David Hilbert: Grundlagen der Geometrie
Einleitung und Schlusswort

In: Festschrift zur Feier der Enthüllung des Gauss-Weber-Denkmals in Göttingen / hrsg. von dem Fest-Comitee. - Leipzig, 1899

Einleitung.

Die Geometrie bedarf — ebenso wie die Arithmetik — zu ihrem folgerichtigen Aufbau nur weniger und einfacher Grundthatsachen. Diese Grundthatsachen heissen Axiome der Geometrie. Die Aufstellung der Axiome der Geometrie und die Erforschung ihres Zusammenhanges ist eine Aufgabe, die seit Euklid in zahlreichen vortrefflichen Abhandlungen der mathematischen Litteratur sich erörtert findet. Die bezeichnete Aufgabe läuft auf die logische Analyse unserer räumlichen Anschauung hinaus.

Die vorliegende Untersuchung ist ein neuer Versuch, für die Geometrie ein einfaches und vollständiges System von einander unabhängiger Axiome aufzustellen und aus denselben die wichtigsten geometrischen Sätze in der Weise abzuleiten, dass dabei die Bedeutung der verschiedenen Axiomgruppen und die Tragweite der aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen möglichst klar zu Tage tritt.

Schlusswort.

Die vorstehende Abhandlung ist eine kritische Untersuchung der Principien der Geometrie; in dieser Untersuchung leitete uns der Grundsatz, eine jede sich darbietende Frage in der Weise zu erörtern, dass wir zugleich prüften, ob ihre Beantwortung auf einem vorgeschriebenen Wege mit gewissen eingeschränkten Hilfsmitteln möglich oder nicht möglich ist. Dieser Grundsatz scheint mir eine allgemeine und naturgemässe Vorschrift zu enthalten; in der That wird, wenn wir bei unseren mathematischen Betrachtungen einem Probleme begegnen oder einen Satz vermuten, unser Erkenntnistrieb erst dann befriedigt, wenn uns entweder die völlige Lösung jenes Problems und der strenge Beweis dieses Satzes gelingt oder wenn der Grund für die Unmöglichkeit des Gelingens und damit zugleich die Notwendigkeit des Misslingens von uns klar erkannt worden ist.

So spielt denn in der neueren Mathematik die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen oder Aufgaben eine hervorragende Rolle und das Bestreben, eine Frage solcher Art zu beantworten, war oftmals der Anlass zur Entdeckung neuer und fruchtbarer Forschungsgebiete. Wir erinnern nur an Abel's Beweis für die Unmöglichkeit der Auflösung der Gleichungen fünften Grades durch Wurzelziehen, ferner an die Erkenntnis der Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms und an Hermite's und Lindemann's Sätze von der Unmöglichkeit, die Zahlen e und π auf algebraischem Wege zu construiren.

Der Grundsatz, demzufolge man überall die Principien der Möglichkeit der Beweise erörtern soll, hängt auch aufs Engste mit der Forderung der „Reinheit“ der Beweismethoden zusammen, die von mehreren Mathematikern der neueren Zeit mit Nachdruck erhoben worden ist. Diese Forderung ist im Grunde nichts Anderes als eine subjektive Fassung des hier befolgten Grundsatzes. In der That sucht die vorstehende geometrische Untersuchung allgemein darüber Aufschluss zu geben, welche Axiome, Voraussetzungen oder Hilfsmittel zum Beweise einer elementar-geometrischen Wahrheit nötig sind, und es bleibt dann dem jedesmaligen Ermessen anheim gestellt, welche Beweismethode von dem gerade eingenommenen Standpunkte aus zu bevorzugen ist.


Bei der Anfertigung der Figuren sowie bei der Durchsicht der Correcturbogen habe ich mich der Hülfe des Herrn Dr. Hans von Schaper erfreut; ich spreche ihm hierfür meinen Dank aus. Desgleichen danke ich meinem Freunde Hermann Minkowski und Herrn Dr. Julius Sommer für ihre Unterstützung beim Lesen der Correetur.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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