Felix Klein:
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Wie wir schon berichteten, begann das Leben unserer Wissenschaften in Berlin nicht gleich 1810 mit der Gründung der Universität. Vielmehr wurde es durch die herrschenden Strömungen des Neuhumanismus und der Hegeischen Philosophie zurückgehalten, und erst Alexander von Humboldts Tatkraft brachte es Anfang der 20er Jahre zur Entfaltung. Die Mathematik fand ihren umsichtigen Förderer in dem Baurat Crelle; für die Naturwissenschaft, soweit sie uns hier interessiert, bildet die Übersiedlung des ostfriesischen Chemikers Mitscherlich nach Berlin, die 1822 erfolgte, den Ausgangspunkt. Seine bedeutsame Wirkung wurde von der Universität geehrt durch Errichtung seines. Standbildes im Universitätsgarten.
Mitscherlich arbeitete auf dem Grenzgebiet der Chemie und Physik. Aus seiner Schule stammen die ersten Berliner Physiker, die aber, in bewußtem Gegensatz zu der spekulativen Richtung der herrschenden Philosophie, bloße Empiriker sind. In erster Linie sind hier Magnus und Poggendorff zu nennen, beide außerordentliche Professoren seit 1834. Der Name des letzteren ist bekannt durch die von ihm herausgegebenen Annalen der Physik. Poggendorff war ursprünglich Apotheker und ist seiner aufs Praktische gerichteten Natur immer treu geblieben. Magnus' Lehrtätigkeit kam vor allem in seinem „Kolloquium“ zum Ausdruck — dem auch ich noch 1869/70 angehörte —, das nun in der folgenden Zeit in hohem Maße Pflanzstätte für die nachfolgende physikalische Generation wurde. Auch für das Bedürfnis nach praktischer Betätigung seiner Schüler trug Magnus Sorge, indem er in dieser Zeit, die öffentliche physikalische Institute noch nicht kannte, sein Privatlaboratorium zu allgemeiner Verfügung stellte.
Der höhere Aufschwung der Naturwissenschaften in Berlin wurde indes doch von anderer Seite herbeigeführt, und zwar durch den rheinischen Physiologen Johannes Müller, der nach seiner Bonner Tätigkeit 1824-33 in Berlin eine große Wirksamkeit entfaltete. Er war ein Forscher, der bei vorsichtiger Beschränkung des eigenen Arbeitsgebietes zahlreichen Schülern starke Anregungen zu geben verstand. Da er gegen eine rein empirische, nur am Experiment interessierte Richtung zu kämpfen hatte, so liegt seine Einwirkung wesentlich nach Seite der exakten, theoretischen Begründung.
Unter diesen Einflüssen wuchs nun eine neue Generation von Naturforschern heran, von denen sich sechs junge Leute 1845 in der Berliner Physikalischen Gesellschaft zu engerer Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen. Den Anstoß zu diesem Unternehmen gab der Physiologe Emil du Bois-Reymond (geb. 1818), organisiert wurde es durch G. Karsten (geb. 1820), Privatdozent der Physik in Berlin, der später (von 1848 ab) auch in Kiel durch Einrichten des Wetterdienstes und anderer Arbeitssysteme seine Fähigkeiten in dieser Richtung auswirkte.
Unter Karstens Leitung unternahm die junge Gesellschaft folgende Arbeiten: Zunächst die Herausgabe der „Fortschritte der Physik“, d. h. von Jahresberichten über die physikalische Literatur, die als Repertorium seitdem unentbehrlich geworden sind; nach ihrem Vorbilde wurden später die „Fortschritte der Mathematik“ geschaffen. Dann die Ausarbeitung einer allgemeinen „Enzyklopädie der Physik“, die freilich nicht zu Ende geführt worden ist. Sie umfaßt Einzeldarstellungen von recht verschiedenem Wert, in denen aber u. a. auch Helmholtz' Physiologische Optik enthalten ist.
In diesen Kreis treten nämlich nun bald weitere junge Forscher ein, deren Namen in der Physik führend geworden sind. An erster Stelle ist Helmholtz zu nennen, der, damals Militärarzt in Potsdam, 1847 zuerst in der physikalischen Gesellschaft seine Theorie von der Erhaltung der Kraft vortrug. Zu ihm gesellte sich der Ingenieuroffizier Werner Siemens (geb. 1816 in Hannover), der 1848 den dänischen Krieg mitmachte und dabei durch das Aussetzen elektrischer Minen im Kieler Hafen hervortrat. 1849 begründete er mit Halske zusammen die elektrotechnische Firma, die nun bald zu Weltruf gelangte. Sehr interessant ist diese Entwicklung wiedergegeben in Siemens' lesenswerten „Lebenserinnerungen“ (Berlin 1893). Von nicht minderer Bedeutung ist ein weiteres Mitglied der physikalischen Gesellschaft, der damalige Oberlehrer Clausius (geb. 1822 in Pommern), dessen Großtat, die Begründung des zweiten Wärmesatzes, wir bereits besprachen. In seiner Arbeit „Über die bewegende Kraft der Wärme“ (Poggendorff Ann.,Bd. 79, 1850) trennte er die bei Sadi Carnot vorhandenen richtigen Ansätze von der falschen, unvollkommenen Einkleidung, eine Tat, die Mach in seiner Geschichte der Wärmelehre(*) als „bedeutende intellektuelle Leistung“ rühmt. Clausius wurde ferner durch seine Arbeiten über kinetische Gastheorie ein Hauptvorkämpfer des Atomismus.
Auch Kirchhoff gehörte diesem Kreise aufstrebender Talente an, der durch die entschlossene Selbsthilfe eines freiwilligen Zusammenschlusses, in seiner weiteren Entwicklung getragen durch den Aufschwung der großstädtischen Umgebung, eine Stätte schuf, an der sich durch lebhafte, anregende Wechselbeziehung nun eine seltene Blüte geistigen Lebens entfaltete.
Als überragende Gestalt aus dieser Gemeinschaft tritt uns Helmholtz entgegen, von dem ich nun eingehender reden möchte. Seine außerordentliche Stellung in der Geschichte der Naturwissenschaften beruht auf einer ungewöhnlich vielseitigen, eindringenden Begabung, innerhalb deren die mathematische Seite eine wichtige, für uns natürlich in erster Linie in Betracht kommende Rolle spielt.
*) E. Mach: Die Principien der Wärmelehre, Leipzig 1896. — Poincaré, Thermodynamique p. 114, sagt übrigens, daß Clausius das Carnot'sche Prinzip unabhängig wiedergefunden habe.
S. 221-222 aus
Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der
Mathematik im 19. Jahrhundert. - Teil 1. - Berlin : Springer, 1926.
- XIII, 385 S.
Signatur UB Heidelberg: L 234:: 24,1.1926
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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