Heidelberger Akademie der Wissenschaften — Mathematik

Nachruf auf Alfred Loewy

Jahresheft der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1934/35, S.26-30, enthalten in Bericht über das Geschäftsjahr 1934/35 / erstattet in der Festsitzung am 2. Juni 1935 in Vertretung des geschäftsführenden Sekretärs der Akademie, Herrn [Paul] Ernst [1859-1937], durch Herrn [Otto Heinrich] Erdmannsdörffer.

Signatur UB Heidelberg: H 95-6::1934


Am 25. Januar 1935 verstarb in Freiburg i. B. der Mathematiker Alfred Loewy, seit 1922 außerordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Loewy wurde am 20. Juni 1873 in Rawitsch geboren, wo er auch die Schule absolvierte. Nach einem Studium in Breslau, Berlin und München erwarb er in München mit 21 Jahren bei Lindemann den Doktortitel. Nach einer Fortsetzung seiner Studien in Göttingen habilitierte er sich 1897 in Freiburg als Privatdozent für Mathematik, wurde 1902 zum a.o. Professor, 1916 zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt und erhielt 1919 das durch die Emeritierung von Stickelberger frei gewordene Ordinariat. 1933 wurde er in den Ruhestand versetzt.

Schon durch seine Dissertation und die Arbeiten der nächsten Jahre, auch durch die Habilitationsschrift, konnte Loewy die Resultate der namhaftesten Forscher auf dem Gebiet der linearen Substitutionen, die eine quadratische, eine bilineare oder eine Hermite'sche Form in sich überführen, wesentlich vervollständigen und weiterführen.

Selbstverständlich führten diese Untersuchungen zu den Gruppen von linearen Substitutionen. Loewy fand charakteristische Bedingungen dafür, daß eine Gruppe von Substitutionen, deren charakteristische Gleichungen zusammen nur endlich viele verschiedene Wurzeln haben, eine endliche Gruppe sei. — Namentlich über die Reduzibilität einer Gruppe linearer Substitutionen und ihre Zerlegung gab er wichtige Aufschlüsse. Dabei spielt die Transformation der Gruppe in eine ähnliche „unter Hervorhebung der irreduziblen Bestandteile“ eine Rolle in dem Eindeutigkeitssatz: Wie auch eine Gruppe linearer homogener Substitutionen unter Hervorhebung ihrer irreduziblen Bestandteile in eine ähnliche transformiert wird, die irreduziblen Bestandteile irgend einer Darstellung können denen einer anderen Darstellung immer so zugeordnet werden, daß zwei zugeordnete Teilgruppen gleich viel Variable enthalten und ähnliche Gruppen sind. Noch weitergehende Aussagen gestattet der Begriff der „vollständig reduziblen Gruppen“. — Solche Untersuchungen werden dann auf den Fall ausgedehnt, daß die Koeffizienten der Substitutionen, über die bisher nichts vorausgesetzt war, einem bestimmten Rationalitätsbereich angehören.

Ebenso selbstverständlich führten diese Studien Loewy zu den linearen homogenen Differentialgleichungen. Für solche fand er die Picard-Vessiot'sche Theorie über die Rationalitätsgruppe vor. Aber gleich in der ersten einschlägigen Arbeit dehnte er diese Theorie auf eine viel allgemeinere Klasse aus, auf die „Differentialgleichungen mit Fundamentalgruppe“. Dabei benutzt er jedoch als Methode nicht die Picard-Vessiotsche, sondern die von Lie geschaffene Theorie der Transformationsgruppen. Sehr zahlreiche weitere Arbeiten beziehen sich speziell auf lineare homogene Differentialgleichungen: Reduzibilität und Zerlegung in irreduzible Faktoren — Beziehung zwischen verschiedenen solchen Zerlegungen — Vollständig reduzible Differentialgleichungen — Zerlegung in vollständig reduzible Faktoren — Vereinfachung der Methode durch Benutzung des Differentialausdrucks ohne Voraussetzung der Existenz von Integralen — Generelle Zusammenfassung vieler Resultate über Substitutionsgruppen und über lineare Differentialgleichungen in einer Arbeit über „Matrizen- und Differentialkomplexe“ (vordere und hintere Zerlegung eines Matrizenkomplexes; adjungierte Matrizenkomplexe). — Der Begriff der „Begleitmatrix eines linearen homogenen Differentialausdrucks“ dient zur Umformung früherer Sätze. — Eine neue eingehende Behandlung der Picard-Vessiot'schen Theorie führt zu mehrfacher Vervollständigung. — Die Untersuchungen, auch der „Artbegriff“, werden auf Systeme von Differentialgleichungen ausgedehnt unter Einführung des Begriffs der „Sequenten“.

Einen weiteren Gipfelpunkt erreichen die gruppentheoretischen Arbeiten Loewys auf algebraischem Gebiet in der neuen, überraschend einfachen Begründung und Erweiterung der Galois'schenTheorie, wobei nicht einmal der Satz über die symmetrischen Funktionen vorausgesetzt wird. („Transmutationen der Dirigenten eines Körpers“; „Mischgruppe“.)

Der Stieltjes'sche Integralbegriff, dem eine Reihe von Arbeiten der letzten Jahre gewidmet ist, findet eine finanztechnische Deutung, ebenso die Integration eines linearen Differentialsystems. Eine axiomatische Begründung der Zinstheorie deckt den inneren Grund für solche Möglichkeiten auf.

Für alle diese Untersuchungen auf den gekennzeichneten Hauptarbeitsgebieten Loewys ist es bezeichnend, daß sehr häufig und sehr schnell nach dem Erscheinen seiner Arbeiten von anderen hervorragenden Forschern daran angeknüpft wurde, soweit überhaupt noch irgend etwas zu wünschen blieb.

Daneben hat Loewy sein Interesse den verschiedensten Einzeldingen, vielfach auch historischen Fragen, zugewandt. Es seien nur die Arbeiten über algebraische Gleichungen mit reellen Wurzeln und den sog. casus irreducibilis der kubischen Gleichungen und über die Reduktion algebraischer Gleichungen durch Adjunktion reeller Radikale genannt.

Daß ein so bahnbrechender und ein großes Gebiet beherrschender Forscher für zusammenfassende Darstellungen in diesem Gebiet besonders berufen war, bedarf keiner Begründung. So sind die drei Kapitel der neuen Auflage von Pascal s Repertorium der höheren Mathematik (1910) über Kombinatorik, Determinanten und Matrizes; — Algebraische Gruppentheorie; — Algebraische Gleichungen aus Loewys Feder. — 1915 aber erschienen als erster Teil eines Lehrbuches der Algebra Loewys Grundlagen der Arithmetik. Sie behandeln Zahlbegriff, Dezimalbruch, Kettenbruch, Wurzel, Potenz, Logarithmus, Grenze, Reihe, binomische Entwicklung, unendliches Produkt. Bei Anknüpfung an Peano wird die Fundierung in großer Tiefe gelegt; das Werk enthält viel Originelles. — An weitere Kreise wandte sich 1920 das Buch „Mathematik des Geld- und des Zahlungsverkehrs“.

Fügen wir hinzu, daß Loewy bei der Herausgabe des X. Bandes der Werke von Gauß wertvolle Mitarbeit geleistet, in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften 3 Bände (Abel, Fourier und C. Sturm) herausgegeben und jahrzehntelang namentlich für das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik zahllose Referate geliefert hat, so versteht man kaum, wie in 40 Jahren quantitativ und qualitativ eine so außergewöhnliche Arbeit geleistet werden konnte. Und doch hat Loewy neben all diesen Arbeiten in der reinen Mathematik sich noch sehr weitgehend mit der Versicherungsmathematik beschäftigt.

Sein zuerst in mehreren Auflagen in der Sammlung Göschen und 1924 in größerer Ausführlichkeit erschienenes „Lehrbuch der Versicherungsmathematik“ zeichnet sich durch reichen Inhalt und eingehende Berücksichtigung der Sozialversicherung aus. Wohl infolgedessen wurde Loewy die „Prüfung der Abteilung B der Arbeiterpensionskasse für die Badischen Staatseisenbahnen und Salinen“ übertragen, die er mit großer Gründlichkeit vornahm, indem er sich nicht auf die Aufstellung der üblichen Bilanz beschränkte, sondern eingehende Untersuchungen, u. a. über die künftig zu erwartende Entwicklung der Kasse, anstellte.

Von seinen weiteren Arbeiten auf diesem Gebiete mögen nur die wichtigsten erwähnt werden, zunächst seine Abhandlung „Zur Theorie und Anwendung des Intensitätsbegriffs“, in der die analytische Methode mit allen ihren Feinheiten zur Anwendung gelangt. Von der Verwertung des Stieltjes'schen Integralbegriffs war oben schon die Rede. Ferner seine sich mehr an die Praxis anschließenden Aufsätze über die versicherungstechnische Bezeichnungsweise und über Krankenversicherung. Auch für das „Versicherungslexikon“ lieferte er eine große Anzahl von Artikeln.

Als Dozent war Loewy durch lebhaften, klaren Vortrag ausgezeichnet. Durch die höheren Vorlesungen und Seminare über seine eigenen Arbeitsgebiete hat er viele Dissertationen angeregt.

Menschlich war er von einer großen Reinheit des Charakters, auch außerhalb seiner Wissenschaft sehr unterrichtet und interessiert und besaß ein außerordentliches Gedächtnis. Dieses und eine wahrhaft philosophische Lebensauffassung gaben ihm die Fähigkeit, seine in den sechs letzten Lebensjahren bestehende Erblindung mit einer überlegenen Ruhe und Würde zu tragen. Es war sein Stolz, daß er trotz dieses Schicksals keine Vorlesung ausgesetzt oder es sonst an der Erfüllung seiner Pflichten hat fehlen lassen. Auch abgesehen von der ungeschwächten eigenen Forschung und Tätigkeit wollte er durch die Abfassung von elf kurzen Biographien erblindeter Männer von Bedeutung beweisen, daß man trotzdem etwas leisten könne.

So ist mit Loewy ein hervorragender Forscher, ein erfolgreicher Dozent, ein seltener Charakter dahingegangen.


Letzte Änderung: 24.05.2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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