Max Born über seine Dissertation

Aus: Max Born: Über meine Arbeiten (S. XIII-XIV)
In: Ausgewählte Abhandlungen / Max Born. - Göttingen. - Bd. 2 (1963), S. XIII-XXIV
UB-Signatur: 63 B 1673::1
Meine Dissertation (No. 1) betrifft das Gebiet der Elastizitätstheorie, auf das ich nur noch einmal (No. 4) zurückgekommen bin. Als Student habe ich in der Hauptsache Mathematik studiert. In meiner Heimatstadt Breslau hatte ich (von 1901 an) eine solide Ausbildung in den Grundlagen und lernte darüber hinaus in schönen Algebravorlesungen von Rosanes, einem Schüler von Frobenius, das Gebiet, das mir später von größtem Nutzen sein sollte, Matrizentheorie.

Im zweiten Studienjahre hörte ich in Heidelberg hauptsächlich eine Vorlesung von Leo Koenigsberger über Differentialgeometrie, die auf Strenge keinen Anspruch machte, dafür aber ein riesiges Gebiet mit handlichen und anschaulichen Methoden vorführte. In Zürich war ich tief beeindruckt durch Hurwitz' Vorlesung über elliptische Funktionen, in der mir der Geist der modernen Analysis zum ersten Male begegnete.

Physik und Astronomie studierte ich nur als „Nebenfächer“. In Göttingen, wohin ich im Jahre 1904 kam, blieb das zunächst so. Von den drei Großen, Felix Klein, David Hilbert und Hermann Minkowski, zog mich Klein am wenigsten, Hilbert am meisten an. Ich wurde (1905) Hilberts Privatassistent und machte auf seinen Vorschlag den Versuch, ein rein mathematisches Problem (Beweis der Transzendenz von Nullstellen der Besselschen Funktionen) zu lösen - aber ohne Erfolg.

Damals waren Mathematik und theoretische Physik noch eng verbunden. So gab es in einem Semester (1904 oder 1905) gleichzeitig zwei mathematisch-physikalische Seminare, eines unter der Leitung von Klein und Runge über Elastizitätstheorie, eines unter Hilbert und Minkowski über Elektrodynamik bewegter Körper, in dem Minkowski schon die später so berühmten Gedanken über Relativitätstheorie als Geometrie im 4-dimensionalen Raumzeitgebiet andeutete. Einsteins Arbeiten waren in Göttingen noch nicht bekannt. Diese Probleme zogen mich gewaltig an. An dem Elastizitätsseminar nahm ich auch teil, aber ohne tiefes Interesse. Ich drückte mich vor einem Referat und fungierte nur als Coreferent für einen andern Studenten, der über die Stabilität der Elastika (elastischer Drähte und Bänder) sprechen sollte. Nun geschah es, daß dieser sich zwei Tage vor seinem Referat krank meldete und ich für ihn einspringen mußte. Ich hatte die Literatur nur oberflächlich studiert und hatte keine Zeit mehr, das nachzuholen. Ich bemerkte aber, daß es sich darum handelte, aus den stationären Werten der elastischen Deformationsenergie die wahren Minima auszuwählen; also um ein Problem der Variationsrechnung, die ich gerade bei Hilbert hörte. So entwarf ich ein Programm, die hinreichenden Kriterien von Jacobi und Legendre auf die elastische Linie anzuwenden und machte daraus ein Referat zurecht, das den Beifall Kleins und Runges fand. Klein veranlaßte die Philosophische Fakultät, dasselbe Thema zum Gegenstand der in dem Jahre fälligen Preisarbeit zu machen und forderte mich auf, mich zu bewerben. Aber da ich mich viel mehr für die Probleme der Elektrodynamik bewegter Körper interessierte, lehnte ich zunächst ab. Das hat mir den berechtigten Zorn des „Großen Felix“ eingetragen, der auch nicht merklich besänftigt wurde, als ich auf Rat meiner Freunde dann doch das Elastika-Thema bearbeite und den Preis erhielt.

Diese Arbeit, deren experimenteller Teil mit sehr einfachen Apparaten in meiner Studentenbude ausgeführt wurde, hat mich zum ersten Male die Genugtuung und Freude an der Übereinstimmung von Theorie und Messung fühlen lassen und mir gezeigt, daß ich auf dem Gebiete der mathematischen Physik ohne Hilfe und Anleitung etwas zustande bringen konnte. Auf den Gedankenkreis dieser Untersuchung bin ich später nur einmal zurückgekommen (No. 4), unter ganz andern Umständen, von denen ich nachher einiges sagen werde.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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