Heidelberger Akademie der Wissenschaften — Mathematik

Peter Roquette:
Antrittsrede vom 29.4.1978

Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1978, S. 47-50
Signatur UB Heidelberg: ZSA 889 B::1978


Antrittsrede des Herrn Peter Roquette (Heidelberg):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich danke Ihnen für die Wahl zum Mitglied dieser Akademie. Dem Brauch folgend möchte ich mich Ihnen nun etwas näher vorstellen.

Daß ich Mathematiker bin, ist Ihnen wahrscheinlich bekannt. Wenn ich innerhalb der Mathematik den Standort meiner eigenen Forschungsarbeiten und Interessen beschreiben soll, so bin ich in einer gewissen Verlegenheit. Als ich vor 18 Jahren als frischgebackener Ordinarius meinen Lehrstuhl in Tübingen antrat, da wurde ich im Verlauf der Vorstellungsgespräche eben auch nach meinem Spezialgebiet gefragt. Ich selbst kann mich an dieses Gespräch nicht mehr so recht erinnern; berichtet wird jedoch meine Antwort wie folgt: eigentlich hätte ich kein besonderes Spezialgebiet und ich würde versuchen, die Mathematik in ihrer ganzen Breite zu vertreten. Unabhängig davon, ob ich das damals tatsächlich gesagt habe, so beschreibt jener Bericht doch meine grundsätzliche Einstellung zur Mathematik, gleichzeitig aber auch meinen damaligen Optimismus. Inzwischen habe ich natürlich längst erfahren, daß es für einen einzelnen heute unmöglich geworden ist, in allen Gebieten der Mathematik aktiv tätig zu sein, angesichts der starken Ausdehnung und raschen Entwicklung unserer Wissenschaft. So muß ich denn wenn auch widerstrebend bekennen, daß ich in der Tat mathematische Spezialgebiete besitze, die die Grundlage für meine Forschungsarbeiten bilden, nämlich Algebra und Zahlentheorie.

Wenn ich darüber nachdenke, wie ich denn gerade zu diesen Arbeitsgebieten gekommen bin, so erinnere ich mich an meine ersten Studiensemester. Ich gehöre zu derjenigen Generation, die in den Jahren unmittelbar nach 1945 studiert hat. Im Herbst 1945 immatrikulierte ich mich, damals 18-jährig, an der Universität Erlangen. Unter meinen akademischen Lehrern befand sich Heinrich Grell, ein Schüler von Emmy Noether. Grell versuchte in seinem lebendigen, anregenden und Leistung fordernden Unterricht, uns den Geist der Noetherschen Jahre in Göttingen nahe zu bringen. So wie ich es heute sehe, waren seine Vorlesungen stellenweise eine ziemlich genaue Kopie der Originalvorlesungen von Emmy Noether selbst. So geriet ich zwar indirekt doch recht intensiv unter den Einfluß der großen Algebraikerin, und ich fand mich bereits in den ersten Semestern mit hyperkomplexen Systemen und mit Klassenkörpertheorie beschäftigt.

Weitere Anregungen in Richtung Algebra erhielt ich in späteren Semestern, nach einem Universitätswechsel, durch Hans Zassenhaus in Hamburg. Als Zassenhaus aus Hamburg fortzog, beschloß ich auf seinen Rat hin, noch einmal die Universität zu wechseln. Ich ging nach Berlin zu Helmut Hasse. Dies war im Jahre 1949, kurz nach Beendigung der Blockade.

Ich kann wohl sagen, daß durch Helmut Hasse die Ausrichtung meiner mathematischen Arbeit am stärksten und in entscheidender Weise beeinflußt worden ist. Eigentlich habe ich nur wenig Vorlesungen bei ihm gehört; die meisten seiner Anregungen ergaben sich in Seminaren, in persönlichen Gesprächen und durch das Studium seiner Arbeiten, die mich faszinierten. Auf diese Weise wurde ich in die Zahlentheorie eingeführt, und Hasses tolerante, aber richtungweisende Anleitung erleichterte mir die Orientierung. Auf seine Anregung hin entstanden meine ersten eigenen Forschungsarbeiten: Diplomarbeit 1950 in Berlin, Dissertation 1951 in Hamburg. Einen großen Gewinn zog ich auch aus dem Kontakt mit den Hasse-Schülern. In den damaligen Jahren hatte sich um Hasse ein anregender Kreis von jungen Studenten und Mitarbeitern gebildet. Nicht alle von damals sind bei der Zahlentheorie geblieben, aber fast alle haben heute eine angesehene und geachtete Stellung in Wissenschaft oder Wirtschaft inne.

Bei Hasse lernte ich auch, daß es notwendig ist, Maßstäbe zu gewinnen zur Beurteilung der Relevanz mathematischer Resultate. Zwar sind die mathematischen Forschungsergebnisse absolut wahr, das heißt ihr Wahrheitswert ist unabhängig von Meinung und Interpretation. Das Kriterium der Wahrheit reicht jedoch nicht aus: es gibt interessante und uninteressante Wahrheiten. Um sinnvoll arbeiten zu können, sind also Maßstäbe notwendig, um die Relevanz mathematischer Resultate beurteilen zu können. Solche Maßstäbe sind natürlich nicht eindeutig bestimmt, sie werden individuell verschieden sein und ändern sich vielleicht auch bei ein und derselben Person im Laufe des Lebens. Ich kann und will hier nicht meine eigenen Auffassungen vortragen. Soviel sei aber doch gesagt: abstrakte Theorien haben mich niemals so recht interessiert, es sei denn sie lassen sich anwenden auf die Lösung ganz konkreter Probleme, wie sie etwa die Zahlentheorie bietet. Andererseits liefert die abstrakte Algebra, zum Beispiel die Gruppentheorie, erfahrungsgemäß oft das geeignete Hilfsmittel zur strukturellen Aufklärung des gegebenen konkreten Problems, sozusagen die angemessene Sprache zur Beschreibung der Struktur einer mathematischen Situation. Das ist der Grund, weshalb ich mich auch mit Algebra beschäftige, neben der Zahlentheorie, die mein Hauptinteresse beansprucht.

Ähnliche Gedanken hörte ich übrigens nicht nur von Hasse, sondern später auch von Emil Artin in Princeton. In den Jahren 1954/56 hatte ich Gelegenheit zu einem zweijährigen Aufenthalt am dortigen Institute for Advanced Study. Princeton galt damals als das Zentrum der Mathematik, genauer: das Zentrum für die mathematische Kommunikation. Für den Mathematiker ist der persönliche Kontakt zu seinen Fachkollegen sehr wichtig zur schnellen gegenseitigen Information über neuere Ergebnisse, Theorien und Ideen. Denn bei der raschen Entwicklung unserer Wissenschaft kommen die Publikationen, in denen man alles nachlesen kann, oft viel zu spät. In Princeton trafen sich damals Mathematiker aus der ganzen Welt und aus allen Generationen, und ich habe viel Gewinn gezogen aus den Gesprächen, Diskussionen und Seminaren.

Die Mathematiker gelten im allgemeinen als besonders reiselustig: sie reisen zu Kongressen, Tagungen, Symposien, Kolloquien usw. Der Grund dafür ist, wie bereits oben gesagt, die Notwendigkeit zu persönlichem wissenschaftlichen Kontakt. Auch ich hatte in der Vergangenheit Gelegenheit zu mancherlei Reisen aus wissenschaftlichem Anlaß. Die erste längere Reise ging, wie erwähnt, nach Princeton. Ich möchte hier noch eine weitere Reise erwähnen, weil diese nämlich Auswirkungen auf meine wissenschaftliche Arbeit in ganz besonderer Weise zeitigte. Es handelt sich um einen Gastaufenthalt in Pasadena, am California Institute of Technology, im Jahre 1963. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Abraham Robinson kennen, der damals im benachbarten Los Angeles lebte. Die Bekanntschaft mit Robinson entwickelte sich im Laufe der Jahre zu engerem wissenschaftlichen Kontakt und Zusammenarbeit. Robinson besuchte uns schließlich ziemlich regelmäßig, zunächst in Tübingen, später nach 1967 in Heidelberg, als ich von Tübingen hierher gezogen war. Das Besondere an den Robinsonschen Ideen ist die Verwendung der neueren Ergebnisse der formalen Logik, insbesondere der Modelltheorie. Bisher hatte man die formale Logik hauptsächlich als ein Hilfsmittel zur Klärung der Grundlagen der Mathematik angesehen; nun stellte sich heraus, daß sie auch direkt in der mathematischen Forschung eingesetzt werden kann. Besonders eindrucksvoll ist die Robinsonsche Rechtfertigung des klassischen Leibnizschen Kalküls der Infinitesimalen, also der unendlich kleinen Größen; bisher hatte man diesen Kalkül ja für widerspruchsvoll gehalten. Doch das gehört eigentlich nicht hierher, denn es betrifft die Analysis, während unsere Arbeiten die Anwendung der Robinsonschen Ideen auf die Zahlentheorie zum Gegenstand haben. Nach dem tragischen Tod von Abraham Robinson versuchen wir in der Heidelberger Arbeitsgruppe, diese Ideen weiter zu verfolgen und auszubauen. Wir haben gewisse Resultate zu verzeichnen, aber vielleicht ist es heute noch zu früh, um über den Erfolg oder Mißerfolg unserer Arbeiten ein Urteil zu fällen. Jedenfalls ist ein wachsendes Interesse auch von auswärts an unseren Untersuchungen festzustellen, was sich zum Beispiel in Vortragseinladungen ausdrückt zum Bericht über den gegenwärtigen Stand unserer Arbeiten. Im vergangenen Jahr war ich dazu in Japan und in den Vereinigten Staaten und in diesem Frühjahr in England. In den nächsten Wochen werde ich nach Warschau reisen, um am dortigen internationalen Banachzentrum darüber vorzutragen.

In meinem Bericht habe ich Ihnen bisher die Namen derjenigen Mathematiker genannt, die meine Arbeitsrichtung wesentlich beeinflußt haben. Zum Schluß möchte ich zwei Mathematiker erwähnen, denen ich eine erhebliche Förderung verdanke gerade dadurch, daß sie davon Abstand genommen haben, meine Arbeitsrichtung zu beeinflussen. Es handelt sich erstens um Wilhelm Maak, bei dem ich eine Assistentenstelle versah in den Jahren 1952/54. Dankbar vermerke ich, daß er mir in diesen Jahren in bezug auf meine wissenschaftliche Arbeit vollständige Freiheit und Unabhängigkeit gewährt hat. Zweitens habe ich Wilhelm Süss zu nennen, den Gründer und Direktor des mathematischen Instituts in Oberwolfach. Im Jahre 1951 bot er mir eine Existenz- und Arbeitsmöglichkeit in seinem Institut im schönen Schwarzwald.


Herr Professor Peter Roquette gestattete freundlicherweise im Oktober 2010 die Publikation dieses Beitrages im Internet.


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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