Felix Klein:
Geometer des Crelleschen Journals.

Gegensatz der Richtungen

Auch auf geometrischem Gebiete nimmt die modern-mathematische Entwicklung in Deutschland ihren Ausgang von dem Einfluß der Franzosen. Es ist aber nicht etwa die Differentialgeometrie, deren Fortbildung sie unternimmt — von Gauß' grundlegenden ,,Disquisitiones circa superficies curvas'' 1827 soll hier abgesehen werden —; vielmehr richtet sich das Interesse auf die algebraische Geometrie, insbesondere die der linearen und quadratischen Gebilde.

Ehe ich des näheren auf diese Entwicklung eingehe, möchte ich zwei Gegensätze andeuten, die von entscheidender Bedeutung für sie gewesen sind.

Da ist erstens die Trennung der Auffassungen, die uns schon an der École Polytechnique entgegengetreten war, nach Seite der analytischen oder der synthetischen Behandlung der Geometrie. Dieser Gegensatz wird nun in der Folgezeit von schärfster prinzipieller Bedeutung; die Anhänger beider Richtungen suchen ihre Ehre darin, nur mit dem einmal erwählten Werkzeug zu arbeiten. Die Vorzüge und Nachteile zeigen sich um so prägnanter, je einseitiger die Methoden ausgebildet werden. Die analytische Geometrie hat den bequemen Algorithmus für sich, der die höchsten Verallgemeinerungen ermöglicht, der aber auch leicht dazu verführt, das eigentliche Objekt der Geometrie: die Figur und die Konstruktion, aus dem Auge zu verlieren. Bei der synthetischen Geometrie wiederum droht die Gefahr, daß der Geist am einzelnen angeschauten Fall oder doch nur einer beschränkten Zahl von Möglichkeiten haften bleibt; die Lage wird wenig gebessert, wenn, um ihr zu entgehen, ein neuer Algorithmus ad hoc erfunden wird, der schwerfällig bleibt, solange er sich nicht in die einfachsten Ansätze der analytischen Geometrie verwandelt. Zu begrüßen ist bei der synthetischen Behandlung das deutliche Bewußtsein der lebendigen Wurzel aller Geometrie, der Freude an der Gestalt.

Eine gesunde Entwicklung wird sich beider Methoden bedienen und die Früchte ihrer wechselseitig anregenden Einwirkung auf einander genießen.

Der zweite Gegensatz, von dem ich sprechen möchte, ist weniger sachlicher Natur, jedoch wegen der großen Bedeutung, die er in der Folgezeit gehabt hat, nicht zu übergehen. Wenn er auch im allgemeinen in der Kunst eine weitaus lebhaftere Rolle spielt, so hat sich doch selbst unsere, die ,,objektivste'' Wissenschaft, nicht frei davon halten können in dem Maße, wie sie an Verbreitung und Organisation zunahm. Ich meine den Gegensatz der Schulmeinungen, der Cliquen, das ganze große Gebiet der wissenschaftlichen Polemik, die denn oft ins Persönliche entgleitend zum Austausch stark subjektiv gefärbter Meinungen wird, die sich auf die folgenden Generationen weiter vererbt.

In unserem Falle handelt es sich um den Streit des von Jacobi und seinem Anhang gestützten Synthetikers Steiner gegen Plücker. Moebius steht in seiner stillen Art mehr außerhalb dieser Kämpfe, die zudem auch durch den Gegensatz von Hauptstadt und Provinz verschärft werden. Noch heute sind ihre Spuren nicht selten zu entdecken, so etwa, wenn noch bis vor kurzem in gewissen Kreisen Steiner als der unvergleichliche, größte Geometer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefeiert wurde.

Es gibt ein gutes Mittel, um sich vor der Gewalt solcher Schulmeinungen, denen sich der einzelne, besonders als junger Mensch, schwerlich entziehen kann, zu schützen, und das mir einst der Leipziger Physiologe Ludwig empfahl: man entferne sich 600 km von ihrem Heimatsorte und sehe sich von dort die Verhältnisse an; gewiß wird man über das Wegfallen mancher bereits für selbstverständlich gehaltener Ansichten erstaunt sein.

Es ist kein Zweifel, daß die folgende Entwicklung, wie sie die persönlichen Verdienste vielfach an ihren rechten Platz hat rücken lassen, so auch den sachlichen Kampf entschieden hat, indem sie der analytischen Geometrie nach allen Richtungen das Übergewicht sicherte. Ich erinnere nur an die Beziehungen der Lehre der algebraischen Kurven zur höheren Funktionentheorie, an die Beziehung zur Mengenlehre, an den Ausbau der Differentialgeometrie, wo überall die ,,synthetische'' Richtung nicht mitgekommen ist. Im übrigen halte ich an der These fest, die Jacobi 1831 bei seiner Disputation zum Eintritt in die Königsberger Fakultät aufstellte: ,,Principium methodi geometricae et analyticae idem est''.

Nach der Zeit des Erscheinens ihrer ersten größeren Werke ordne ich die drei großen Geometer in der Reihenfolge: Moebius, Plücker, Steiner.

Moebius

August Ferdinand Moebius war wie Gauß und viele andere, denen die Mathematik in jener Zeit Förderung verdankt, ursprünglich Astronom. Die astronomische Stellung gab jenen Forschern die gesicherte Existenz, welche die Voraussetzung ihres mathematischen Schaffens war. Auch Hamilton wäre hier zu nennen. Moebius war in der Tat während des größten Abschnittes seines stillen Lebens astronomischer Direktor auf der Pleißenburg in Leipzig. Hier hat er ruhig seine Gedanken reifen lassen, um sie dann in vollendeter Klarheit vorzutragen, um nichts anderes bemüht, als um die Ausgestaltung der Ideen, die sich seiner geometrischen Erfindungsgabe beim Studium der verschiedenen an ihn herantretenden Gebiete aufdrängten.

Er wurde am 17. November 1790 geboren in der Fürstenschule zu Schulpforta. Wenn man den schlichten, stillen Mann vor Augen hat, muß es einen einigermaßen in Erstaunen setzen, daß sein Vater an der besagten Schule den Beruf eines Tanzlehrers ausübte. Um die Verschiedenheit der Generationen vollends vor Augen zu führen, erwähne ich, daß ein Sohn des Mathematikers der bekannte Neurologe ist, der Verfasser des vielbesprochenen Buches „Vom physiologischen Schwachsinn des Weibes“.

Moebius verbrachte 1813-14 eine längere Lehrzeit bei Gauß, der ihn aber, wie auch andere Schüler, wesentlich zu astronomischen Beobachtungen und Rechnungen anleitete. Damit sicherte er ihm zwar die spätere Anstellung, traf aber nicht den Kern seiner Begabung, die sich erst an dem Studium der französischen Geometer entwickelte. Seit 1816 war Moebius erst Observator, dann Direktor auf der Pleißenburg, später auch Professor der Mathematik an der Universität. In diesen Stellungen blieb er bis zu seinem Tode (1868.)

Seine Werke wurden gesammelt herausgegeben seitens der Königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaft in vier Bänden, 1885-87. Am Schlusse des vierten Bandes findet sich eine Besprechung des Nachlasses, aus welcher die ganze Genesis von Moebius' wissenschaftlichen Gedanken klar wird. Mehr persönliche Züge finden sich in der Schrift von Bruhns: Die Astronomen der Pleißenburg.

Unter den Werken von Moebius steht zeitlich und inhaltlich als sein Fundamentalwerk „Der barycentrische Calcul“ von 1827 voran, eine wahre Fundgrube neuer Ideen in wunderbar abgeklärter Darstellung.

Der Name ist abgeleitet von der Grundidee des Buches, den Begriff des Schwerpunktes geometrisch zu verwerten. Um in der Ebene zu bleiben: als Koordinaten eines Punktes P werden diejenigen Gewichte p1, p2, p3 gewählt, die man in die Ecken eines bestimmten festen Dreiecks legen muß, um den Schwerpunkt nach P fallen zu lassen. Es ist dies das erste Beispiel homogener Koordinaten, d. h. solcher, die ihr Objekt allein durch ihr Verhältnis bestimmen (λp1, λp2, λp3 geben denselben Schwerpunkt). Indes sind es noch nicht die homogenen Koordinaten allgemeinster Art, wie sie durch Plücker eingeführt wurden. Es ist dazu noch eine kleine Erweiterung nötig, die gewonnen wird, wenn man jede der Koordinaten mit einem willkürlichen Faktor λ1, λ2, λ3 versieht, also etwa die Vorstellung einführt, daß die in den drei Eckpunkten lagernden Gewichte mit verschiedenem Maße gemessen werden. Die Gleichung der Ponceletschen unendlich fernen Geraden, die auch bei Moebius schon eine handgreifliche Realität bekommt durch die Darstellung p1 + p2 + p3 = 0, lautet dann λ1p1 + λ2p2 + λ3p3 = 0, und es ermöglicht sich, durch Grenzübergang, den Fall des Parallel-Koordinatensystems als Spezialfall unter dem allgemeinen Fall der Dreieckskoordinaten zu begreifen, ein Gedanke, der Moebius noch ganz fern lag.

Ist nun dies neue Koordinatensystem schon viel schmiegsamer als das übliche, weil es sechs wählbare Konstanten besitzt (das Plückersche hat acht), so gewinnt es doch erst dadurch seinen Wert, daß Moebius nun mit seiner Hilfe eine ganze Reihe neuer Gedankengänge herausstellt.

1. Moebius benutzt als erster ganz konsequent das Prinzip der Vorzeichen in der Geometrie, und zwar nicht nur beim Messen von Strecken, sondern auch von Flächen- und Rauminhalten, bei deren Ausmessung er einen „Umlaufungssinn“ unterscheidet.

2. Indem die Koordinaten p1, p2, p3, p4 eines Punktes im Raum rationalen Funktionen von Parametern gleich gesetzt werden, gelingt Moebius eine neue Darstellung der Kurven und Flächen, die zu einer ganz anderen Anordnung der Gebilde führt als üblich war. Hierbei entdeckt Moebius die Raumkurve dritter Ordnung.

3. Moebius faßt klar den Gedanken einer Punkt für Punkt sich entsprechenden Beziehung von zwei Räumen und schafft damit den Begriff der einfachsten, systematisch abgestuften „Verwandtschaften“: Gleichheit, von uns jetzt gewöhnlich Kongruenz genannt, Ähnlichkeit, Affinität (eine von Euler stammende Bezeichnung), Kollineation, mit welch letzterem Ausdruck er die allgemeinste Verwandtschaft bezeichnet, welche gerade Linien in gerade Linien überführt(1).

4. Mit dieser Klassifizierung verbindet er nun sogleich die Idee, nach den Ausdrücken oder Gebilden zu fragen, die bei irgend einer dieser Verwandtschaften ungeändert bleiben. Hier wird zum ersten Mal eine ausführliche Theorie des Doppelverhältnisses von vier Punkten auf einer geraden Linie gegeben, wie es nun erst nach Einführung der Vorzeichen möglich war.

5. Die Herstellung der Kollineation gelingt ihm ohne jede metrische Bestimmung allein durch die Annahme von vier sich entsprechenden Punkten in den aufeinander zu beziehenden Ebenen (fünf im Raum) und ihre entsprechende Verknüpfung durch Geraden. An dieses sog. „Moebiussche Netz“ hat von Staudt später die Grundlage seiner synthetischen Entwicklung angeknüpft.

Diese Stichproben mögen die außerordentliche Bedeutung des Buches erweisen. Trotz seines Ideenreichtums ist es erst sehr langsam zu der ihm zustehenden Wirkung gekommen, teils weil viele neue, besonders geartete termini das Eindringen erschwerten, teils weil Moebius' bescheidene Art ihm nicht den nötigen Nachdruck zu geben wußte. Nicht anders ging es mit seinem zweiten hochbedeutenden Werk, dem Lehrbuch der Statik, das 1837 in zwei Bänden erschien (Wiederabdruck Werke Bd. 3, S. l ff. bzw. S. 272ff.).

Es enthält eine geometrische Entwicklung der vielen Beziehungen, die beim Zusammenwirken von Kräften an starren Körpern oder auch Körperketten statthaben, und bildet eine Weiterführung der Betrachtungen, die Poinsot von 1804 an in seinem bekannten Lehrbuch „,Eléments de statique“ verfolgt hat, indem er neben die Einzelkraft das „Kräftepaar“ stellte. Dem Buch gehen einige einzelne Arbeiten (Crelle, Bd. 10, 1833 = Ges. Werke, Bd. l, S. 489 ff.) voran, in denen Moebius den Begriff des „Nullsystems“ ausgestaltet, d. h. des Inbegriffs von Geraden im Raume, um welche ein gegebenes Kräftepaar das Moment Null hat. Durch die sich hier ergebenden dualistischen Beziehungen der „Null-Punkte“ und „Null-Ebenen“ gelangte Moebius zu sehr schönen Theoremen; so entdeckte er z. B. daß Tetraeder einander zugleich eingeschrieben und umgeschrieben sein können.

Die einzelnen, hervorragend schönen Entdeckungen, durch die Moebius' Schaffen auf allen Gebieten ausgezeichnet ist, charakterisieren nun auch die vielen Einzelaufsätze, die er bis ins hohe Alter hinauf in den Berichten der Königl. sächsischen Gesellschaft veröffentlichte; Moebius „Gesammelte Werke“ umfassen vier Bände. Als Mann von 68 Jahren gelang ihm noch eine kapitale Entdeckung, die dann freilich, als Preisarbeit 1861 nach Paris gesandt, unter den Papieren der Akademie schlummerte, bis Moebius sie 1865 bekanntgab: von den einseitigen Flächen und Polyedern, für die das „Kantengesetz“ nicht gilt und die keinen definierbaren Inhalt haben(2). Das „Moebiussche Band“, für dessen Anstrich man doppelt soviel Farbe braucht, als man zunächst vermutet (diese Veranschaulichung steht bereits bei Moebius), ist ja jetzt hinlänglich bekannt. Merkwürdigerweise wurde es im selben Jahr 1858 auch von Listing entdeckt und 1862 im „Zensus räumlicher Komplexe“ bekanntgegeben — wieder ein Beispiel für den zwangläufigen Charakter der Entwicklung der Wissenschaft.

In Moebius begegnet uns ein seltenes Beispiel spät reifender Genialität — der barycentrische Calcul ist mit 37 Jahren geschrieben —, gesegnet mit einer, bis ins hohe Alter anhaltenden, ungebrochenen Produktivität. Wenn man der Ostwaldschen Einteilung der Mathematiker in Romantiker und Klassiker folgen soll, so muß man Moebius als den typischen Vertreter der zweiten Gruppe ansprechen.


Anmerkungen:

  1. Wenn auch Moebius noch nicht den modern formulierten Gruppenbegriff besitzt, so bietet doch der Begriff der „Verwandtschaft“ ein Äquivalent; Moebius wird dadurch genau zu einem Vorläufer des „Erlanger Programms“.
  2. Über die Bestimmung des Inhaltes eines Polyeders, Werke, Bd. 2, S. 472 ff.


S. 115-119 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926. - XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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