Frühling / S. Kovalevskaja

S. 56 - 58 aus

Kovalevskaja, Sof'ja V.:
Die Nihilistin : Roman / Sonja Kowalewska. Aus dem Russ. übertragen von Louise Flachs-Fokschaneann. - Wien [u.a.], 1896. - VI, 142 S.
Signatur UB Heidelberg: G 2496-30


VI.

Es ist Ende April. Der Frühling kam in diesem Jahr plötzlich.

Nachdem die Flüsse eisfrei geworden und der Schnee geschmolzen war, hielt die Kälte noch lange an; Alles entfaltete sich langsam, träge wie unwillig — einen Schritt nach vorwärts, zwei zurück. Es war, als hätte man jedes Gräschen, jedes Pflänzchen inständigst bitten und überreden müssen, es möge sich entschließen, den Winterschlaf abzuschütteln und aus der Erde die zarte Spitze des frierenden Blättchens hervorstrecken. Einen rechten Frühlingseifer konnte man nicht bemerken. Plötzlich kam über Nacht ein leiser warmer Regen, und von da waltete ein Zauber. Wie aus Eimern schütteten sich die kleinen duftenden Tropfen eines Frühlingsregens auf die Erde. Alles erwachte im Wunsche zu leben. Ein jedes beeilte sich, vorwärts zu dringen, einander stoßend und drückend, als fürchtete es, die Frist zu versäumen. Keines wollte nachgeben, jedes sein Recht auf Existenz behaupten.

Am nächsten Morgen erwachten die Einwohner von Borki und staunten. Was ist da alles in einer einzigen Nacht geschehen! Weder Garten noch Felder und Wälder sind zu erkennen. Gestern Abend war all das schwarz und kahl; jetzt hat es sich in das zarte Grün des kommenden Sommers verwandelt. Und die Luft ist anders als gestern, und es atmet sich so ganz anders. Jetzt ist gerade der Höhepunkt des eiligen, ruhelosen Frühlingsfiebers. Die Birken haben sich schon mit zarten Blättchen, durchsichtig wie Spitzen, bekleidet. Große, aufquellende Pappelknospen werfen ihre klebrigen, harzigen Hüllen zur Erde, die Luft mit einem würzigen, berauschenden Aroma erfüllend. Gelber, duftender Blütenstaub der Erlen- und Haselnußkätzchen fliegt mit den weißen Blumenblättchen der Ahlkirschen und Weichseln überall herum. Auf den Tannen sprossen große helle Schößlinge, die kerzengerade stehen und die unter den alten, vorjährigen Nadeln ein seltsames Aussehen haben. Die Eiche allein steht noch kahl und düster, als dächte sie noch gar nicht an den Frühling. Vom Süden fliegen jeden Tag neue Gäste zu. Schon vor einer Woche zeichnete sich am Himmel der erste, schwarze, dreieckige Kranichzug ab. Der Specht schlägt im hohlen Stamm der alten Buche. Die Schwalben flattern unter dem Balkondach umher, ihre alten Nester suchend, und führen einen heißen Kampf mit den Sperlingen, die von dem ehemaligen Eigentum jener schon im Laufe des Winters Besitz ergriffen haben. Aus der Erde steigen warme Dünste auf. Man glaubt zu spüren, wie sich unten im Schoß der Erde eine seltsame, geheimnisvolle Arbeit vollzieht. Man kann keinen Schritt machen, ohne auf den Keim eines neuen, jungen Lebens zu treten — eines Pilzes, Grashälmchens oder Insektes. Im Bach gibt es lebhafte Liebesgeständnisse. Jeder Sumpf wimmelt von Milliarden der verschiedensten wunderlichen Daseinsformen; und alles das bewegt sich, alles das ist von dem Bewußtsein der Wichtigkeit seines eigenen Ich durchdrungen.


Redaktion:   Gabriele Dörflinger

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