Felix Klein:
Die Gründung des Crelleschen Journals

Allerlei Pläne in Berlin

Das neue Deutschland des 19. Jahrhunderts, das sich allmählich aus den Napoleonischen Kriegen heraus entwickelt, ist in seinem Wesen bestimmt durch die von Frankreich kommenden Anregungen, die im Sinne des deutschen Geistes verarbeitet werden. Wie auf anderem Gebiet Goethe, so steht in unserer Wissenschaft Gauß außerhalb der von der Zeitströmung getragenen Entwicklung. Diese Entwicklung setzt in Berlin ein, aber, wie schon früher bemerkt, für die exakten Wissenschaften etwas später als auf anderen wissenschaftlichen Gebieten. Für die Geisteswissenschaften bildet die Gründung der Universität Berlin 1810 den Ausgangspunkt. Sie blühen auf, gestützt auf die neuhumanistische Lehre von der freien Bildung der Persönlichkeit, die sich vom Interesse für die exakten Wissenschaften direkt ab wandte.

Hier macht sich die neuzeitliche Regung erst von 1820 ab bemerkbar, wesentlich durch die Initiative Alexander von Humboldts, wie ich es früher ja bereits dargelegt habe. In enger Verbindung mit diesem anregenden, unternehmenden Geiste steht der General von Müffling, der seit 1820 Chef des Generalstabes war. Wir finden hier die Napoleonische Tradition einer Wertschätzung der Mathematik von militärischen Gesichtspunkten aus fortgesetzt, wie sie durch Scharnhorst für Preußen von Einfluß geworden ist. Aus diesen Kreisen entsteht nun, unabhängig von den gleichzeitigen Bestrebungen, die überall zur Hebung des Gewerbes einsetzen, und aus denen unser technisches Fach- und Hochschulwesen entstanden ist, der Gedanke, ein umfassendes polytechnisches Institut von vornehm-wissenschaftlichem Charakter nach dem Muster der École Polytechnique zu gründen. Man versuchte, Gauß als Direktor dieser Neuschöpfung zu gewinnen, der er ohne jede Lehrverpflichtung — abgesehen von der ihm selbst erwünschten Heranbildung von Spezialschülern — nur durch seine wissenschaftliche Persönlichkeit und seine organisatorischen Gaben dienen sollte. Alle wissenschaftlichen Institute (z. B. Sternwarten) des Staates sollten ihm unterstehen, und ein bestimmter Einfluß auf die Gesamtentwicklung des Unterrichtswesens in Preußen ward ihm eingeräumt (Bruhns: Briefe zwischen A. von Humboldt und Gauß. 1877). Aber Gauß lehnte den Vorschlag Ende 1824 ab. Von dieser Zeit an gerät der großzügige Plan ins Stocken. Auch die Militärbehörden ziehen sich zurück. Es wird der Versuch gemacht, das Projekt in die Gründung eines besonderen Oberlehrerbildungsinstituts umzuwandeln, und in dieser Form wird der Plan noch jahrelang vom Kultusministerium verfolgt. Als schließlich auch die Berufung von Abel 1829, die wenige Tage nach seinem Tode in Kristiania eintraf, zu keinem Erfolge führte, wurde der Plan endgültig fallen gelassen. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß die mathematisch-naturwissenschaftliche Lehrerbildung in Preußen schließlich doch den Universitäten als eine beträchtliche, für ihre Entwicklung sehr wesentliche Aufgabe zufiel. Der heutige Zustand, den man zuweilen als aus dem Begriff der Universität mit logischer Notwendigkeit folgend hinzustellen beliebt, verdankt also zufälligen Ereignissen seine Entstehung.

Crelle

Bei der Betrachtung dieser Entwicklung möchte ich eines Mannes gedenken, der zwar nicht selbst in produktiver Hinsicht von Bedeutung war, der Wissenschaft aber durch seine vielseitigen Interessen, seine vermittelnde Natur und seine organisatorischen Fähigkeiten große Dienste leistete, des Oberbaurats Crelle (1780-1855). Crelle ging von der Technik aus, für deren Unterrichtswesen er sich lebhaft interessierte. Von 1824 an wirkte er allgemein für die Hebung der exakten Studien, bis er 1828 als Referent in das preußische Kultusministerium eintrat. Auch zum Mitglied der Berliner Akademie wurde er gewählt. Seine eigenen mathematischen Arbeiten, die er neben vielen anderen Interessen nie ganz liegen läßt, sind zahlreich, aber nicht bedeutend. Sie tragen den damals in Deutschland vielverbreiteten enzyklopädischen Charakter — eine Tradition des 18. Jahrhunderts —, indem sie viele verschiedenartige Gebiete berühren, ohne irgendwo in die Tiefe zu gehen. Hervorragende Dienste aber leistete Crelle der Wissenschaft durch seine organisatorischen Gaben, durch seine liebenswürdige, vielseitige Persönlichkeit, die überall junge Talente erkannte und an sich zog. Vielen verhalf er durch Schaffung einer Universitätsstellung zu einem Wirkungskreis und zu freier Entfaltung ihrer Kräfte. Am meisten aber ist ihm unsere Wissenschaft verpflichtet für die Anregung und den Zusammenschluß, den er ihr gab durch die Gründung des Journals für die reine und angewandte Mathematik (1826).

Nimmt man heute einen Band dieser Zeitschrift zur Hand, so mag der Titel vielleicht Verwunderung erregen. Er erklärt sich zunächst historisch, denn er wurde von Gergonnes Annalen herübergenommen, wie er sich auch später noch, längst inhaltslos geworden, auf Liouvilles Journal (1836) übertrug. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß Crelle mit diesem Titel die ernste Absicht verband, eine die ganze Mathematik umfassende Zeitschrift ins Leben zu rufen. Wie die Vorrede zu Band I zeigt, beabsichtigte er nicht nur dem Wachstum, sondern auch der Verbreitung der Wissenschaft zu dienen. Er wendet sich darum an einen „ausgedehnten“ Leserkreis, nicht nur an die Spezialfachvertreter, den er durch Übersetzungen fremdsprachlicher Werke, durch Bücherbesprechungen, durch Aufgaben, in Zusammenhang mit allen Quellen wissenschaftlichen Lebens zu bringen beabsichtigt. So beginnt der erste Band des Journals mit der Bestimmung der Wassermenge eines Stromes durch Eytelwein, woran sich die erste Abhandlung von Abel schließt, eine Zusammenstellung, die den heutigen Leser des Journals wohl überraschen mag.

Daß die tatsächliche Entwicklung so ganz anders gegangen ist, als es in Crelles Absicht lag, hat seine Ursache in dem herrschenden Geist der Epoche. Der neuhumanistische Untergrund des neuen wissenschaftlichen Lebens, dessen vornehmstes Organ die Zeitschrift bald werden sollte, erwies sich stärker als das mehr schematische Denken ihres Begründers, der eher eine vermittelnde als eine führende Natur war. Das neuhumanistische Ideal der reinen Wissenschaft als Selbstzweck, das die Verachtung aller Nützlichkeit im gemeinen Sinne in sich barg, führte bald zu einer geflissentlichen Abkehr von allen der Praxis zugewandten Bestrebungen. Diese Geistesrichtung ergriff auch das ursprünglich allen Zweigen der Wissenschaft gewidmete Journal und stempelte es zu einem Organ abstrakter Spezialmathematik von strengster Ausprägung, die ihm den Scherznamen „Journal für reine, unangewandte Mathematik“ eingetragen hat.

Crelle, der dem Strom der Entwicklung nicht entgegenzutreten vermochte, ist darum doch sich selbst treu geblieben; es war ihm jedoch nur in der Form möglich, daß er die beiden Sphären, in denen er heimisch war, nach außen trennte. Von 1829 an gibt er, seinem technischen Interesse folgend, ein besonderes „Journal für Baukunst“ heraus. Was Crelle nach dieser Seite bedeutete, beleuchtet die Tatsache, daß der 1838-40 erfolgte Bau der wichtigen Eisenbahn Berlin–Potsdam nach seinen Plänen ausgeführt wurde. Die Mehrzahl der „Kunststraßen“ waren in Preußen schon in früheren Jahren ebenfalls auf Grund seiner Entwürfe entstanden.

Crelles Journal für Mathematik hingegen entwickelt sich, wie schon angedeutet, trotz aller anfänglichen finanziellen Schwierigkeiten zum wichtigsten Organ der fortschreitenden, reinen Mathematik, die nun in einseitiger aber glänzender Ausbildung an den deutschen Universitäten ihren Siegeszug antritt.

Der erste Band enthält nicht weniger als fünf Abhandlungen von Abel; daneben eine Abhandlung von Jacobi und verschiedenes von Steiner. In Band 3 (1828) erscheinen die Namen: Dirichlet, Moebius und Plücker.

Damit sind die Namen der sechs Forscher aufgezählt, die wir nun zunächst zu besprechen haben. Ich nehme die drei „Analytiker“ Dirichlet, Abel und Jacobi voran und lasse die drei „Geometer“ Moebius, Plücker und Steiner folgen.


S. 93-96 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926. - XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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