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Helmut Wielandt / Antrittsrede 10.2.1962
Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. - Jahresheft 1961/62, S. 55-57
UB-Signatur: ZSA 889 B::1961-62

Herr Wielandt

Für die Ehre, die mir die Akademie durch die Wahl zum ordentlichen Mitglied hat zuteil werden lassen, fühle ich mich aus einem persönlichen Grund zu besonderem Dank verpflichtet; gibt sie mir doch eine unmittelbare Beziehung zu einer Stadt, der mehrere meiner Vorfahren gedient haben. Einer von ihnen war vor hundert Jahren hier Bezirksgeometer; von ihm mag meine Mutter die Neigung zur Mathematik gehabt haben, die sie dann an mich weitergegeben hat.

Geboren wurde ich als Sohn des Pfarrers in einem Dorf des Markgräfler Landes; aufgewachsen bin ich in Berlin. Die Abschnitte des wissenschaftlichen Weges sind rasch aufgezählt: Studium der Mathematik und Physik an der Berliner Universität, Promotion 1935, Mitarbeit in der Schriftleitung des Jahrbuchs über die Fortschritte der Mathematik, Assistententätigkeit und Habilitation in Tübingen; während der zweiten Hälfte des Krieges Arbeit an der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen, 1946 Extraordinariat für Mathematik in Mainz, 1951 Ordinariat in Tübingen.

Die nachhaltigsten Eindrücke meines Studiums verdanke ich den Vorlesungen von Erhard Schmidt und Issai Schur. Ihre Darstellungsarten zu vereinigen, steht mir als ein freillich wohl unerreichbares Ziel vor Augen. Während Schmidt seinen Hörern das Gefühl gab, das tastende Herauswachsen einer mathematischen Gedankenreihe aus einem Problem unmittelbar mitzuerleben, trug Schur abgeschlossene Theorien in kristallklarer Form vor, bis ins Letzte geschliffen.

Einem Semiar von Schur verdanke ich die Anregung zur Beschäftigung mit meinem ersten Arbeitsgebiet, den Permutationsgruppen. Ihre Theorie war damals nahezu abgestorben. Im vorigen Jahrhundert entwickelt, wurde sie um die Jahrhundertwende von der allgemeiner anwendbaren Theorie der abstrakten endlichen Gruppen so vollständig verdrängt, daß um 1930 selbst wichtige Ergebnisse praktisch vergessen waren - wie ich glaube zu Unrecht. Die Permutationsgruppen sind auch heute noch ein kraftvolles Hilfsmittel zur Beschreibung und Untersuchung der Symmetrien endlicher Bereiche, und auch im Rahmen der abstrakten Theorie der endlichen Gruppen erfüllen sie eine wohlbestimmte Aufgabe. Seit meiner Dissertation bin ich immer wieder einmal zu diesem reizvollen, mit Zahlentheorie, Kombinatorik und endlichen Geometrien eng verflochtenen Fragengebiet zurückgekehrt; es blüht jetzt auch in anderen Ländern wieder auf.

Die Arbeiten über Permutationsgruppen führte mich zwangsläufig zur Beschäftigung mit der Strukturtheorie endlicher Gruppen. Auch diese Theorie war in den zwanziger Jahren aus Gründen, über die ich noch zu sprechen haben werde, stark zurückgedrängt worden. Doch hatten Philip Halls grundlegende Arbeiten sie schon wieder belebt. Während Hall von arithmetischen Fragen und Produktzerlegungen ausging, wurden meine eigenen Arbeiten durch eine andersartige Frage von Robert Remak ausgelöst: Ist das Erzeugnis zweier Untergruppen, die in Kompositionsreihen auftreten, stets von derselben Art? Die Erkenntnis, daß diese Frage zu bejahen ist, baute ich in meiner Habilitationsschrift zu einer eingehenden Untersuchung der Normalstruktur endlicher Gruppen aus. Viel später erst gaben sich überraschend enge Beziehungen zur arithmetischen Struktur und den Produktzerlegungen. Die damit erreichte Verbindung zur Theorie von Hall eröffnet aussichtsreiche Problemkreise.

Die gruppentheoretischen Arbeiten wurden für mehrere Jahre unterbrochen, als ich während der zweiten Häfte des Krieges bei der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen Schwingungsprobleme zu bearbeiten hatte. Ich verdanke dieser Zeit wertvolle Erfahrungen: Einerseits die Verwendbarkeit abstrakter Hilfsmittel zur Lösung konkreter Aufgaben, andererseits die dem reinen Mathematiker unerwartete Schwierigkeit und ungewohnte Verantwortlichkeit bei der numerischen Auswertung. Es handelte sich um die Abschätzung von Eigenwerten nicht selbstadjungierter Differentialgleichungen und Matrizen. Ich griff die allgemeinere Aufgabe an, eine metrische Spektraltheorie zu entwickeln, und zwar zunächst für endlich komplexe Matrizen; von den Ergebnissen ist erst wenig veröffentlicht. Nebenbei entstand eine topologiefreie Spektraltheorie einer gewissen Klasse von Operatoren; auch sie ist nur zum Teil veröffentlicht. Ich hoffe, auf diese Dinge zurückkommen zu können, wenn meine algebraischen Arbeiten einen gewissen Abschluß erreicht haben.

Zum Schluß dieses Berichtes sind vielleicht einige Worte darüber angebracht, wie sich meine Arbeiten in die allgemeine Entwicklung einordnen. Die große Entwicklungslinie der Mathematik isst seit einigen Jahrzehnten gekennzeichnet durch das Eindringen der axiomatischen Methode in immer weitere Teilgebiete. Das Ziel ist die deduktive Herleitung der gesamten Mathematik aus ganz wenigen Grundprinzipien, wie Anordnung und Stetigkeit. Durch eine verstärkte Wendung ins Abstrakte ist eine umwälzende Vereinheitlichung der Mathematik erreicht worden, die übrigens allmählich auch in den Schulunterricht übergreifen muß. Gewissermaßen sind Gebiete der Mathematik, die früher kaum auf Fußwegen zu erreichen waren, jetzt durch Autobahnen verbunden. Zu dieser bedeutenden Entwicklung habe meine Arbeiten nichts beigetragen, außer allenfalls den kürzlich unternommenen Versuch, die Theorie der Permutationsgruppen von der Beschränkung auf endliche Gruppen zu befreien. Zwar erreichte der von Göttingen ausgehende Impuls der abstrakten Algebra Berlin gerade zu meiner Studienzeit, und die Erkenntnis der Tragweite der axiomatischen Methode faszinierte mich ebenso wie meine Studiengenossen. Aber ich vermochte nicht die verbreitete Ansicht zu teilen, das sei künftig die allein seligmachende Arbeitsrichtung. Wie alle großen deduktiven Systeme schien mir auch dieses von der Gefahr bedroht, solche Probleme, die nicht recht hineinpassen, als uninteressant abzutun, während sie doch im Gegenteil dazu anreizen sollten, die Ausgangsbasis zu verbreitern. Daß dieser Standpunkt nicht ganz unberechtigt war, hat, glaube ich, die Entwicklung der Theorie der endlichen Gruppen gezeigt. Dieser Fragenkreis erwies sich in seinen Einzelheiten dem umfangreichen für die axiomatische Methode entwickelten Begriffsapparat schwer zugänglich und verlor das Interesse der Gruppentheoretiker, die sich meist den unendlichen, besonders den stetigen Gruppen zuwandten. Von Hall und anderen durch die klassischen Methoden und Fragestellungen wieder belebt, hat jedoch die Theorie der endlichen Gruppen eine wenn auch isolierte, so doch in den letzten Jahren fast dramatische Entwicklung durchgemacht. Dieses Fragengebiet erscheint mir, um in dem vorhin gebrauchten Bild zu bleiben, als ein bergiges Gelände, das von Autostraßen noch nicht berührt wird und zu Fuß erwandert werden muß. Aber auch das hat seinen Reiz. Und die hübschen Überraschungen, die man dabei erlebt, können einen für die gelegentlich etwas mitleidigen Blicke der Autofahrer entschädigen.

Das wäre freilich nur eine subjektive Rechtfertigung für die von mir gepflegte Arbeitsrichtung. Aber es ist unverkennbar, daß diese Fragen über endliche Gebilde auch noch in anderen Teilgebieten der Mathematik wieder stärker in den Vordergrund treten, z. T. infolge der zunehmenden Verwendung von Rechenmaschinen. Ich bin davon überzeugt, daß die „endliche“ Richtung sich im Verlauf einiger Jahrzehnte wieder mit der Hauptströmung vereinigen wird.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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