Leo Koenigsberger: Ueber die Axiome der Mathematik.

Nachdem die Bedeutung des von Kirchhoff ausgesprochenen Satzes hervorgehoben worden, dass es die Aufgabe der Mechanik sei, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollkommen und auf die einfachste Weise zu beschreiben, stellt sich der Vortragende die Aufgabe, an den Axiomen der Geometrie und der Analysis nachzuweisen, dass die Mathematik auch nicht a priori zu begründen sei und als Erfahrungswissenschaft betrachtet werden müsse. Nachdem aus der Mannigfaltigkeit einer Dimension die Existenz der reellen ganzen Zahlen hergeleitet, die Operation der Addition definirt und der Satz der Unabhängigkeit einer Summe von der Reihenfolge der Summanden als Erfahrungssatz hingestellt worden, nachdem ferner die Multiplication als Operation eingeführt worden, vermöge welcher die Zahlen nicht wie bei der Addition aus der Einheit, sondern auseinander entstanden gedacht werden sollen, wobei die Unabhängigkeit eines Productes von der Reihenfolge der Factoren wieder als aus der Wirklichkeit entnommen erkannt wurde, trat die Frage auf, ob wir noch andere Zahlen als diejenigen, welche mit Hilfe der a priorischen Anschauung des „neben“ und „nach einander“ gefunden worden, durch Wiederholung ein und derselben geistigen Thätigkeit, ausgeübt an Objecten der sinnlichen Wahrnehmung, in die Arithmetik einzuführen berechtigt sind. Wenn man nach Gauß nicht Substanzen, sondern Relationen als das Gezählte betrachtet, so wird man auf neue Zahlengattungen geführt; aber die Zeit als Mannigfaltigkeit einer Dimension, ebenso wie die Linie, wird uns nur negative Zahlen liefern, für welche die Rechnungsregeln wieder nur aus der Erfahrung mit Hilfe der erweiterten Definition einer geometrischen Summe und eines geometrischen Productes sich herleiten lassen, wobei zu beachten, dass als nothwendige Bedingung für die Einführung neuer Zahlengattungen die festzuhalten ist, dass die Regeln der Addition und Multiplication, die für positive ganze Zahlen gelten, erhalten bleiben müssen.

Um weitere Zahlengattungen zu finden, wurde in Kurzem eine Betrachtung der Axiome der Geometrie vorausgeschickt, wie sie von Riemann und Helmholtz entwickelt worden. Die Durchführung einer Geometrie im Euclid'schen Sinne wurde nur für Flächen constanten Krümmungsmaasses statthaft gefunden, aber es zeigte sich, dass die Axiome von einer geodätischen Linie zwischen zwei Punkten und einer zu einer geodätischen Linie parallelen geodätischen Linie zum Theil für die Flächen constanten positiven, zum Tneil für die Flächen constanten negativen Krümmungsmaasses unrichtig werden. Für Mannigfaltigkeiten von mehr als zwei Dimensionen wurde die von Riemann hervorgehobene quantitative Vergleichbarkeit der Linien verschiedener Richtungen und die von Helmholtz statt des bestimmten analytischen Ausdruckes des Bogenelementes geforderte Verschiebbarkeit der Körper im Räume mit drei oder mehr Dimensionen besprochen; die Verallgemeinerung der mathematischen Begriffe des Krümmungsmaasses auf mehr als zwei Variable liefert für den Raum, in dem wir leben, einen verschwindenden Werth des Krümmungsmaasses, und der Beweis, dass dieser Werth Null ist, lässt sich mit dem Beweise der Euclid'schen Axiome identificiren; daher werden nach Riemann und Helmholtz, so wenig als ein Beweis von der Unendlichkeit des Krümmungsradius unseres Raumes möglich ist, die Euclid'schen Axiome sich beweisen lassen. Nachdem diese Erweiterung des Raumbegriffes besprochen und noch besonders hervorgehoben worden, dass es sich nicht um eine Erweiterung des geometrischen Raumhegriffes handle, und diese Untersuchung die rein philosophische Frage nach der Natur des Raumes in keiner Weise berühre, sondern nur als eine analytische Untersuchung aufzulassen sei, bei der man sich gewisser Worte bediene, welche für specielle Fälle jener allgemeinen Untersuchung auch die Bezeichnung für unsere geometrischen Raumbegriffe bilden, wurde die Frage aufgeworfen, ob man nunmehr, wenn nicht mehr Längen von Linien gezählt, sondern auch die Richtungen derselben in Betracht gezogen werden, zu neuen Zahlenklassen gelangen kann. Von dem Gauß'schen Satze ausgehend, dass, wenn man auf irgend einer Fläche von einem Punkte aus unendlich viele geodätische Linien zieht und gleiche Längen auf denselben abträgt, das Continuum dieser Endpunkte eine Curve liefert, welche auf all den einzelnen geodätischen Linien senkrecht steht, kann man mit gehöriger Erweiterung des Begriffes der geometrischen Summe zu complexen Zahlen gelangen, die aus zwei irreductibeln Einheiten zusammengesetzt sind, aber es zeigt eine einfache Betrachtung, dass der für reelle Zahlen geltende Satz von der Unveränderlichkeit einer Summe bei der Vertauschung der Summanden hier nicht mehr giltig bleibt; nur wenn die Mannigfaltigkeit zweier Dimensionen eine ebene Mannigfaltigkeit ist, bleibt er bestehen und die so gezählten Relationen liefern die complexen imaginären Zahlen, auf die sich auch die erweiterte geometrische Multiplication anwenden lässt, Geht man zu Mannigfaltigkeiten von drei Dimensionen über, so gelangt man für solche, in denen Linien verschiedener Richtungen in Bezug auf ihre Länge mit einander verglichen werden können, zu complexen Zahlen, welche aus drei irreductibeln Einheiten bestehen, aber man sieht leicht, dass selbst im ebenen Raume von drei Dimensionen die Zahlen nicht mehr den von uns als nothwendig hingestellten Bedingungen genügen, indem freilich jener Satz der Unabhängigkeit der Summe von der Reihenfolge der Factoren noch erhalten bleibt, die Grundregeln der Multiplication jedoch nicht mehr erfüllt sind. Somit ist der Kreis der in die Arithmetik einführbaren Zahlen geschlossen, und nur, wenn wir ihn auf Grund der oben aufgestellten Bedingungen schliessen, werden wir mit Hilfe der aus der Erfahrung entnommenen Axiome und der aus der Beobachtung der Natur abstrahirten logischen Gesetze, zu denen auch die arithmetischen Operationsregeln gehören, beim Uebertragen von mathematischen Resultaten auf die Erscheinungswelt wieder auf völlige Uebereinstimmung mit der Natur stossen. Schliesslich wurde noch ein flüchtiger Blick auf die Zusammensetzung von unabhängigen Variabeln zu Functionalbeziehungen geworfen, gezeigt, dass nur, wenn wir eine unendliche Anzahl von arithmetischen Operationen zulassen, wir zu anderen Functionen als ganzen algebraischen geführt werden, und besonders hervorgehoben, dass in diesen neuen Gebilden Sätze, wie die der Unabhängigkeit einer Summe von der Reihenfolge der Summanden nicht mehr richtig sind, überhaupt hier, wo die Erfahrung uns verlässt, besondere Vorsicht nöthig ist; in diesen Gebilden erhalten wir neue Aufschlüsse über die Stetigkeit und Unstetigkeit der Functionen, durch diese treten Fragen an uns heran, wie die von der Existenz des Differentialquotienten oder der Tangenten der Curven, welche zu den schwierigsten der Analysis gehören und gerade jetzt das Interesse der bedeutendsten Mathematiker in Anspruch nehmen.


S. 41-42 aus
Sitzungs-Berichte der naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis in Dresden. - Dresden. - Jahrgang 1876 (1877)
Signatur UB Heidelberg: O 45::1874-76


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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