2.6.35
An S. Magnifizenz den Herrn Rektor der Universität
Heidelberg, mit der Bitte um beschleunigte Weiterleitung an das
Badische Ministerium des Unterrichts und an das
Reichswissenschaftsministerium
Seit dem 17. Mai wird die Mehrzahl meiner Hörer durch den hiesigen N.S. Studentenbund veranlaßt, meinen mathematischen Vorlesungen und Übungen und gleichzeitig auch denen von Professor Liebmann fern zu bleiben. Kurz darauf ist die gleiche Aktion gegen fünf weitere Kollegen (drei Juristen, einen Nationalökonomen, einen Theologen) eingeleitet worden. Seit Beginn der letzten Woche ist das Vorgehen des Studentenbundes gegen uns Mathematiker noch dadurch verschärft worden, daß die naturwissenschaftliche Fachschaft drei Parallelkurse zu unseren Vorlesungen und Übungen ("Arbeitsgemeinschaften" genannt) in unseren Vorlesungsstunden eingerichtet hat, deren Leitung zwei Assistenten der Landessternwarte und ein Hilfsassistent des Mathematischen Instituts übernommen haben und wozu ein Kollege der Medizinischen Fakultät seinen Hörsaal zur Verfügung gestellt hat.
Es sei betont, daß meine Studenten, wie in den früheren Jahren, so auch in diesem Semester in dem denkbar besten Vertrauensverhältnis zu mir gestanden haben, daß die Hörer bis zum plötzlichen Ausbruch jener Aktion eifrig meine Vorlesungen besucht und sehr fleißig und interessiert in meinen Übungen und Seminaren mitgearbeitet haben. Von einem der Studenten wissen wir, daß ein Teil der Hörer es überaus bedauert, der genannten Aktion nachgeben zu müssen; aber es ist durchaus verständllich, daß diese Studenten nicht in der Lage sind, dagegen Widerstand zu leisten. Von der Universitätsführung wurde gegen das Vorgehen des hiesigen Studentenbundes nicht eingeschritten, was nach der Auffassung des Herrn Rektors gar nicht möglich war, da der Studentenbund dem Herrn Rektor nicht unterstellt ist. Es sei noch erwähnt, daß gegen uns Mathematiker kein persönlicher Vorworf erhoben wird, daß sich vielmehr alle Schwierigkeiten aus unserer Eigenschaft als "Nichtarier" ergeben.
Trotz jener Verhinderung der Mehrzahl unserer Hörer haben wir bisher vor einem kleinen Rest unserer Studenten weitergelesen; ich selbst durchschnittlich vor etwa 1/5 meiner Hörer. Ich fühlte mich im Interesse der Autorität der Universität verpflichtet, den schweren und unter den gegebenen Verhältnissen vielleicht von vornherein aussichtslosen Kampf gegen jene Aktion des Studentenbundes durchzufechten. Es war mir aber klar, daß dieser Kampf nur möglich wäre, wenn wir dabei auf die Unterstützung des Reichswissenschaftsministers rechnen könnten. Deshalb haben Herr Liebmann und ich am 29.5. Abd. im Einverständnis mit unserem Herrn Rektor und Herrn Ministerialrat Fehrle telegrafisch darum gebeten, von Herrn Ministerialdirektor Vahlen oder dem zuständigen Referenten des Reichswissenschaftsministeriums empfangen zu werden. Am 31.5. Nachm. erhielten wir den telefonischen Bescheid, daß wir die Reise nach Berlin noch nicht unternehmen sollten. Daraufhin und da es überhaupt zweifelhaft war, ob der ohne unser Verschulden zwischen uns und der Studentenführung entstandene Riß beseitigt werden könnte, haben am 1.6. Vormittag zuerst Herr Liebmann und sodann auch ich den Entschluß gefaßt, den Kampf aufzugeben und unsere Emeritierung zu beantragen. Wir wurden darin endgültig bestätigt durch eine von unserem Dekan, Herrn Prof. Vogt am 1.6. Abd. telefonisch mitgeteilte Nachricht: er habe mit Herrn Ministerialdirektor Vahlen gesprochen, unsere Reise nach Berlin sei nunmehr zwecklos und Herr Ministerialdirektor Vahlen empfehle Herrn Liebmann und mir unser Emeritierungsgesuch einzureichen. Das geschieht demnach hiermit:
Ich bitte das Reichswissenschaftsministerium um meine Emeritierung.
Siegmund-Schultze, Reinhard: Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. -
Braunschweig ; Wiesbaden, 1998
Anhang 3.3: Bericht Artur Rosenthals (Heidelberg) vom 2. Juni 1935
über den Boykott gegen seine und H. Liebmanns Vorlesungen
Redaktion: Gabriele Dörflinger
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