff.).
Als Fortsetzer der hiermit gegebenen Anfänge hätten wir jetzt vor allen Dingen Riemann (1826-66) zu betrachten. Die hervorragenden Leistungen dieses außerordentlichen Geistes auf allen Gebieten der Mathematik wollen wir jedoch erst später (Kap. 6) im Zusammenhang einer eingehenden Würdigung unterziehen. Hier wollen wir zunächst die Entwicklung ins Auge fassen, die mit der naturwissenschaftlichen Beobachtung in näherem Zusammenhang steht und die in erster Linie vertreten ist durch Franz Neumann und die Königsberger Schule.
Einen lebhaften Eindruck der persönlichen Art Neumanns geben die Erinnerungsblätter, die ihm seine Tochter Luise Neumann 1904 gewidmet hat; seine wissenschaftliche Leistung findet in den Monographien von Volkmann (1896) und von Wangerin (1907) Würdigung.
Als Gymnasiast mit 17 Jahren trat Neumann in das Blüchersche Heer 1815 ein, voll Begeisterung für die Sache der Freiheitskriege. Am 16. Juni wurde er bei Ligny durch einen Kieferschuß schwer verwundet. Trotz der mangelhaften Wundpflege der damaligen Zeit und großen persönlichen Mißgeschicks setzte sich seine zähe Natur durch. Er wurde geheilt und kehrte auf das Berliner Gymnasium zurück, das er 1817 im Herbst erfolgreich absolvierte.
Der wesentliche Inhalt dieses Satzes — den Neumann wohl als selbstverständlich angenommen und nicht besonders betont hat — ist der folgende, daß unter den durch Konstruktion gefundenen Ebenen diejenigen am häufigsten in praxi auftreten, welche sich aus den vier Grundebenen — die selbst natürlich die am meisten beobachteten sein sollen — bei dem Prozeß zuerst ergeben. Ohne diesen Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Ebene hätte der Satz nämlich gar keine praktische Bedeutung, da die Konstruktion schließlich alle denkbaren Ebenen von „rationalem“ Index liefert. Nur durch die Reihenfolge sind gewisse Stellungen vor anderen ausgezeichnet. —
Dieses „Zonengesetz“ — die Gesamtheit paralleler Ebenen einer Stellung nennt Neumann eine Zone — wurde nun von seinem Entdecker in besonders hübscher Weise geometrisch interpretiert. Werden nämlich die Kristallkanten ersetzt durch ihnen parallele Gerade, die ein von O ausgehendes Büschel bilden, und wird nun die Konstruktion des Zonengesetzes in einer das Büschel schneidenden Ebene entsprechend wiederholt, so ergibt sich aus dem das Tetraeder abbildenden vollständigen Vierseit genau die bekannte Moebiussche Netzkonstruktion! Es besteht hier also ein inniger Zusammenhang mit der projektiven Geometrie, und Neumann (1823) hat als direkter Vorläufer der Arbeiten von Moebius (1827) und Graßmann (1844) zu gelten, die beide ebenfalls auf die Bedeutung ihrer Theorien in der Kristallographie hinweisen (vgl. das Referat von Liebisch, Enzyklopädie V 7).
Wie hier auf der einen Seite mit der projektiven Geometrie, so berührt sich das Problem auf der anderen mit der Gittertheorie, wie sie auf Grund einer rein molekularen Auffassung des Kristalls angewendet werden kann. Hier würde der Satz besagen: jede Ebene ist möglich, die drei und damit unendlich viele Gitterpunkte enthält, wobei wiederum die sich zuerst ergebenden Ebenen den Vorzug der Wahrscheinlichkeit des Auftretens besitzen.
1826 begab sich Neumann nach Königsberg, zunächst als Privatdozent für Mineralogie und Physik, von 1828 ab als außerordentlicher Professor. Neumanns Tätigkeit in Königsberg erstreckte sich über 50 Jahre und verbindet sich mit der Jacobis (bis 1843), dann Richelots († 1875) zu ungewöhnlicher Wirksamkeit. 1875 zog sich Neumann vom Amte zurück; experimentelle Physik wurde nach ihm von Pape vertreten, die mathematische von seinem letzten Schüler W. Voigt, welcher von seinem Lehrer das besondere Interesse für Kristallographie und die (von ihm selbst weitergebildete) Art der Ansätze als Erbteil übernahm.
Bei Neumann erfolgte die Wendung zur mathematischen Physik unter dem Einfluß der Arbeiten Fouriers. insbesondere beschäftigte er sich von 1832 an mit der Optik, die er von der Elastizitätslehre ausgehend, zu beherrschen suchte, eine Theorie, die dann 60 Jahre lang bis zum Auftreten der elektromagnetischen Lichttheorie die herrschende blieb. Die Schwierigkeiten einer solchen Auffassung wurden gelegentlich der Cauchyschen Arbeiten bereits erwähnt. Die Frage nach der Existenz longitudinaler Wellen bei Brechung, nach der Ebene der Transversalschwingungen und ihrer Stellung zur Polarisationsebene konnte erst durch die elektromagnetische Theorie geklärt werden.
Zehn Jahre später erschienen Neumanns wichtige Arbeiten über das Gesetz der induzierten elektrischen Ströme, wobei das „Potential zweier Stromkreise aufeinander“:
Neben diesen Publikationen hat aber Neumann durch eine intensive Lehrtätigkeit, die einen zahlreichen Kreis spezieller Schüler um ihn sammelte, nach allen Richtungen seiner Wissenschaft eine starke, anregende Wirkung ausgeübt. In seinen wiederholten, immer wieder neu ausgestalteten Vorlesungen ist durchweg ein inniges Zusammengehen der mathematischen Betrachtung mit der physikalischen Messung zu bemerken. In langer Liste liegen diese Darstellungen jetzt in der Bearbeitung vor, die sie seitens seiner Schüler gefunden haben. Da sind zu nennen: Magnetismus (C. Neumann 1881), Elektrische Ströme (von der Mühll 1884), Optik (Dorn 1885) Elastizität (O.E. Meyer 1885), Potential und Kugelfunktionen (C. Neumann 1887), Kapillarität (Wangerin 1894).
Die Gesamtwerke sollen drei Bände umfassen, von denen jedoch der erste nicht erschienen ist.
In diesem Lebenswerk zeigt sich Neumann als der vorzügliche uneigennützige Lehrer, der viele seiner Resultate den Schülern übergab, ohne sie selbst zu veröffentlichen. Er pflegte zu sagen, daß man die Schüler leiten müsse, ohne daß sie es merken, so daß sie das Ziel durch eigene Kraft erreicht zu haben glauben.
Die beiden von ihm gepflegten Richtungen — nach physikalischer und mathematischer Seite — finden jede unter den Schülern ihre besonderen Vertreter. Zur ersten Gruppe gehört als bedeutendste Erscheinung wohl Kirchhoff, zur zweiten sein Sohn Carl Neumann (geb. 1832), Clebsch (1833) und Heinrich Weber (1842). Clebsch und Weber kommen hier nur mit einzelnen Arbeiten in Betracht. Clebschs Dissertation 1852 über ein „Ellipsoid in einer Flüssigkeit“(*) gehört hierher, ferner sein Lehrbuch der Elastizität von 1862, das an den französischen Ingenieur Saint-Venant anknüpft. H. Weber zeigt sich in der hier zu nennenden Arbeit über
S. 215-219 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der
Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926.
- XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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