Otto Hesse.

(geb. den 22. April 1811, gest. den 4. August 1874.)

von Carl Wilhelm Borchardt (1817-1880)

Aus: Journal für die reine und angewandte Mathematik. - 79 (1875), S. 345-347
Signatur UB Heidelberg: L 4::79


Das verflossene Jahr hat aus der Reihe der deutschen Mathematiker in Otto Hesse einen Mann durch den Tod ausscheiden sehen, dessen Arbeiten im Felde der analytischen Geometrie tiefe Spuren hinterlassen haben und einen bleibenden Fortschritt in dieser Disciplin bilden.

Otto Hesse, einer der bedeutendsten Schüler Jacobis, begann um das Jahr 1840 seine selbstständigen Forschungen. Dieselben waren im Lauf seiner Entwickelung gelegentlich auf Fragen der Algebra, der Variationsrechnung, der Mechanik, der Integration partieller Differentialgleichungen gerichtet, hauptsächlich und unausgesetzt aber auf die analytische Geometrie der Ebene und des Raumes.

Ueber diese von ihm mit besonderer Vorliebe gepflegte Disciplin erwarb er vermöge der seltenen Gewandtheit, mit welcher er die Algebra der ganzen Functionen zu behandeln verstand, sehr bald eine allgemein anerkannte unbestrittene Herrschaft. Alle seine Abhandlungen sind überdies durch die Vollkommenheit der Darstellung, namentlich durch die Consequenz, mit welcher Symmetrie und Homogeneität der analytischen Ausdrücke durchgeführt werden, Muster mathematischer Eleganz.

Unter der Reihe schöner Untersuchungen, welche er hinterlassen hat, will ich drei hervorheben, welche ihn am vollständigsten charakterisiren und seinen Namen in der Geschichte der analytischen Geometrie verewigen.

Seine lineare Construction des achten Schnittpunktes dreier Oberflächen zweiter Ordnung, seine Bestimmung der Wendepunkte der Curven dritter Ordnung, seine Untersuchungen über die Doppeltangenten der Curven vierter Ordnung sind Meisterwerke, welche innerhalb der analytischen Geometrie ein neues Untersuchungsgebiet eröffnet haben.

In jeder dieser drei Arbeiten wird ein Problem behandelt, welches einer beschränkten Anzahl von Lösungen fähig ist und daher auf eine algebraische Gleichung höheren Grades führt. Aber die Lösungen sind nicht unabhängig von einander. Nach den merkwürdigen Untersuchungen, welche Jacobi über die Eliminationsresultante angestellt hatte [Anm.: Bd. 14 p. 281, Bd. 15 p. 286 dieses Journals], bestehen Relationen zwischen den Lösungen, und die Finalgleichung der Elimination, auf welche man schliesslich geführt wird, ist eine Gleichung, welcher eine besondere Eigenschaft zukommt,

Ohne Zweifel war es Jacobi selbst, welcher Hesse auf diesen algebraischen aus der analytischen Geometrie zu hebenden Schatz aufmerksam gemacht hatte. Aber es, bedurfte eines seltenen Talents, einer unausgesetzten, consequenten Arbeit, um auf dem bezeichneten, bis dahin noch unbekannten Felde Ergebnisse von solcher Tragweite zu gewinnen.

Hesses Entdeckungen haben weitere Vervollkommnungen in den angrenzenden wissenschaftlichen Gebieten zur Folge gehabt. Am deutlichsten tritt dies an seinen Arbeiten über die Wendepunkte der Curven dritter Ordnung hervor, welche den Ausgangspunkt für die fundamentalen Untersuchungen des Herrn Aronhold über ternäre Formen dritten Grades bilden, Untersuchungen, denen die Theorie der Invarianten eine so bedeutende Förderung verdankt.

Das mathematische Journal, welchem die Ehre zu Theil geworden ist, die, meisten von Hesses Abhandlungen und namentlich die bezeichneten drei Hauptarbeiten in seine Spalten aufzunehmen, hat auch Hesses letzte Arbeit, die das Problem der drei Körper behandelt, und zwar gleichzeitig mit den Denkschriften der Münchener Akademie, veröffentlicht. In dieser Arbeit, welche eine neue und durch ihre Symmetrie ausgezeichnete Darstellung der Lagrangeschen von der Pariser Akademie gekrönten Preisschrift enthält, ist ein das Resultat beeinflussender Irrthum untergelaufen, den öffentlich zuerst Herr Serret besprochen hat. Aus einem mit Hesse geführten Briefwechsel weiss ich, dass Hesse schon wenige Monate nach Veröffentlichung seiner Abhandlung den Irrthum kannte. Meine Bitte denselben in meinem Journal zu berichtigen, ehe es von anderer Seite geschehe, blieb fruchtlos, wahrscheinlich, weil Hesse sich auf eine blosse Berichtigung nicht beschränken sondern damit die Veröffentlichung neuer Resultate verbinden wollte, die noch nicht in druckfertiger Form vorlagen.

Was Hesse als Lehrer nach einander in Königsberg, Halle, Heidelberg, München geleistet hat, davon geben seine zahlreichen Schüler ein beredtes Zeugniss. Noch weiter hat er seinen belehrenden Einfluss ausgebreitet und auf die Kenntniss der analytischen Geometrie in Deutschland befruchtend eingewirkt, indem er seine Vorlesungen über analytische Geometrie durch den Druck allgemein zugänglich machte.

Diese ganze Seite seiner Thätigkeit möge an einer anderen Stelle gewürdigt werden, mir kam es vorzugsweise darauf an, den Lesern des Journals die unvergänglichen Ergebnisse ins Gedächtniss zurückzurufen, welche die Wissenschaft dem Forscher Otto Hesse verdankt.

Berlin, den 31. December 1874.

Borchardt.


Letzte Änderung: 01.05.2010     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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