Felix Klein: Die allgemeine Funktionentheorie komplexer Veränderlicher bei Riemann und Weierstraß

Sonja Kowalevsky

Zuletzt möchte ich Weierstraß' vielgenannter Schülerin Sonja Kowalevsky ein paar Worte widmen.

Sie ist 1850 in Moskau geboren und studiert — wir können nur ihre mathematischen Schicksale verfolgen — zunächst als Privatschüler von Koenigsberger in Heidelberg, dann ebenso bei Weierstraß in Berlin, dem sie sehr nahe trat. An den öffentlichen Vorlesungen konnte sie aber nicht teilnehmen, weil die Anwesenheit von Hospitantinnen damals noch nicht erlaubt war. 1874 wird sie auf Empfehlung von Weierstraß in Göttingen in absentia promoviert auf Grund ihrer Arbeit über lineare partielle Differentialgleichungen: Crelle, Bd. 80; sie kommt da zu dem Resultat, daß eine lineare partielle Differentialgleichung mit analytischen Koeffizienten analytische Lösungen hat, eine Ausführung der Ideen, die Weierstraß in einer Jugendarbeit, welche jetzt in Bd. 1 der Werke veröffentlicht ist, niedergelegt hat(1). 1883 wird sie auf Betreiben von Mittag-Leffler Privatdozent, 1884 Professor an der von Mittag-Leffler geleiteten Privatuniversität in Stockholm. Seitdem ist sie eine internationale Berühmtheit, die 1889, ebenfalls durch Verwendung von Mittag-Leffler, für ihre Untersuchung über die Rotation des schweren unsymmetrischen Kreisels den großen Preis der Pariser Akademie erhielt. Sie starb 1891 in Stockholm.

Ihrem Wesen nach ist sie durch ihre mathematischen Arbeiten keineswegs erschöpfend charakterisiert. Vielmehr schrieb sie u. a. Romane und erlebte sie; sie stand schließlich im Mittelpunkte des Interesses der Frauenemanzipation(2). Es ist deshalb sehr schwer, ein klares Urteil über ihre wissenschaftliche Persönlichkeit zu gewinnen. Auf der einen Seite stehen die Enthusiasten, die ihre Heldin rühmen und preisen, auf der anderen Seite die Zweifler, die eher geneigt sind, ihr Leben und ihre Arbeiten zu verurteilen. Sicherheiten bietet uns keine der beiden Parteien, denn wir wissen ja alle, wie sehr Reklame und zu großes Lob und wieder zu herber Tadel das wahre Bild eines Menschen verzerren. Vielleicht ist am wertvollsten der Nachruf, den ihr Mittag-Leffler in den Acta math., Bd. 16, gewidmet hat.

Wir können uns hier natürlich nur mit einem kleinen Bruchstück ihrer Lebensschicksale, und mit diesen nur in aller Kürze befassen. Es handelt sich für uns um die Bedeutung ihrer mathematischen Arbeiten. Das erste, was uns auffällt, ist, daß ihre Arbeiten in enger Anlehnung und ganz im Stil von Weierstraß geschrieben sind, so daß man nicht sieht, wie weit sie unabhängige, eigene Gedanken enthalten(3). Auch sind Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer späteren Resultate geäußert worden; vgl. Volterras Kritik der Arbeit über doppelt brechende Kristalle, ihrer Habilitationsschrift (veröffentlicht Acta math., Bd. 6, 1883), wo ihr ein prinzipieller Fehler nachgewiesen wird(4); ebenso ist man mit der Arbeit über die Rotation nicht durchweg zufrieden.

Wie dem auch sei, eins ist sicher: Sonja Kowalevsky verband mit einem glühenden Interesse für die Mathematik eine große Auffassungsgabe und ebensolches Anpassungsvermögen. Es ist zu bewundern, daß sie trotz ihrer vielen Interessen auf andersgearteten Gebieten und trotz ihres wechselvollen Lebens so viel in der Mathematik geleistet hat. Und jedenfalls können wir ihr dafür dankbar sein, daß sie es vermocht hat, Weierstraß aus seiner Verschlossenheit, die er gegen jedermann sonst in menschlichen Dingen zeigte, herauszulocken und daß uns der Lehrer im Briefwechsel mit seiner vertrauten Schülerin persönlich nähertritt.

Nach diesem singulären Fall ist das Frauenstudium der Mathematik bei uns in Deutschland in sehr viel klarere Bahnen gelenkt worden, seit von Herbst 1893 an die preußische Regierung, zunächst in Göttingen, Hospitantinnen zuließ. Die erste Doktorin der Mathematik auf Grund regulären Examens 1895 war Grace Chisholm, jetzige Frau Young.


Anmerkungen:

  1. Dies ist nicht das erste Mal, daß eine Frau in Göttingen den Doktortitel erwarb; 100 Jahre vorher promovierte Dorothea Schlözer mit einer Arbeit über russische Finanzwirtschaft, betitelt De re metallica im Alter von 17 Jahren. — In dem Diplom der D. Schlözer finde ich die schöne Bezeichnung virgo erudita, die später leider durch das unsinnige domina doctissima abgelöst wurde.
  2. Über ihr Leben vgl. die in Reclams Universalbibliothek erschienene Biographie von A. Ch. Leffler, der Schwester Mittag-Lefflers.
  3. Die Briefe, welche Weierstraß anläßlich des Promotionsgesuches an die Göttinger Fakultät schickte, und in denen er sich näher über ihre damaligen mathematischen Leistungen äußerte, sind neuerdings von Wentscher und Schlesinger in Bd. 18 der Jahresberichte der D. M. V. (1909, S. 89 ff., S. 93ff.) abgedruckt worden.
  4. Acta math., Bd. 16 (1892/93), S. 153 ff.


S. 293-295 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926. - XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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