Jacob Steiner.

Hesse, Otto:
Jacob Steiner
In: Journal für die reine und angewandte Mathematik. - 62 (1863), S. 199-200
Signatur UB Heidelberg: L 4::62.1863

Eine fast ununterbrochene Kette bilden im Journal von seiner Entstehung an bis vor wenig Jahren die unübertroffenen Arbeiten des am. 1.April verstorbenen Jacob Steiner. Dem Journal liegt es darum ob, die Trauerkunde, welche die ganze mathematische Welt schmerzlich bewegt, zu bestätigen und dem Verstorbenen an der Stelle ein Denkmal zu setzen, wo die Kette abläuft.

Jacob Steiner gilt für den ersten Geometer seiner Zeit. Mit dem grössten Theile seiner Arbeiten, welche ihm diese Geltung verschafft haben, hat er das Journal geschmückt. Sie folgten schnell auf einander mit zwei grösseren, aber bedeutsamen Unterbrechungen.

Die Zeit der ersten Lücke in dem Journal füllt die Bearbeitung eines classischen Werkes aus: Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten. Der Charakter des Buches ist Einfachheit und Strenge der Principien neben Mannigfaltigkeit der daraus gewonnenen Resultate. Darum wird es auch als Muster eines Lehrbuches der höheren Geometrie für spätere Zeiten dienen, welches reiche Keime weiterer Entwickelung in sich trägt. Der Verfasser vereinfacht, erweitert und vermehrt darin die von Poncelet erfundenen Beweismethoden.

Die Zeit der zweiten Unterbrechung scheint dem Kampfe mit dem Imaginären in der Geometrie gewidmet gewesen zu sein, wovon sich die Spuren vorher und nachher in dem Journal auffinden lassen. Es gewinnt diese Hypothese an Wahrscheinlichkeit, wenn man von dem Gespenst — wie Steiner sich auszudrücken liebte — in der Ebene und im Raume hört, mit dessen Hülfe er die verborgenen Wahrheiten enthüllte. Von da ab datiren seine zahlreichsten Entdeckungen, die weit über die Grenzen hinausgehen, welche seine Zeitgenossen sich gesteckt haben. Sie sind, gleich den Fermat'schen Sätzen, für die Mit- und Nachwelt Räthsel. Denn Steiner hat es in dem Drange seiner Entdeckungen nicht mehr bewältigen können, die Wege zu bezeichnen, die ihn dahin geführt haben. Es ist dieses um so mehr zu bedauern, als er sich jetzt auf einem Boden befand, auf dem die synthetische Geometrie zwar eine Richtschnur der Bearbeitung geben, den sie aber nicht beherrschen kann, weil ihr die Allgemeinheit der Grundlage mangelt.

Die Steiner'schen Sätze bleiben desshalb für den Geometer ein zu erstrebendes Ziel, für den Analytiker ein Wegweiser zur Bildung und Erforschung von Functionen, die in der höheren Algebra von grosser Bedeutung sind.

Steiner's Wirken steht mit der synthetischen Geometrie in unauflöslicher Verbindung. Mit unermüdlicher und ausschliesslicher Thätigkeit widmete er sich ihr, bis zu dem Grade der Schwärmerei, dass er es wie eine Schmach der Synthesis aufnahm, wenn bisweilen die Analysis, deren Macht er nicht unterschätzte, gleiche oder gar weitergreifende Resultate brachte.

Diese Hingebung hat er noch in einer letztwilligen Verordnung bekundet, welche durch Stiftung eines Preises für synthetische Geometrie auch in der Zukunft die Kräfte der Mathematiker auf diesen Zweig der Wissenschaft zu lenken sucht.

      Heidelberg, den 22. April 1863.

Otto Hesse          


Letzte Änderung: 01.03.2010     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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