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Heinrich Liebmann
Rezension: Grosse Männer von Wilhelm Ostwald

Mitteilungen der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte. - Leipzig
7. Heft, 1910
7. Bücherbesprechungen, S. 118 - 120
UB-Signatur: B 208-8::6-7.1910
Große Männer von Wilhelm Ostwald. Leipzig 1909. Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. IX u. 424 S. 8.

Die zündende und manchmal auch versengende Beredsamkeit, mit der Roosevelt, der Träger des Nobelpreises, auf seinem Triumphzug durch die alte Welt von der Höhe des jugendkräftigen amerikanischen Kulturgefühls herab seine Meinung zum besten gab, ist noch in frischer Erinnerung. An ihn wird man unwillkürlich erinnert bei der Lektüre des vorliegenden Buches, in dem der berühmte Vertreter eines noch jugendlichen Wissenszweiges, der mit dem Nobelpreis gekrönte physikalische Chemiker Ostwald, vom Thron der allmächtigen Naturwissenschaft herab seine oft recht energisch (und energetisch) geformten Urteile mit jugendlichem Impuls vorträgt.

Es liegt uns ferne, bei naheliegenden Bedenken gegen seine Theorie des Heldenglücks wie überhaupt die von Boltzmann kritisierte Übertragung der Energetik auf das geistige Gebiet zu verweilen; auch müssen wir uns damit begnügen, die eingehenden aus umfangreichem Quellenstudium geflossenen Darstellungen von Leben und Werk der Forscher: Davy, Julius Robert Mayer, Faraday, Liebig, Charles Gerhardt, Helmholtz zu erwähnen, belebt durch die bald leise bald laut tönende Resonanz eigener Erfahrungen, denen sich die Charakteristik des urwüchsigen Physikers Boltzmann mit der Erklärung seines tragischen Untergangs (S. 401-407) und die der Wirksamkeit des von überragendem Pflichtbewußtsein geleiteten Franz Neumann, (S. 378) als wahre Kleinodien würdig an die Seite stellen. -

Ostwald unterscheidet zwei Typen von Genie's, den romantischen, frühreifen, im Protest gegen die Schule aufgewachsenen, denen das große Werk früh geliegt, die eine zündende Wirkung auf ihre Schüler haben. Ostwald feiert sie in einem hohen Lied auf die gemeinsame Arbeit von Schöpfer und Lehrling (S. 376), ist sich aber auch bewußt, daß der Romantiker manchmal „Kuckuckseier legt“ - und den zähen, langsamer reagierenden Klassiker, dessen Werk größere Lebensdauer haben kann, aber schwerer verstanden wird - ein „glatt geschliffenes Glas, das von der Säure weniger angegriffen wird, als rauhes“. Klassizismus und Romantizismus - Innungszwang und Gewerbefreiheit, dieses Parallele zog schon Goethe. (Freilich, mit Goethe's Wort: „Nur in der Schule selbst ist die eigentliche Vorschule“ würde Ostwald kaum einverstanden sein; vielmehr muß man sich nach seinen Ausführungen wundern, daß Deutschland trotz der Belastung der Jugend mit dem „durchaus unlogischen“ Material klassischer Sprachen, trotz „der Chineserei des Abiturientenexamens“ eine führende Rolle inne hat).

Hauptsächlich muß uns das Thema interessieren: Genie und Vererbung. Das wissenschaftliche Genie stammt im allgemeinen weder aus den Niederungen des Lebens, aus dem Proletariat, noch aus den Höhen der Aristokratie des Geldes oder der Geburt, vielmehr aus dem Mittelstand, Pfarrerfamilien, Gewerbetreibenden z. B. Oft ist die Richtung der Interessen schon vom Vater ererbt, der etwa Apotheker oder Arzt gewesen ist. Eine Familie bringt meist nur ein Genie hervor, es ist eben leider keine sprunghafte Variation, die eine neue Art begründet, sondern eine glücklich, einzeln dastehende Kombination der Erbelemente, die in dem begnadeten Individuuum „dominieren“. So sage Ostwald, nicht ganz im Sinne von Mendel, der übrigens mit Recht (S. 390) zu den mühsam arbeitenden und schwerverständlichen Forschern gerechnet wird, dem also bei der Anlage zum Klassiker doch das siegreiche Ringen nach Form fehlte. Dominierend nennen wir ja im Sinne von Mendel eine Erbanlage nicht etwa dann, wenn sie in dem Individuum hervortritt, sondern wenn sie sich in Übereinstimmung mit der (später auf dem Chromosomenschema begründeten) Theorie in dem bezeichneten Zahlenverhältnis auf die Blutsverwandten verteilt, wie der Aufsatz Seite 26 ff. dieses Heftes erläutert.

Übrigens läßt sich, wie Ostwald richtig bemerkt, auf eine so individuelle Erscheinung wie das Genie ein Massengesetz gar nicht anwenden.

Berauschender Optimismus, lebhafte Superlative zu Gunsten der Förderung des werdenden Genies - bleibt nur die Frage, wie man es erkennen soll; nicht jeder wird sich darin so sicher fühlen - und der Sicherstellung des nicht mehr ertragsfähigen, ohne daß es die junge Generation beengt. Dies gepaart mit nüchterner Betrachtung über die Gesetze des Vergehens, führt auf die sonnigen Höhen und tröstet über die dunkeln Tiefen des Forscherlebens.

Jedenfalls könnte das anregende, bedeutsame Werk als Zeugnis von des Verfassers Lehre gelten, daß der Forscher sich durch rechtzeitigen Wechsel des Arbeitsgebietes frisch erhalten kann und noch vieles zu sagen hat, beiläufig, wie Kundige andeuten, als erfreuliche Fortbildung von Ostwald's Lehre, mit frischer Kraft auch wieder über sein eigenes Fach.

Heinrich Liebmann.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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