Emil Gumbel / Semper apertus

Semper Apertus : sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ; 1386-1986. - Berlin [u.a.]
Bd. 3. Das zwanzigste Jahrhundert : 1918-1985. - 1985
S. 7 - 9

Die Auseinanderseetzungen um Emil Gumbel erschütterten die Universität sehr viel nachhaltiger als der Fall Lenard. Die Behandlung Gumbels durch seine Kollegen zeigte, wie niedrig die Toleranzschwelle lag, wenn der jenseits von parteipolitischen und ideologischen Interessendivergenzen gewahrte Konsens über bestimmte Werte, die Integrationsfunktion besaßen und der Einheitsstiftung dienen sollten, wie nationale Ehre, Vaterland, Heldentum und Opfertod im Kriege, grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Geschah dies, so überwogen Irrationalität und das durch die Kriegsniederlage tief verletzte patriotische Gefühl. Daher ließen sich auch die verfassungstreuen und staatsbejahenden Mitglieder des Lehrkörpers von dem Strom der Emotionen vorbehaltlos mittragen, als Gumbel, seit 1923 Privatdozent für Statistik, Jude, Kriegsfreiwilliger von 1914 und Pazifist, 1924 auf einer Veranstaltung der Deutschen Friedensgesellschaft in Heidelberg von den Kriegstoten sprach, die »ich will nicht sagen, auf dem Felde der Unehre gefallen sind, aber die doch auf gräßliche Weise ums Leben kamen«. Die Entrüstung war vehement. Vor allem die sogenannten nationalen Studentenorganisationen protestierten, und die Universität sah offenbar die Gelegenheit gekommen, sich des umstrittenen Dozenten zu entledigen, gegen den wegen seiner Veröffentlichungen über die Schwarze Reichswehr ein Landesverratsverfahren lief, der die politische Voreingenommenheit der Justiz und die Fememorde aufgedeckt sowie pazifistische Vorträge im Ausland gehalten hatte. Daß Gumbel dem Engeren Senat gegenüber seine improvisierte Formulierung als »unglücklichen Ausdruck« bedauerte und versicherte, jede Kränkung oder Verächtlichmachung irgendeiner Gesinnung habe ihm ferngelegen, half ihm wenig. Wenn auch die Philosophische Fakultät nach mehrmonatiger Untersuchung ihren von Rektor und Senat angeregten Antrag auf Entziehung der venia legendi zurücknahm, um nicht »auch nur durch den Anschein einer einseitigen weltanschaulichen Stellungnahme der Idee der Universität zuwiderzuhandeln«, so bescheinigte sie Gumbel doch, er habe »die nationale Empfindung tief gekränkt, der Idee der nationalen Würde, die die Universität auch zu vertreten hat, ins Gesicht geschlagen«; seine Zugehörigkeit zu ihr erschien der Fakultät »als durchaus unerfreulich«. Dieses Verdikt erging gegen die Stimme Jaspers', der Gumbel als Person allerdings auch nicht sehr günstig beurteilt hatte, und wurde von der Fakultät gedruckt versandt. Aus mißverstandenem Nationalgefühl, fehlgeleitetem Patriotismus und politischer Abneigung gegen einen ungeliebten Kollegen hatten Heidelberger Professoren die Freiheit der politischen Überzeugung eklatant verleugnet.

Gumbel zog die Aufmerksamkeit der Universitätsöffentlichkeit erneut auf sich, als der Kultusminister ihm 1930 gegen den Protest von Fakultät und Senat den Professorentitel verlieh, der ihm nach mehrjähriger Lehrtätigkeit zustand. Diesmal versuchte die Studentenschaft mit einer Unterschriftensammlung, die sich auch auf Heidelberger Bürger erstreckte, Gumbel um sein Amt zu bringen, was der Senat allerdings scharf mißbilligte. Zwei Jahre später kam dann der von den sogenannten nationalen Kräften ersehnte Anlaß, ihr Opfer von der Universität zu vertreiben. Als Gumbel in pointiert-satirischer Zuspitzung in einer Versammlung erklärte, eine riesige Kohlrübe - Anspielung auf die Hungerjahre des Ersten Weltkriegs - sei das geeignete Kriegerdenkmal, setzte die Fakultät wiederum einen Untersuchungsausschuß ein, dem neben dem Anglisten Hoops Anschütz und Bergsträsser angehörten; Radbruch wurde von der Fakultät zum Rechtsbeistand Gumbels bestellt. Da die im Vergleich zu 1924 doch viel harmlosere Äußerung nach Meinung des Ausschusses »ein Zeichen mangelnder Ehrfurcht vor wesentlichen Gütern der Nation und eines mangelnden Vermögens, auf die Wertordnungen in Denken und Fühlen anderer Rücksicht zu nehmen«, darstellte, Gumbel mithin erneut über Heldentum und Opfertod ohne den erforderlichen Ernst gesprochen habe - »was zum Einschreiten Anlaß geboten hat, ist nicht der Inhalt, sondern die Form der Äußerung« - , entzog die Fakultät - wiederum gegen die einzige Stimme Jaspers' - ihm die venia legendi. Gumbels Appellation an das Ministerium blieb erfolglos, auf seine Wertordnung nahmen die Staatsbehörden so wenig Rücksicht wie die Universität.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

Zur Inhaltsübersicht      Historia Mathematica Heidelbergensis      Homo Heidelbergensis