Artur Rosenthal
S. 70-73, S. 155-156 und S. 274-176 aus
Mußgnug, Dorothee:
Die vertriebenen Heidelberger Dozenten : zur Geschichte der
Ruprecht-Karls-Universität nach 1933. - Heidelberg : Winter,
1988. - 300 S.
Signatur UB Heidelberg: LA-K-9787
S. 70 - 73
Artur Rosenthal (geb. 24. Februar 1887 in Fürth, gest.
15. September 1959 in Lafayette, Ind.) war nach Promotion und
Habilitation (1912) in
München(111)
1922 als planmäßiger ao
Professor nach Heidelberg gekommen. Nachdem er einen Ruf nach
Gießen abgelehnt hatte, wurde ihm 1930 an der Heidelberger
Fakultät das neu errichtete zweite Ordinariat für (angewandte)
Mathematik übertragen. 1932 war das Dekanat an ihn gefallen. Am
18. April 1933 legte er es "mit Rücksicht auf die politische Lage"
nieder und übergab die Geschäfte dem Chemiker Karl Freudenberg.
Auf das Rücktrittsgesuch antwortete Freudenberg: "… mit
aufrichtigem Bedauern sehen wir Sie aus dem Dekanat scheiden, das
wir bei Ihnen in besten Händen wußten". Die
Fakultät werde in unveränderter Weise das Vertrauen zu ihm
bewahren(112).
Da Rosenthal sich als Frontkämpfer ausweisen
konnte, kam 1933 eine Versetzung in den Ruhestand "nicht in
Betracht". Nach dem Hochschullehrergesetz vom 21. Januar 1935
wollte das Kultusministerium auch in der
Naturwissenschaftlichen Fakultät "Ordnung" schaffen. In einem
Schreiben an das Reichserziehungsministerium vom 3. April bat es
darum,
Rosenthal an eine nicht-badische Hochschule zu versetzen: zwei
nichtarische Mathematiker sei für die Universität Heidelberg "zu
schwierig"(113).
Der Boykott gegen ihn wurde seit dem 17. Mai 1935
betrieben. Rosenthal bezog seinen kranken Fachkollegen Liebmann
in den folgenden Verhandlungen mit den Karlsruher und Berliner
Ministerien immer mit ein. Der Rektor erklärte beiden
beschwichtigend (24. Mai 1935): "Der Wiederaufnahme der
Vorlesungen, die kürzlich gestört und deshalb vorläufig
ausgesetzt wurden, steht nichts im Wege". Er werde künftig gegen
Ordnungsverstöße einschreiten. In seinem Schlußsatz nahm er seine
Zusagen jedoch wieder zurück, denn er bekräftigte darin:
"Den Bestrebungen des Nationalsozialistischen Deutschen
Studentenbundes als einer Gliederung der NSDAP
entgegenzutreten,
wäre mit meiner nationalsozialistischen Haltung
unvereinbar"(114).
Rosenthal schilderte die Vorgänge dem Rektor Groh ganz
ausführlich, unterrichtete ihn auch darüber, daß die studentische
Fachschaft Parallel-Vorlesungen und Übungen eingerichtet habe,
die von Assistenten abgehalten würden. "Ein Kollege der
Medizinischen Fakultät (hat) seinen Hörsaal zur Verfügung
gestellt". Rosenthal nannte dem Rektor alle Assistenten beim
Namen, die diese "Ersatz"- Vorlesungen und Übungen in der
Pharmakologie abhielten. "Es wird … unter Benutzung
staatlicher Einrichtungen und unter Beteiligung staatlich bezahlter
Personen die gegen uns unternommene Aktion neuerdings
verschärft"(115).
Seine
Studenten bedauerten zwar den Boykott, die Mehrzahl sei jedoch
nicht imstande, dagegen Widerstand zu leisten. Konkrete
Vorwürfe gebe es nicht, es werde lediglich daran Anstoß
genommen, daß Herr Liebmann und er als Nichtarier prüfen
dürften. "Ich fühlte mich im Interesse der Autorität der
Universität verpflichtet, den schweren und unter den gegebenen
Verhältnissen vielleicht von vornherein aussichtslosen Kampf
gegen jene Aktionen des
Studentenbundes durchzufechten". Im Einverständnis mit Rektor
und Hochschulreferent hätte er Kontakt mit dem
Reichserziehungsministerium aufgenommen, um mit dessen
Unterstützung den Kampf fortzusetzen. Die zunächst in Berlin
zugestandene Unterredung wurde abgesagt, da eine Reise nach
Berlin noch "verfrüht" sei. Am 1. Juni wurde sie sogar als
"zwecklos"
verworfen. Man empfahl vielmehr beiden Mathematikern, ihr
Emeritierungsgesuch
einzureichen(116).
"Dem Ansuchen entsprechend"
wurde Rosenthal im August 1935 von seinen Amtspflichten zum
Jahresende
entbunden(117).
S. 155 - 156
Der Mathematiker Artur Rosenthal blieb nach seiner
Emeritierung(118)
zunächst in Heidelberg, denn auch für ihn war es
außerordentlich schwierig, eine Stelle im Ausland, besonders in
den USA zu
finden(119).
Während
dieser Zeit erhielt er
(reduzierte) Emeritierungsbezüge. In der "Reichskristallnacht"
wurde er in "Schutzhaft" genommen und 4 Wochen lang im KZ
Dachau festgehalten (9.11.1938 - 10.12.1938). Im März 1939 stellte
er einen Antrag auf Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland
"unter Weiterzahlung der mir zustehenden Versorgungsbezüge als
em. o. Professor". Er wolle zunächst nach Holland, die
Aufenthaltsgenehmigung dafür sei ihm bereits erteilt. Zudem sei er
für ein Jahr — allerdings ohne Bezahlung — nach Princeton
eingeladen(120),
weshalb er im Anschluß an den Besuch in Holland
endgültig nach den USA übersiedeln wolle. "Demgemäß wäre es
mir, da ich Jude bin, sehr erwünscht, sobald als irgend möglich
auswandern zu können". 11 Tage später erhielt er vom
Reichserziehungsministerium die Genehmigung zum
Auslandsaufenthalt "einstweilen bis 31.3.1941". Wegen der
Devisenbewirtschaftung wurde ihm in Karlsruhe geraten, ein
"Sonderkonto
Versorgungsbezüge" einzurichten, auf das sein Gehalt überwiesen
werden
könnte. Mit 10 RM reiste Rosenthal am 27. Juli 1939 in Holland
ein. Von dort erreichte er mit einem Non-Quota-Visum im März
1940 die USA. Seine gesamte Bibliothek verlor er, bevor sie aufs
Schiff gebracht werden konnte, bei einem Luftangriff auf
Rotterdam(121).
1941 bat er um Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis, die ihm für ein weiteres Jahr
zugestanden
wurde. Der Bescheid kam jedoch von der Post an das
Ministerium zurück (er war in Berlin (!) geöffnet worden) mit
dem
Vermerk: "Leitung jetzt nur über Lissabon-New York (brit.
Zensur). Wenn Versendung auf diesem Weg trotzdem gewünscht,
erneute Auflieferung am Postschalter". Der Brief konnte nach
Auskunft des Auswärtigen Amts nicht mehr weitergeleitet
werden. Bis Juni 1941 wurden Rosenthal deutsche Bezüge
ausbezahlt(122).
Seine Sorge galt jedoch vor allem seiner 1939
73jährigen Mutter. Er hatte ihr zwar noch 1939 ein englisches.
Visum beschafft, doch nach dem Kriegsausbruch konnte sie
davon keinen Gebrauch mehr machen. Im Oktober 1940 wurde
sie
mit nahezu 75 Jahren in das KZ Gurs nach
Südfrankreich(123)
transportiert. Nach 5 Monaten gelang es Rosenthal, sie von dort
frei zu bekommen und im Dezember 1941 nach USA zu bringen.
Bis 1941 war Rosenthal "lecturer" und "research fellow" in
Michigan gewesen. 1942 wurde er an der University of New
Mexico in Albuquerque zunächst lecturer, dann assistant
professor, 1946 zum associate Professor ernannt. Seit 1945 besaß er
die Staatsbürgerschaft der USA.
S. 274 - 276
Artur Rosenthal lebte seit 1942 in Albuquerque (New
Mexico). 1947 wurde er Professor für Mathematik an der Purdue
University in Lafayette (Indiana). Da er als Emeritus aus dem
Universitätsdienst entlassen worden war, meldete er sich bald nach
dem Krieg in Karlsruhe, um seine Bezüge als Emeritus zu
erhalten(299).
In ihrer Antwort (September / November 1948) bezog
sich die Finanzabteilung in Karlsruhe auf einen Erlaß des
Finanzministeriums Stuttgart (17. Juli 1947): bis zu einer
gesetzlichen Regelung sollte zunächst nur eine vorläufige
Wiedergutmachung (ab 1. Mai 1945) geleistet werden:
Geldentschädigungen für die weiter zurückliegende Zeit wurden
zunächst
ausgeschlossen. "Als Wiedergutmachung soll der beamtenrechtliche
Zustand wiederhergestellt werden, der ohne die ungerechten
nationalsozialistischen Maßnahmen bestehen würde". "Sofern (die
Beamten) nicht wieder in den öffentlichen Dienst gestellt
werden", sollten sie ab 1. Mai 1945 rückwirkend, gegebenenfalls
angehobene Versorgungsbezüge erhalten. Über der
Währungsreform ruhte das Verfahren. Als 1949 das Heidelberger
Ordinariat für Mathematik neu besetzt werden mußte, bestand das
Ministerium darauf — obgleich Rosenthal inzwischen
amerikanischer Staatsbürger geworden war —, ihm den Lehrstuhl
anzubieten(300).
Wer die Altersgrenze noch
nicht erreicht habe, dem
"ist tunlichst die Gelegenheit zu bieten, wieder im öffentlichen
Dienst verwendet zu werden bzw. Verwendung anzunehmen, wenn
ihm dies nach den Verhältnissen zugemutet werden kann". Dieser
Weisung entsprechend, bot der Dekan Klaus Schäfer
Rosenthal den freien Lehrstuhl an. Ohne weitere Begründung lehnte
Rosenthal ab. Das Ministerium entschied daraufhin: Nach dem
Verzicht komme Wiedergutmachung nicht mehr in Frage, "da er
ledig ist und auch sonst keine persönlichen Verhältnisse geltend
gemacht werden können, auf Grund derer ihm die Rückkehr nach
Deutschland nicht zugemutet werden
könnte"(301).
Nach diesem Bescheid schaltete sich der Rechtsanwalt ein
und klärte das Ministerium über die Verfolgung, die Rosenthal
erlitten hatte, auf. Rosenthal habe nach anfänglichen großen
Schwierigkeiten sich nun in USA eine neue Position aufgebaut. Mit
seiner dortigen Professur seien jedoch keine
Pensionsansprüche verbunden, Rosenthal werde nach seiner
Pensionierung lediglich eine kleine Rente erhalten und benötige
deshalb die deutschen Wiedergutmachungsgelder. Rosenthal äußerte
sich selbst zu dem an ihn ergangenen Heidelberger Ruf (undatierte
Briefabschrift): "Da die überwiegende Mehrzahl der
gegenwärtigen deutschen Studenten bis vor 4 Jahren im Nazi-Geist
erzogen wurden und unter dem ausschließlichen Einfluß der
intensivsten Nazi-Propaganda gestanden haben, kann ich mir nicht
vorstellen, wie mir — als Juden — ein reibungsloses
Zusammenarbeiten mit dieser Generation von Studenten und
… eine ersprießliche Lehrtätigkeit an einer deutschen
Universität möglich sein könnte.
… Ich glaube nicht, daß irgend jemand mir zumuten könnte,
zum Zwecke der Übernahme eines öffentlichen Amtes nach
Deutschland zurückzukehren". Bei dem Dekan bedankte er sich für
den Ruf; aber "während der letzten Zeit meiner Tätigkeit an der
Heidelberger Universität und insbesondere danach hat zu viel
Schlimmes sich ereignet, das ich nicht vergessen kann und das mir
eine Rückkehr … unmöglich macht". Doch auch wenn er dem
Ruf nicht folge, werde er "aus der Ferne die hoffentlich stets
günstige Weiterentwicklung der altehrwürdigen Universität mit
Interesse verfolgen". Im Januar 1950 bescheinigte die
Karlsruher Behörde, Rosenthal sei die Rückkehr nicht zumutbar.
Ihm wurde 1953 (rückwirkend ab 1. April 1949) die Rechtsstellung
eines von seinen amtlichen Verpflichtungen entbundenen
ordentlichen Professors der Universität Heidelberg zugesprochen.
Rosenthal unternahm verschiedene Reisen nach Europa. Er
besuchte dabei auch mehrmals seinen Heidelberger Nachfolger,
Herbert
Seifert(302).
Die Fakultät gewann ihn sogar für einen Gastvortrag (11.
Juni
1958)(303).
Doch noch ehe die Beziehungen zur Universität Heidelberg
wieder enger geknüpft wurden, starb Rosenthal völlig unerwartet (15.
September
1959)(304).
Anmerkungen:
111)
UAH A 219/Rosenthal; Die Schreibweise des Vornamens auch Arthur. Poggendorff
VII a 3 (1959) 814; Drüll, 223.
112)
UAH Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät, Verhandlungen
1932/33. Vgl. dazu D. Mußgnug, Anhang zu Karl J. Freudenbergs
Lebenserinnerungen, in: Heidelberger Jahrbücher (1988).
113) GLA 235/2211 Liebmann.
114)
UAH Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät, Verhandlungen
1934/35 II.
115)
So in einem von ihm und Liebmann unterzeichneten Brief vom 29.5.1935 an den
Rektor, in: UAH Naturwissenschaftlich-Mathematische Fakultät, Verhandlungen
1934/1935 II.
116) UAH A 219/Rosenthal.
117)
Das REM bestätigte nochmals (7.12.1935): Die Schwierigkeiten durch die beiden
von Nichtariern besetzten Lehrstühle konnten nur dadurch beseitigt werden, daß ihnen
die Entpflichtung nahegelegt worden sei; GLA 466/14840.
118) S.o. S.70; GLA 466/14840.
119)
Brief vom 21.2.1954 an v.Ubisch, UAH A 219/v.Ubisch.
120)
Es kam dann noch eine zweite Einladung an die
University of Michigan, die er
schließlich annahm.
121) IfZ MA 1500/50.
122) WG/EK 11077.
123) S. unten S. 172 Anm.171.
299)
Mit der Korrespondenz war ein Heidelberger Rechtsanwaltsbüro
beauftragt. Akten GLA 466/14840; vgl.o.S.155.
300) GLA 466/14860 und GLA 235/3755.
301)
Das Ministerium fuhr fort: "Als persönliche Verhältnisse" im Sinne dieser
Bestimmung sind … nicht die im Hinblick auf die Geschehnisse während des
Dritten Reichs aus moralischen Gründen möglichen Ablehnungen seitens der politisch
Verfolgten aufzufassen. Vielmehr wird es sich hierbei unter anderem um
Familienstand, Gesundheitszustand u.a.m. handeln". Die zu erwartenden
Durchführungsverordnungen würden darüber im einzelnen Aufschluß geben.
302)
Auskunft vom 11.6.1988; Fraenkel,
Lebenskreise, 85 berichtet von einer Reise in
die Schweiz.
303)
UAH B 7030/7; sein Thema: Integration in abstrakten Räumen.
304) Vgl. Otto Haupt, Artur Rosenthal, 89.
Redaktion:
Gabriele Dörflinger
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