Leo Koenigsberger über Otto Hesse

Aus den Erinnerungen Leo Koenigsbergers   Mein Leben.

Kapitel Greifswald 1864-69

Nachdem ich noch, wie immer, die Ferien in meinem elterlichen Hause zugebracht, eilte ich nach Heidelberg, das ich bisher nur einmal auf meiner ersten Reise in die Schweiz in Gesellschaft von Usener gesehen — damals wollte ich Hesse besuchen, den ich jedoch nicht antraf, und auf der Neckarbrücke stehend, sagte ich mir, welch' ein glücklicher Mensch muß doch Hesse sein, dem es beschieden ist, in Heidelberg zu dozieren! nicht ahnend, daß ich einst sein Nachfolger sein werde.

Noch kurz vor meiner Abreise aus Greifswald hatte ich von ihm, der schweren Herzens und wohl nur aus finanziellen Gründen mit Rücksicht auf seine Familie Heidelberg verlassen hatte, die folgenden Zeilen erhalten:

„Mein sehr geehrter mathematischer Freund! In Ihrem lieben Briefe machen Sie mir Hoffnung, Sie in Kurzem persönlich kennen zu lernen. Lassen Sie das nicht bloß gesagt sein. Es giebt doch so Manches mit dem Vorgänger zu besprechen, dessen Herz immer noch an Heidelberg hängt. Ich war dort sehr glücklich. Sie werden es auch sein nach einigen Jahren der Erfahrung. Wenn Sie glauben, daß Sie sich Prüfungen, wie ich sie bestehen mußte, durch eine Besprechung mit mir ersparen, so wird es mir die größte Ehre sein, Sie zu empfangen. Anderenfalls belieben Sie nur von Heidelberg directe Fragen an mich zu richten. Ich werde jederzeit bereit sein darauf zu antworten. Einstweilen verweise ich Sie an meine Freunde Bunsen, Kirchhoff und Weil. Wenn letzterer von der Sache auch nichts versteht, so hat er doch Kenntniß von ihrer hohen Bedeutung auch für das Badische Land, dem Sie fortan Ihre Kräfte widmen werden.“

Kapitel Heidelberg 1969-75

Im Herbst 1871 unternahmen Bunsen und ich eine Reise zu den Oberammergauer Spielen und in das Salzkammergut. Die Reise führte uns zunächst nach München, wo wir sogleich nach unserer Ankunft Hesse besuchten, den Bunsen als Kollegen sehr geschätzt hatte, und den ich als den großen Geometer verehrte und als meinen Vorgänger in Heidelberg kennen zu lernen wünschte. Wir trafen ihn nicht zu Hause an, seine Frau, die uns nicht empfangen konnte, ließ uns aber sagen, daß wir ihn sicher in dem Bierlokal des Oberpollinger treffen würden. Wir fanden ihn um 6 Uhr nachmittags in der Tat dort; seine Begrüßung mit Bunsen war eine sehr herzliche, und als ich ihm vorgesteltt wurde, umarmte und küßte er mich, indem er wiederholt unter Tränen ausrief: „Wäre ich doch in Heidelberg geblieben!“ Wir merkten sogleich, daß er schon einige Zeit in der Bieratmosphäre geweilt habe, erklärten, daß wir nicht länger bleiben könnten und baten ihn, uns am folgenden Tage in unserm Hotel in den Frühstunden zu besuchen. Leider wußte ich nicht, daß Bunsen, wie er dies bisweilen tat, damit niemand von seiner Anwesenheit etwas erfahre, für uns beide unleserliche Namen in das Fremdenbuch eingetragen hatte, und als Hesse, wie wir später hörten, am folgenden Tage in das Hotel kam, wurde ihm gesagt, daß wir dort nicht wohnten. Der verehrte Mann, der sich seines Zustandes vom vorigen Tage wohl bewußt war, glaubte nun, daß wir ihm absichtlich eine falsche Wohnung angegeben, und ließ nach langem Grolle sich erst später von unserer Schuldlosigkeit überzeugen. Nur einmal habe ich Hesse gesehen — und zwar im Sarge; er hatte angeordnet, daß er in Heidelberg begraben werde. Es war gerade in der Zeit, in der ich mit der sächsischen Regierung wegen Übernahme der Dresdner Professur verhandelte; ich stand am Grabe Hesses zwischen Kirchhoff und Bunsen, und ersterer flüsterte mir zu: „Sehen Sie, selbst im Grabe sehnt man sich nach Heidelberg zurück“; trotzdem entschied mein Schicksal und dann auch sein eignes anders!


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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