HILBERT, DAVID (23. 1. 1862 - 14. 2. 1943)

S. 119-124 aus:
Meschkowski, Herbert: Mathematiker-Lexikon. - Mannheim [u.a.], 1964


Studium 1880-84 in Königsberg (zwischendurch ein Semester Heidelberg), Promotion 1884 bei LINDEMANN. Er erhielt wichtige Anregungen aus der Freundschaft mit MINKOWSKI und dem 1884 als Extraordinarius nach Königsberg berufenen HURWITZ. Die Freunde diskutierten über die Cantorsche Mengenlehre und waren später stolz darauf, zu den frühen Anhängern dieser damals jüngsten Disziplin der Mathematik zu zählen.

1893 wurde H. ordentlicher Professor, Nachfolger LINDEMANNS. 1895 Berufung nach Göttingen. Schriftleiter der „Mathematischen Annalen“. 1900 grundlegendes Referat („Mathematische Probleme“) auf dem Mathematikerkongreß in Paris.

1902 wurde H. die Nachfolge von FUCHS in Berlin angetragen. H. überzeugte den Ministerialdirektor ALTHOFF von der Notwendigkeit, in Göttingen (neben Berlin) ein zweites mathematisches „Zentrum“ auszubauen. H. blieb und erreichte die Berufung seines Freundes MINKOWSKI nach Göttingen.

An der „Hilbert-Schule“ in Göttingen entstanden von 1901 bis 1941 mehr als 40 Dissertationen. In den Nachkriegsjahren wurde H. von Pflichtvorlesungen und Prüfungen befreit, und er konnte sich in seinen späteren Jahren ganz den Fragen der Grundlagenforschung widmen.

Man hat gesagt, H. sei der letzte Mathematiker gewesen, der in allen Gebieten seiner Wissenschaft zu Hause war. In der Tat: Wir finden in der Liste der Hilbertschen Publikationen Arbeiten über Algebra, über Zahlentheorie und über Grundlagen der Geometrie. Es gibt da Beiträge zu den verschiedenen Gebieten der Analysis, zur mathematischen Physik, zur mathematischen Logik und zur Grundlagenforschung.

Es erleichtert die Arbeit des Chronisten, daß H. sich dabei an eine einigermaßen übersichtliche zeitliche Ordnung gehalten hat: Er begann mit Forschungen auf dem Gebiet der Formen- und Invariantentheorie; es folgten Studien zur Transzendenz von e und π und eine Reihe von Publikationen zur Zahlkörpertheorie.

Auch in Göttingen befaßte sich H. zunächst vorwiegend mit algebraischen Fragestellungen. Seine Freunde waren deshalb erstaunt, als er im Winter 1898-99 eine Vorlesung über „Elemente der Euklidischen Geometrie“ ankündigte.

Tatsächlich hatte er sich schon länger mit Fragen der Axiomatik beschäftigt, und so konnte er im Jahre 1899 seine „Grundlagen der Geometrie“ veröffentlichen, die von einem völlig neuen Verständnis vom Wesen der „Axiome“ ausgehen. Dieses Werk hat seinen Namen in aller Welt bekannt gemacht.

Man muß jederzeit an Stelle von „Punkten, Geraden, Ebenen“, „Tische, Stühle, Bierseidel“ sagen können.

H. bei einem Gespräch in einem Berliner Wartesaal.

   
Während PASCH wenige Jahre zuvor die Axiome der Geometrie als aus der Anschauung herausgeschälte „Grundsätze“ formuliert hatte, versuchte H. einen „formalistischen“ Aufbau der Geometrie, in dem die Frage nach der Widerspruchsfreiheit und Unabhängigkeit der Axiome legitim ist. H. stieß hier auf Probleme, die sich natürlich dem von der Anschauung abstrahierenden Forscher nicht stellen. Durch die Arbeit an der Elementargeometrie reifte HILBERTS formalistische Konzeption, die ihm bald für die Entwicklung seiner metamathematischen Beweistheorie nützlich werden sollte.

Auf die Beschäftigung mit den „Grundlagen der Geometrie“ folgte bei H. eine Arbeitsperiode, die vorwiegend den mancherlei Gebieten der Analysis gewidmet war. Er beschäftigte sich u. a. mit der Theorie der Integralgleichungen, mit Fragen der Funktionentheorie, mit mathematischer Physik. Viele seiner Schüler promovierten mit wichtigen Arbeiten, die Beiträge (oder Vorarbeiten) leisteten zum Aufbau der modernen „Funktionalanalysis“.

Eine besonders bemerkenswerte Leistung aus dieser Epoche führte ihn noch einmal auf die Zahlentheorie zurück: Durch eine (nach seinen Worten) „neuartige Anwendung der Analysis auf die Zahlentheorie“ gewann er die Lösung des berühmten „Waringschen Problems“.

H. widmete diese wichtige Arbeit dem Andenken seines (1909) plötzlich verstorbenen Freundes MINKOWSKI.

Die letzten Jahrzehnte seines Schaffens waren Fragen der mathematischen Physik und der Grundlagenforschung gewidmet.


Das ist das Problem, suche die Lösung! Du kannst sie durch reines Denken finden,
denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabismus!     (Paris 1900)

Aus dem Paradies, das CANTOR uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können.

„Über das Unendliche“ Math. Ann. 95

   
Zu einer Besinnung über den Wahrheitsgehalt mathematischer Aussagen wurden die Mathematiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die schönen, aber durch die Antinomien bedrohten Ergebnisse der Cantorschen Forschungen gedrängt.

H. wollte den Umgang mit dem Unendlichen gegen die Einwände von KRONECKER und seiner Nachfolger (der „Intuitionisten“) verteidigen und dazu eine mit „finiten“ Methoden gesicherte „Beweistheorie“ entwickeln.

Ich bin der Meinung, daß … die Schwierigkeiten sich überwinden lassen und daß man zu einer strengen und völlig befriedigenden Begründung des Zahlbegriffs kommen kann, und zwar durch eine Methode, die ich die axiomatische nennen … will.

Das Operieren mit unendlichen Mengen wird in seiner „formalistischen“ Theorie durch den (teils durchgeführten, teils geplanten) Beweis der „Widerspruchsfreiheit“ gerechtfertigt.

Wenn auch sein Programm nicht voll durchführbar war (↑ GENTZEN, ↑ GÖDEL), so hat H. mit seinen Anregungen doch den Grund für die moderne Auffassung vom Wesen der Mathematik gelegt. [A].


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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