Heidelberger Akademie der Wissenschaften — Mathematik |
Sitzung der Math.-nat. Klasse am 22. April 1989
Galois wurde zu seinen Untersuchungen durch das klassische Problem der Auflösung von Gleichungen durch Radikale geführt. Heute besitzt diese Fragestellung, die mehrere Jahrhunderte lang die Mathematiker intensiv beschäftigt hat, nur noch marginales Interesse. Jedoch hat die Bedeutung der Galoisgruppe mehr und mehr zugenommen; ihr kommt heute eine zentrale Rolle zu bei der Beschreibung der Struktur des mathematischen Universums. Es handelt sich dabei um die Welt der diskreten Mathematik, also insbesondere um die Zahlentheorie, genauer: die Theorie der algebraischen Zahlkörper. Die kontinuierliche Analysis und Geometrie sind darin als ein Grenzfall mit enthalten.
Die Galoistheorie ist, wie Hermann Weyl betont, nichts anderes als die Relativitätstheorie jener Körper. Ein erheblicher Teil der heutigen Forschung beschäftigt sich mit der Frage, welche zahlentheoretischen Eigenschaften in den Galoisgruppen codiert sind, und in welcher Weise dies der Fall ist.
David Hilbert (1894) hat entdeckt, daß das Zerfallsverhalten der Primzahlen in einem Zahlkörper sich in seiner Galoisgruppe widerspiegelt. Heute bezeichnet man diese Erkenntnisse kurz als „Hilbertsche Theorie“. Wie Hasse hervorgehoben hat, sind deren Methoden und Ergebnisse nicht nur für das Reziprozitätsgesetz, sondern weit darüber hinaus „von der allergrößten Bedeutung“ geworden.
Um Gesetzmäßigkeiten allgemeiner Natur zu finden, betrachtet man nicht nur einzelne oder spezielle Klassen von Zahlkörpern, sondern es werden alle Zahlkörper gleichzeitig in den Kreis der Untersuchung einbezogen. Für die Galoisgruppe bedeutet das nach Krull (1928) einen Grenzübergang. Genauer: Die Galoisgruppe G des Körpers aller algebraischen Zahlen ist eine kompakte topologische Gruppe, der projektive Limes der endlichen Galoisschen Faktorgruppen.
Legt man eine feste rationale Primzahl p zugrunde, so spiegelt sich das Zerfallsverhalten von p in der zugehörigen lokalen Galoisgruppe Gp wider, welche eine Untergruppe der vollen Galoisgruppe G ist. Die Hilbertsche Theorie kann (im Limes) aufgefaßt werden als eine arithmetische Strukturtheorie von Gp. Die genaue Beschreibung von Gp, durch Erzeugende und definierende Relationen konnte jedoch erst in neuerer Zeit gegeben werden: 1982 durch Jannsen und Wingberg (heute in Heidelberg), aufbauend auf früheren Untersuchungen von Shafarevich, Jakovlev und H. Koch. Der Fall der kleinsten Primzahl p = 2 ist übrigens noch nicht vollständig erledigt.
Es ist üblich, die Theorie der rationalen und algebraischen Zahlen in Analogie zu setzen mit der der rationalen und algebraischen Funktionen. In dieser Analogie entspricht das Spektrum der Primzahlen (einschl. ∞) der Riemannschen Sphäre als komplexer Mannigfaltigkeit. Der Ausbau dieser Analogie hat sich in weiten Strecken bewährt; es entstand so das Gebiet der „arithmetischen Geometrie“, in welchem geometrische Ideen zur Beschreibung arithmetischer Sachverhalte verwendet werden.
Bei der genannten Analogie gehört die volle Galoisgruppe G zu der verzweigten Fundamentalgruppe der Sphäre. Und die lokale Gruppe Gp einer Primzahl p gehört zu der lokalen Gruppe über einem Punkt z der Sphäre; letztere wird von der sog. Umlaufsubstitution erzeugt. Hierbei zeigen sich die Grenzen der angegebenen Analogie: während im arithmetischen Falle die lokale Gruppe Gp eine reichhaltige Struktur besitzt, so ist im geometrischen Falle die lokale Gruppe durch keine Besonderheiten ausgezeichnet (zyklisch mit der Umlaufsubstitution als Erzeugenden). Das entspricht der Tatsache, daß im geometrischen Falle die Mannigfaltigkeit glatt ist und sich somit an all ihren Punkten in gleicher Weise verhält, während im arithmetischen Falle jede Primzahl ihre eigene, unverwechselbare Besonderheit besitzt und diese sich auch in der Struktur der Galoisgruppe ausdrückt. Jede einzelne Primzahl ist demnach als „Singularität“ anzusehen; das Spektrum der Primzahlen erscheint starr und inhomogen.
Es entsteht die Frage, welche Eigenschaften einer Primzahl in der lokalen Galoisgruppe Gp codiert sind. Vor zwei Jahren konnte F. Pop in seiner Heidelberger Dissertation nachweisen, daß dies für alle algebraisch formulierbaren Eigenschaften der Fall ist. Genauer: Jeder Körper K, dessen über K stehende absolute Galoisgruppe zu Gp isomorph ist, ist elementar äquivalent zum Henselschen lokalen p-adischen Körper Qp. (Dabei muß allerdings z.Zt. noch eine gewisse technische Zusatzbedingung gemacht werden, die sich höchstwahrscheinlich als überflüssig erweisen wird.)
Für die volle Galoisgruppe G gilt ein entsprechender Satz nicht; darauf hat Jarden kürzlich aufmerksam gemacht. Andererseits weiß man seit längerer Zeit, daß ein Zahlkörper endlichen Grades durch seine Galoisgruppe eindeutig bestimmt ist, falls man als Konkurrenten ebenfalls nur Zahlkörper endlichen Grades zuläßt. Dieser Satz konnte kürzlich durch Pop ausgedehnt werden auf endlich erzeugte Funktionenkörper. Damit wird das Tor geöffnet zu einem neuen Verständnis der arithmetischen Geometrie via Galoisgruppen.
Die genaue Strukturbeschreibung der vollen Galoisgruppe G ist bisher nicht geglückt und steht noch aus. Emmy Noether hat die Frage gestellt, ob jede endliche Gruppe eine Faktorgruppe von G ist, also als Galoissche Symmetriegruppe eines geeigneten Zahlkörpers endlichen Grades realisiert werden kann. Shafarevich (1957) hat gezeigt, daß dies für jede endliche auflösbare Gruppe tatsächlich der Fall ist. Hasse (ab 1948) hat versucht, einen induktiven Ansatz zur allgemeinen Lösung des Realisierungsproblems zu finden, jedoch stieß die weitere Verfolgung der Hasseschen Einbettungstheorie lange Zeit auf unüberwindliche Schwierigkeiten.
Erst in neuerer Zeit sind von anderer Seite bahnbrechende Resultate zum Realisierungsproblem erzielt worden. Die dabei eingesetzten Hilfsmittel sind einerseits die Theorie der arithmetischen Lie-Gruppen, andererseits funktionentheoretische Existenzsätze nach Riemann und Jacobi. Die diesbezüglichen Arbeiten haben durch die Klassifizierung der endlichen einfachen Gruppen einen neuen Impetus erhalten. Der Nachweis der Realisierbarkeit einer ganzen Reihe von einfachen und verwandten Gruppen wurde in Heidelberg durch die Arbeitsgruppe Matzat erbracht, im Rahmen des neu gegründeten „Instituts für Wissenschaftliches Rechnen“.
Neuerdings sind die Zahlentheorie und die arithmetische Geometrie in der Physik als Modelle zur Beschreibung von Quantisierungseffekten herangezogen worden („p-adic superstring theory“). Zwar scheinen die bisherigen Arbeiten dazu zunächst einen durchaus vorläufigen Charakter zu besitzen. Wenn es jedoch überhaupt sinnvoll erscheint, die Zahlentheorie zur Beschreibung der physikalischen Raum-Zeit-Struktur einzusetzen, dann dürfte dabei sicherlich die Galoisgruppe als die zugehörige Symmetriegruppe in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Herr Profesesor Peter Roquette gestattete freundlicherweise im Oktober 2010 die Publikation dieses Beitrages im Internet.
Letzte Änderung: 24.05.2014 Gabriele Dörflinger Kontakt
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