Heidelberg:
Friedrich-Ebert-Anlage 5

Am Haus befindet sich eine Gedenktafel für Georg. G. Gervinus mit dem Text:
Georg Gottfried Gervinus
bewohnte dieses Haus in den Jahren
1860 - 1871.
Das Universitäts-Adressbuch verzeichnet im WS 1860/61 noch für Gervinus die Adresse Ziegelhäuser Str. bei Fallenstein. Erst im SS 1861 ist er für die Leopoldstr. 5 verzeichnet.
Haus-Nr.  Hausbesitzer

      5  1856       Garten
         1858       St. Annakirchhof
      [WS1857-WS1858]   Mieter: Hofrath Dr. [Achilles] Renaud / Jur.
         1860       Leber A., Professor
      [SS1860-WS1861]   Mieter: Prof.Dr. [Nikolaus] Friedreich / Med.
         1861-1872  Gervinus G., Hofrath Dr.
      [SS1864-SS1873]   Mieter: Prof.Dr. [Wilhelm] Wattenbach / Phil.
      [WS1870-SS1873]   Mieter: Prof.Dr. [Leo] Königsberger / Phil.
         1872-1876  Gervinus G., Hofrath Dr. Wtw.
         1878-1893  Gervinus Victoria, Hofrath Wtw.
        (1889-1890)     Mieter: Prof. Dr. [Emile] Freymond (Romanist) 
         1894-1926  (Gervinushaus) Petters Otto, Buchhändler
         1927-1940  (Gervinushaus) Petters Otto, Buchhändler Witwe
         1941-1955  (Gervinushaus) * Petters Otto, Buchh. Wtw. Erben
         1956-1963  * Petters Erbengemeinschaft
         1965-1973  * Dippel Margarethe Wtw. u. Voss Dorothea
         1974-      * Voss Dorothea u. Christian

Der Mathematiker Leo Koenigsberger berichtet in seinen Erinnerungen Mein Leben über die Zeit im Hause Gervinus:

Nachdem ich Michaelis 69 eine an der Anlage gelegene Parterrewohnung im Hause von Gervinus bezogen, wodurch es meinen verehrten Freunden leicht gemacht wurde, durch ein Klopfen am Fenster mich zu ihrer Begleitung abzuholen, wurde der Rest der Herbstferien sowie das folgende Winter- und Sommersemester intensiver wissenschaftlicher Arbeit und angestrengter Dozententätigkeit in Vorlesungen und Seminaren gewidmet; nur einmal in der Woche fanden sich Bunsen und Kirchhoff in meiner Wohnung zu einem l'hombre-Kränzchen ein, wenn man unser Zusammensein, bei welchem fast nie eine Partie zu Ende gespielt wurde, so nennen darf — denn jede halbe Stunde warf Bunsen seinen Pelz über, lief von meiner Wohnung in sein nahegelegenes Laboratorium, um zu sehen, welche Angaben sein damals von ihm konstruierter Calorimeter machte, und kam dann außer Atem wieder zurück, mit seinen Gedanken noch ganz im Laboratorium, und eine jedesmal von Kirchhoff teils scherzweise teils ernsthaft bezüglich seines Calorimeters gerichtete Frage führte sogleich die Unterhaltung ganz abseits von Karten und leichter Plauderei, die Bunsen nur dann unterbrach, wenn der vom Hoten Schrieder ganz in seinem Sinne und Geschmack angerichtete Herings- oder Kartoffelsalat seiner Feinschmeckerei ein Feld der Betätigung bot.

(S. 51-52)

In den Kreis meiner näheren Freunde war nun auch Gervinus getreten, in dessen Hause ich wohnte, und mit dem ich sehr häufig nachmittags oder abends zusammenkam. Es war die Zeit des Krieges eine für den großen Gelehrten und vornehmen, aber unbeugsamen Charakter eine recht trübe — die Politik Bismarcks war ihm verhaßt gewesen in der Zeit des Militärkonflikts, und unsympathisch geblieben trotz aller Großtaten Deutschlands im österreichischen und französischen Kriege; als er zur Feier der Schlacht bei Sedan auf seinem Balkon die Lämpchen zur Illumination selbst anzündete, fragte ich ihn, weshalb er denn das nicht seinem Diener überlasse: „damit die Leute sehen, daß ich mich über den Sieg und wenigstens für jetzt erlangte Einheit Deutschlands freue,“ war seine wehmütige Antwort. All die widerstrebenden Gefühle zehrten an ihm, und ich zweifelte nicht daran, daß er, der einst, einer der „Göttinger Sieben“, für die Freiheit und Einheit Deutschlands seine Dozententätigkeit und Existenz eingesetzt hatte, und jetzt von all den politischen Schwätzern unter den Gebildeten und Ungebildeten verlacht und verspottet wurde, sehr bald daran zugrunde gehen würde. Schon im März 71 zeigte mir Kirchhoff den Tod von Gervinus nach Posen hin an: „Sie, Bunsen und Kopp werden durch diesen Trauerfall sehr erschreckt sein; freilich sagte mir Frau Gervinus, Sie hätten vor längerer Zeit schon zu einer Dame geäußert, Gervinus würde diesen Krieg nicht überleben.“

Nachdem einige Jahre später auch Frau Gervinus gestorben, geriet in Heidelberg der Name des einst so hochangesehenen Gelehrten ganz in Vergessenheit.

(S. 63)




Redaktion:   Gabriele Dörflinger   Juli 2018

Zur Inhaltsübersicht      Historia Mathematica Heidelbergensis      Friedrich-Ebert-Anlage in Heidelberg