Mein Leben / Leo Koenigsberger

Helm, Georg:
Gustav Anton Zeuner † : Nachruf

aus: Naturwissenschaftliche Rundschau : wöchentliche Berichte über die Fortschritte auf dem Gesamtgebiete der Naturwissenschaften. - 23. Jahrgang (1908), S. 61-63
Signatur UB Heidelberg: O 29-3 Folio::23.1908


Mit Zeuner ist der letzte der hervorragenden Techniker dahingeschieden, die jene für unsere Kultur und besonders für den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands so bedeutungsvolle Zeit an führender Stelle durchlebten, in der sich die Technik vom Handwerk loslöste, die in Mathematik, Physik und Chemie für sie bereit liegenden Schätze sich dienstbar machte und diesen Wissenschaften neue Aufgaben zu stellen begann. Ja, in Zeuners individueller Entwickelung spiegelt sich jene große soziale Wendung wie in einem engen Rahmen wider.

Geboren am 30. November 1828 zu Chemnitz als Sohn eines Tischlermeisters, wurde Zeuner zunächst dem väterlichen Handwerk zugeführt und nach der Lehrzeit 1846 „vor offener Lade“ zum Gesellen gesprochen. Indes der Besuch der Chemnitzer Gewerbschule, der ihn eigentlich nur in seinem Handwerk fördern sollte, erweckte in dem geistig regsamen und überaus fleißigen jungen Manne immer höher zielende Pläne. Der Widerstand des Vaters und anderer gewichtiger Stimmen, der überwunden werden mußte, um das neue Lebensziel zu erreichen, reifte des jungen Mannes Selbständigkeit und Willenskraft; auch die Schwächlichkeit, die dem Knaben angehaftet hatte, schwand in den Jünglingsjahren. Sein Plan war, unter Weisbach zu studieren, dessen Werke er in eifriger Mühe durchgearbeitet hatte, und sich bei ihm zum Ingenieur auszubilden, noch unbesorgt, in welchem Ingenieurfache er dereinst seine Kenntnisse verwerten würde. So zog er denn 1848 nach der Bergakademie Freiberg, der altberühmten Stätte tieferer technischer Ausbildung, mußte dort ein Semester während des praktischen Kursus in der Tiefe vor Ort arbeiten, um dann das eigentliche Studium zu beginnen und bei Weisbach zu hören, der bald den jungen Studenten zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten heranzog und in sein Haus einführte. Zwar die politischen Aufregungen des Jahres 1849 ergriffen auch die Freiberger Akademiker, brachten Zeuners Lebensschiff dem Zerschellen nahe und bedrohten noch in ihren Folgen seinen Lauf; aber nachdem der Sturm vorübergezogen, versenkte sich Zeuner wieder mit dem alten Eifer in seine akademischen Studien, die er 1851 abschloß, und beteiligte sich weiter an Weisbachs Forschungen.

Dann folgten Jahre innerer Unruhe, die mit Bewerbungen um bergmännische Stellungen im In- und Auslande, mit vorübergehender Lehrtätigkeit an technischen Schulen in Freiberg und Chenmitz, mit der Promotion in Leipzig, mit manchen literarischen Arbeiten und vielen Privatstunden ausgefüllt waren, auch ihn auf kurze Zeit nach Paris führten, wo ihn Weisbach mit Poncelet und Regnault bekanntmachte. Schließlich eröffnete Ende 1853 die Stellung als Redakteur der neu gegründeten technischen Zeitschrift „Der Zivilingenieur“ einige Aussicht auf regelmäßige Einkünfte und gab Zeuner den Mut, seine Jugendliebe heimzuführen. Er hat später vollständig die schweren Bedenken gegen frühes Heiraten geteilt und oft junge Techniker davor gewarnt, er selbst fand aber im frühen Freien das Glück seines Lebens und war erfüllt von dem Bewußtsein, wie viel er in fast 50jährigem Eheleben in guten und bösen Tagen der Gattin zu danken habe.

Bald trat nun die entscheidende Wendung seines Lebens ein. Das Züricher Polytechnikum, das ebenso durch seine Organisation und durch die große neue Lehraufgabe, zu der es hervorragende jüngere Kräfte vereinigte, wie durch die schnell wachsende Zahl der Schüler, die es über die Länder deutscher Zunge ausbreitete, so nachhaltig auf die Entwickelung der deutschen Technik eingewirkt hat, eröffnete auch Zeuner einen ersten, ihn völlig erfüllenden Wirkungskreis. Im Jahre 1855, bei der Eröffnung der Schule, wurde er dahin berufen und gab sich mit jugendlichem Feuer den bedeutenden Aufgaben hin, die Wissenschaft und Unterricht ihm stellten. Schon als in stiller Stunde die Neujahrsglocken des Jahres 1856 über den Zürichsee herübertönten, gestaltete sich zwischen dem Nachsinnen über sein Problem und den Sorgen um das Wohl der Seinen der Gedanke, der Zeuners Namen zuerst in weite Kreise getragen hat, die Figur des Schieberdiagramms. Von den Untersuchungen seines Meisters Weisbach ausgehend, hatte er neben kristallographischen Arbeiten anfangs die Turbinen und den Ausfluß des Wassers behandelt, um sich dann, mehr und mehr seine Eigenart entwickelnd, der Dampfmaschine zuzuwenden — zunächst den Steuerungsmechanismen derselben und den störenden Bewegungen der Lokomotiven —, dann den Strömungsvorgängen, die in der Feuerungsanlage der Lokomotive und im Injektor technisch ausgenutzt werden, um schließlich, gleichsam ins Herz der Dampfmaschine dringend, die Theorie des Energieumsatzes durch Dämpfe, vor allem an der Hand der Regnaultschen Versuche, der Technik dienstbar zu machen. So erscheinen als Zusammenfassungen der hauptsächlich im „Zivilingenieur“ veröffentlichten Aufsätze im Jahre 1858 „Die Schiebersteuerungen“, die seitdem sechs Auflagen erlebt haben, 1860 „Die Grundzüge der mechanischen Wärmetheorie“, die, später als „Technische Thermodynamik“ bezeichnet, fünfmal aufgelegt wurden, und 1863 das „Lokomotiven-Blasrohr“.

Reiche Anregungen bot damals die Schweizer Hochschule. Im Zusammenwirken, im persönlichen Verkehr mit Männern wie Culmann und Reuleaux, Landolt und Bolley, dem Astronomen Wolf, mit Mousson und Clausius, mit Gottfried Keller, Th. Vischer, Johannes Scherr erwuchs Zeuners Schaffenskraft. Wie er sich dabei seine Eigenart wahrte, geht aus der überraschenden Bemerkung hervor, daß er trotz vielfachen beruflichen und geselligen Verkehrs mit Clausius niemals mit ihm über Thermodynamik gesprochen habe. So entwickelte sich ganz selbständig seine Auffassung der Entropie als „Wärmegewicht“, die sich von der kinetischen Hypothese frei hält und doch durch mechanische Analogie eine für die Einführung in die Sache höchst förderliche, anschauliche Klarheit erreicht. Daß die späteren Fortschritte in dem Gebiete der Wärmemotoren und der Kältetechnik zu einem bedeutsamen Teile auf Zeuners Forschen und Lehren aufgebaut sind, ist wiederholt betont worden, vor allem hat sein berühmtester Schüler, v. Linde, allezeit freudig anerkannt, was Zeuner der Wissenschaft und Technik gewesen ist.

Das erste Jahrzehnt in Zürich hatte genügt, Zeuners Namen zu einem der geachtetsten unter den Lehrern der Technik zu machen; schnell nach einander folgten Rufe nach Karlsruhe, Wien, München, Aachen, die er ablehnte. Nachdem aber 1871 die von den Deutschen in Zürich veranstaltete Feier der Reichsgründung pöbelhaft gestört worden war und eine Gruppe unter den dortigen Deutschen selbst den nationalen Aufschwung in schroff großdeutscher Haltung verkannte, ergriff Zeuner die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, seine Kraft im neuen Reiche zu verwerten. Es war ein glänzender Ruf seines sächsischen Heimatlandes, wo sich ihm 20 Jahre vorher jede Anstellung im Lehrfach verschlossen hatte; 1871 übernahm er die Leitung der Freiberger Bergakademie und 1875, nachdem er einen zweiten Ruf nach Wien abgelehnt hatte, die des Dresdener Polytechnikums, das er vorher ein paar Jahre hindurch gleichzeitig mit der Freiberger Akademie verwaltet hatte.

Damit beginnen zwei Jahrzehnte erfolgreichster organisatorischer Tätigkeit. Die Freiberger Akademie führte er, veraltete Einrichtungen überwindend, in die Bahnen über, in denen sie sich zu ihrer jetzigen Hochschulstellung aufgeschwungen hat, die Dresdener Polytechnische Schule wurde unter seiner Leitung zunächst als Polytechnikum neu organisiert, durch Zufügung einer Hochbau-Abteilung erweitert und, nachdem er, um das Wahlrektorat zu ermöglichen, 1890 das ständige Direktorat niedergelegt hatte, nach seinen Entwürfen zur Technischen Hochschule ausgestaltet. Seine Überzeugungen von der wissenschaftlichen Stellung und der selbständigen Bedeutung der Technik, von ihren Beziehungen zur Mathematik und den Naturwissenschaften, ihren Anforderungen an volkswirtschaftliche und allgemein menschliche Bildung traten besonders nachdrücklich hervor in dem Ausbau der allgemeinen Abteilung als einer Ausbildungsstätte für Lehrer an technischen Schulen wie an Gymnasien und Realschulen, einer Abteilung, die auch heute noch den meisten deutschen technischen Hochschulen fehlt. Wohl fand er im Kreise der Mitarbeiter, wie in den vorgesetzten Ministerien persönliches Vertrauen und Verständnis für seine Pläne — reiche Auszeichnungen der Regierungen wie der wissenschaftlichen Kreise des In- und Auslandes lohnten seine Arbeit —, aber an mannigfachen Hemmungen fehlte es selbstverständlich nicht, und so treten in dieser Zeit die literarischen Arbeiten etwas zurück.

Erst während er 1890 das Direktorat, 1893 die Vorlesungen über technische Mechanik, 1897 auch die über Thermodynamik und damit das Lehramt überhaupt niederlegte, fand er allmählich wieder Muße zu umfassenderen Veröffentlichungen, nicht nur zu reichen Ergänzungen seiner früheren Schriften in neuen Auflagen, zur Fortsetzung der in Zürich begonnenen Experimentalarbeiten über den Ausfluß der Gase und Dämpfe, sondern auch zur Bearbeitung des Gegenstandes, der ihn seit seiner Jugendzeit andauernd in Vorlesungen und Versuchen beschäftigt hatte, der „Turbinentheorie“, die 1899 erschien.

Auch ein anderes Arbeitsgebiet, dem er seit seiner Jugend treu geblieben war, beschäftigte Zeuner wieder in den letzten Jahren seiner Arbeitstätigkeit. Schon während seiner Freiberger Lehrjahre war er mit einem umfassenden Gutachten über die Freiberger Knappschaftskasse beschäftigt gewesen und hatte seitdem den für die moderne technische Entwickelung so wichtig gewordenen sozialen Vorgängen, die in das Versicherungswesen hineinreichen und in der Statistik festgehalten werden, sein Interesse erhalten. In Zürich bot ihm die Schweizerische Rentenanstalt Gelegenheit, dem gesamten Versicherungswesen näher zu treten, und er dürfte wohl der erste gewesen sein, der über die Theorie der Versicherungen an deutschen Hochschulen Vorlesungen gehalten hat (Winter 1858/59). In die Züricher Zeit fällt auch noch die Veröffentlichung seiner „Abhandlungen aus der mathematischen Statistik“ 1869, in denen er eine geometrische Methode lehrt, um den statistischen Änderungen einer sozialen Gesamtheit anschaulich folgen zu können, und Grundlagen für die strenge statistische Behandlung der Invalidität schuf. In Dresden veranlaßte er, daß nach seinen Plänen genaue statistische Erhebungen über Sterblichkeit und Invalidität im sächsischen Bergmannsstande, sowie über die Sterblichkeit der sächsischen Bevölkerung durchgeführt wurden, und hat in den Jahren 1894 und 1903 aus dem so gewonnenen Material Sterblichkeitstafeln für die sächsische Bevölkerung entwickelt, die leider bisher bei weitem nicht die Beachtung gefunden haben, die sie verdienen.

Noch war es ihm vergönnt, an seinem 70. Geburtstage und bei seinem Doktorjubiläum sich in seltenen Auszeichnungen des Dankes zu erfreuen, den sein Lebenswerk erweckt hatte. Aber dann ward es still und stiller um ihn und in ihm. Während der letzten Auflage seiner Thermodynamik sank seine bis dahin unermüdliche Arbeitstätigkeit. Ohne bleibende plötzliche Abfälle, ohne Schmerzen, stetig fast schwand der Rest seiner körperlichen und geistigen Kräfte, bis am 17. Oktober 1907 das Leben verlöschte.

Und nun zuletzt noch ein Wort über das, was Zeuner im tiefsten Herzen erfüllte und zeit seines Lebens sein Handeln geleitet hat. Er war ein Lehrer im Grunde seiner Seele, als hätten die Eindrücke seiner Knabenjahre beim Onkel im Schulhaus von Zschopau es für immer ihm angetan. „Zeuner“, schreibt einer seiner besten Schüler in der Schweizerischen Bauzeitung, „war der geborene Professor; mit unübertrefflicher Klarheit und Anschaulichkeit wußte er in schlichtem, ungekünsteltem Vortrag ein Problem allseitig zu entwickeln, in der knappsten und elegantesten Form mathematisch einzukleiden und, unterstützt durch die ungemeine Lebhaftigkeit und Beweglichkeit seines Wesens, den Eindruck hervorzurufen, als ob er eben jetzt, im Augenblicke des Vertrags, die Lösung gefunden hätte. Unter seiner Behandlung verschwanden die Schwierigkeiten, alles wurde einfach und leicht verständlich, es war jedesmal wie eine Neuschöpfung des betreffenden Kapitels; kein Wunder, daß seine Schüler begeistert an seinen Lippen hingen, besonders da, wo er über seine eigenen Untersuchungen vortrug.“

Helm.


Georg Helm (* Dresden 15.03.1851, † Dresden 13.09.1923) war der Schwiegersohn Gustav Zeuners.

Letzte Änderung: 21.06.2013     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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