Heinrich-Wolfgang Leopoldt / Antrittsrede 31.5.1980
Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Quelle: Jahrbuch 1980 / Heidelberger Akademie der Wissenschaften, S. 67-70
UB-Signatur: ZSA 889 B::1980

Heinrich-Wolfgang Leopoldt

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Sie haben mich in Ihren Kreis gewählt. Ich bedanke mich für diese Auszeichnung! Es ist jetzt meine Aufgabe, mich Ihnen kurz vorzustellen: Ich heiße Heinrich-Wolfgang LEOPOLDT und gehöre zu jenem Jahrgang, der bei Ausgang des Krieges siebzehn war, anderthalb Jahre Kriegsdienst in verschiedenen Rollen absolviert hatte, dem aber ebensoviele Jahre — und noch etwas mehr — fehlten, um die Schulzeit regulär zu beenden. Ein Zufall, der mitbestimmend wurde für den später eingeschlagenen Weg. Doch ich greife vor.

Aufgewachsen bin ich in Schwerin in Mecklenburg, wo mein Vater als Beamter im Verwaltungsapparat des Landes tätig war. Hier, im benachbarten Holstein und in der Altmark, einer besonders sandigen Ecke der Mark Brandenburg, lebten die Vorfahren von der Landwirtschaft in meist sehr einfachen Verhältnissen. Meinem Vater, der gerade für Vorgänge aus lange vergangenen Erdzeitaltern oder an weit entfernten Sternsystemen ein ganz besonders reges Interesse zeigte und sich hier auch ein beträchtliches Wissen angelesen hatte, verdanke ich wohl die ersten Anstöße auf dem Weg in die Wissenschaft.

Nach dem Kriege gab es wohl für jeden Umwege; für mich sah das so aus, daß ich — da keine Aussicht zu bestehen schien, das ersehnte Studium der Chemie bald aufnehmen zu können — eine Lehre als Drogist begann. In diese Zeit fiel ein Ereignis, das für die spätere Wahl des Studienfachs bestimmend wurde: ein früherer Lehrer, der mit dem Ende des Krieges stellungslos geworden war und mit dem ich mich zu regelmäßigem Musizieren traf, erbot sich, mir mathematischen Privatunterricht zu geben. Er hatte früher Astronomie studiert, und war — um seine Zeit sinnvoll zu verbringen — dabei, eine Anleitung für Historiker zu verfassen, wie man Finsternisse berechnet und für Fragen der Datierung verwenden kann. Dieser Unterricht wurde ein parforce-Ritt durch die Anfangsgründe der Analysis, der in kurzer Zeit bei der Berechnung von Finsternissen landete. Als sich die Unternehmung noch stärker auf die Physik zubewegte, stieg ich aus, ging in die Staatsbibliothek, um mich zunächst einmal etwas gründlicher über die Mathematik zu informieren. Glücklicherweise fielen mir die Knoppschen Göschenbändchen über Funktionentheorie in die Hand. Ich schwitzte eine Weile über den Aufgaben und wußte sehr bald, es würde Mathematik sein — und nicht Chemie —, die ich studieren würde.

Inzwischen waren die Schulen wieder eröffnet, und die Universitäten sollten folgen. Ich brach daher die Lehre alsbald wieder ab, holte die fehlenden Schuljahre nach und begann nach einigem Hin und Her im November 1947 in Berlin zu studieren. Dort hörte ich Vorlesungen u. a. bei den Herren Dinghas, Grell, Hasse, Rembs, H. L. Schmidt, E. Schmidt und Schröder sowie zwei — mir als besonders eindrucksvoll in der Erinnerung lebendig gebliebene — Gastvorlesungen der Herren Knopp und F. K. Schmidt. Am nachhaltigsten beeinflußt wurden mein Studium und meine späteren Arbeiten jedoch von Helmut Hasse. Im Sommer 1948, zu Beginn meines zweiten Studiensemesters, begegnete ich ihm zum ersten Mal, und diese Begegnung wurde für mich entscheidend. Damals nahm Hasse seine Lehrtätigkeit in Berlin mit einer Vorlesung über ,,Elementare Zahlentheorie'' wieder auf. In der einführenden Doppelstunde sprach Hasse über sein persönliches Verhältnis zur Mathematik, über Mathematik als Kunst und insbesondere über die Verwandtschaft von Mathematik und Musik. Es war eine sehr persönliche Vorlesung, in die eingebettet auch jene Frage eine ganz natürliche Antwort fand, die mir damals als die wichtigste erschien: Im ersten Semester lernt man, wie man die Lösung eines vorgegebenen Problems findet, wie man den Beweis findet für einen vorgegebenen — wahren — Satz. Doch wie findet man diese wahren Sätze, die man hernach beweisen kann? Wie findet man überhaupt Sätze, die zu beweisen sich lohnt? Hasses Antwort lautete inhaltlich und stark vereinfacht etwa so: Er habe immer gefunden, daß sich eine mögliche Aussage über einen mathematischen Sachverhalt, die wirklich schön sei, auch stets als wahr erwiesen habe. Für mich als jungen Studenten war es das erste Mal, daß ein Mathematiker es versuchte, diese zentrale Frage zu beantworten, die niemand sonst zu stellen schien. Nach dieser Stunde war für mich klar, daß ich mich vor allem mit der Zahlentheorie beschäftigen mußte. Natürlich verdanke ich Hasse noch sehr viel mehr als nur diese etwas gestrenge Elle, mit der er mich so von Anfang an ausstattete.

In jenen Jahren beschäftigte sich Hasse u. a. mit einer systematischen Untersuchung der abelschen Zahlkörper. Das Zentrum der Untersuchung lag bei einer Formel, welche diesen Bereich der Zahlentheorie beherrscht, der Klassenzahlformel. Aus analytischer Quelle stammend ist sie insoweit leicht zu verstehen. Sie setzt jedoch rein arithmetische Größen in Beziehung zueinander, die — und das ist der Stachel bei der Sache — anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Die Aufgabe, diese merkwürdige Formel besser verstehen zu lernen, reizte mich sehr. So habe ich mich dann an jener Untersuchung beteiligt und sie später weitergeführt. Auf einem langen und etwas verschlungenen Wege hat sie zu Resultaten geführt, die kaum weniger merkwürdig zu nennen sind als der Ausgangspunkt. Doch damit greife ich weit vor.

Als jüngster einer kleinen Gruppe von Studenten war ich Hasse im Wintersemester 1950/51 nach Hamburg gefolgt und promovierte dort 1954. Es folgte die Assistentenzeit in Erlangen, unterbrochen durch eine unvergeßliche Zeit ungestörter Arbeit am Institute for Advanced Study in Princeton von Herbst 1956 bis in den Sommer 1958, welche die Realisierung der geplanten Untersuchungen außerordentlich beförderte. 1959 folgte die Habilitation in Erlangen, 1962 der Wechsel nach Tübingen, wiederum unterbrochen durch eine Gastprofessur 1963/64 an der Johns Hopkins University in Baltimore. Im Frühjahr 1964 kam dann gleichzeitig mit einem Angebot aus Baltimore der Ruf nach Karlsruhe. Soweit vorerst der äußere Lauf der Dinge.

Meine Untersuchungen der abelschen Zahlkörper waren inzwischen weit gediehen, viel weiter, als ich es ursprünglich erhoffte. In ihrem Kernstück, den von der Klassenzahlformel aufgeworfenen Fragen, hatte es dagegen gewichtige Verschiebungen gegeben. Es war nicht gelungen, diese Formel ganz analysisfrei zu deuten. Aus meiner heutigen Sicht erscheint es mir zweifelhaft, ob das möglich ist. Es geschah eigentlich genau das Entgegengesetzte: die Rolle der Analysis im Verständnis dieser Formel vergrößerte sich. Ich hatte eine andere Spur verfolgt und ein altes isoliertes Resultat von Kummer in seiner Bedeutung aufzuklären versucht, das Klassenzahlprimteiler in einem sehr speziellen Fall mit Bernoullischen Zahlen in Verbindung brachte. Am Ende führte dies dazu, daß sich auch das Kummersche Resultat am einfachsten als ein spezieller Fall einer ersten Annäherung einer weiteren analytischen Klassenzahlformel deuten ließ. Allerdings war es dazu nötig, die klassische Analysis zu verlassen und im Rahmen der p-adischen Analysis zu arbeiten, die damit wohl ihre erste Anwendung auf ein wirklich globalzahlentheoretisches Problem fand. Für jede Primzahl p gewinnt man so ein p-adisches Gegenstück zur ursprünglichen Formel, die hier in das Spektrum der p-adischen Klassenzahlformeln zerlegt erscheint wie durch ein Prisma das Sonnenlicht in seine Farben.

Diese Formeln warfen viele neuartige und z. T. weitreichende Probleme auf. Ansätze für eine Lösung auf theoretischem Wege waren damals noch nicht sichtbar. Deshalb entschied ich mich dafür, diese Untersuchungen durch das Studium kritischer Beispiele zu vertiefen. Dies war zugleich die Entscheidung für Karlsruhe als künftigen Ort meines Wirkens, da dort die nötigen Großrechenanlagen vorhanden waren und es auch an Aufgeschlossenheit für eine derartige Verwendung nicht fehlte.

Eine diffizile Fragestellung beispielsweise aus der algebraischen Zahlentheorie numerisch-experimentell zu untersuchen, ist wertvoll für die Theorie, insbesondere wenn daraus der Keim erwächst für ihre Erweiterung. Dem Ausführenden einer solchen Untersuchung gibt sie zudem eine Erfahrung im Umgang mit Rechenanlagen, die er in keinem Programmierkurs erlernen kann. Da sich das Interesse der Forschung hier in solcher Weise mit dem Interesse des Studierenden vereinigt, habe ich die Umstellung auf numerisch-experimentelle Untersuchungen zur Zahlentheorie bewußt und von Anfang an viel breiter angelegt, als der oben beschriebene Anlaß es erfordert hätte. Der Aufwand ist beträchtlich, doch hat sich der Kreis geschlossen: neue Theorien wurden entwickelt, deren Entstehung mir ohne ihre experimentelle Vorgeschichte unvorstellbar erscheint. Die Theorie der periodischen Kettenbruchentwicklungen in höheren algebraischen Zahlkörpern von W. Trinks ist herausragendes Beispiel dieser Art.

Mein verehrter Lehrer Helmut Hasse hat einmal provokativ die These aufgestellt, Mathematik sei eine Geisteswissenschaft. Nach dem Gesagten werden Sie verstehen, daß ich Mathematik stärker in der Nähe der Naturwissenschaften angesiedelt sehe. Es war mir jüngst ein großes Vergnügen festzustellen, daß auch E. E. Kummer, der die algebraische Zahlentheorie begründete, dieser Betrachtungsweise zuneigte.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.


Letzte Änderung: 12.01.2012     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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