Mein Leben / Leo Koenigsberger

Gustav Zeuner

Nekrolog

Vorgelegt in der öffentlichen Gesamtsitzung beider Klassen am 14. November 1908 von Martin Krause


aus: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, mathematisch-physische Klasse. - 60 (1908), S. 339-351
Signatur UB Heidelberg: H 86::60.1908


Am 17. Oktober vorigen Jahres starb der langjährige Direktor und Professor an der technischen Hochschule zu Dresden Gustav Zeuner.

Geboren in Chemnitz am 30. November 1828 gewann er in seiner gewerbefleißigen Vaterstadt schon frühe Interesse für technisches Wissen und Können. Seine Vorbildung erhielt er an der Chemnitzer Gewerbeschule und widmete sich sodann in den Jahren 1848 bis 1851 an der Bergakademie zu Freiberg dem Studium des Berg- und Hüttenwesens. Nach seiner Studienzeit war Zeuner vorübergehend in Freiberg und Chemnitz als Lehrer der Mechanik tätig und nahm an den Arbeiten seines Lehrers Weisbach vor allem an dessen bahnbrechenden hydraulischen Experimenten lebhaften Anteil. Im Jahre 1852 führte ihn eine Studienreise durch Deutschland, Belgien und Frankreich und brachte ihn in persönliche Beziehung mit Poncelet, Regnault und Combes. Im Jahre 1853 promovierte Zeuner an der Universität Leipzig und gründete unter Mitarbeiterschaft von Weisbach und Bornemann die technische Zeitschrift „Civilingenieur“, in welcher er auch nach Niederlegung der Redaktion im Jahre 1857 die weitaus größte Zahl seiner Abhandlungen veröffentlichte. Bei Begründung des eidgenössischen Polytechnikums im Jahre 1855 wurde er als Professor der technischen Mechanik und technischen Maschinenlehre nach Zürich berufen und fand hier einen ersten ihn völlig erfüllenden Wirkungskreis.

Die 16 Jahre, die Zeuner in Zürich zubrachte, sind die fruchtbarsten und folgenschwersten in seinem Leben gewesen. In Zürich entwickelte sich sein hervorragendes Lehrtalent, so daß er sehr bald zu den gefeiertsten Dozenten der jungen Hochschule gehörte, in Zürich schrieb er neben einer größeren Anzahl von Abhandlungen drei wissenschaftliche Werke, die seinen Namen in die weitesten technischen Kreise trugen, in Zürich erhielt er diejenigen großzügigen Anschauungen über die Aufgaben und Ziele einer technischen Hochschule, die er bei seiner späteren langjährigen Verwaltungstätigkeit an der Dresdener Hochschule zu verwirklichen strebte.

Das Züricher Polytechnikum war von vornherein auf einer breiteren Grundlage aufgebaut, als die überwiegende Mehrzahl der deutschen Schwesteranstalten. Die maßgebenden schweizerischen Kreise waren der Ansicht, daß der rein wissenschaftlichen und allgemein menschlichen Bildung ein breiter Raum gewährt werden müsse, um die Geisteskräfte der Zöglinge möglichst harmonisch zu entwickeln. Ferner war man der Ansicht, daß den Lehrern technischer Unterrichtsanstalten Gelegenheit zur Ausbildung geboten werden müsse. Unter solchen Umständen wurde eine besondere Abteilung gegründet, an welcher die naturwissenschaftlichen und mathematischen Disziplinen in ihrem ganzen Umfange und auf höchster Höhe vorgetragen werden sollten, an welcher ferner die Literaturen der wichtigsten lebenden Sprachen, politische und Kunstgeschichte, Nationalökonomie und einzelne Teile des Privatrechtes und der administrativen Gesetzgebung gelehrt werden sollten. Später und zwar unter dem Direktorate und unter der Mitwirkung von Zeuner wurde dieser Abteilung ganz allgemein die Bildung von Fachleuten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Richtung übertragen. Eine Anzahl bedeutender Männer wie Dedekind, Christoffel, Clausius, Kundt u. a. brachten dieselbe zu entschiedener Blüte. Hierbei zeigte sich ein harmonisches und glückliches Zusammenarbeiten mit den eigentlichen Fachabteilungen, an denen eine große Anzahl hervorragender Professoren, wie Gottfried Semper, Culmann, Reuleaux u. a. mit größtem Erfolge tätig waren. Zeuner nahm an dieser Entwicklung mit regstem Interesse und in engster Fühlung mit den maßgebenden Kreisen tätigen Anteil und erlebte es, wie bei dieser großzügigen Auffassung die junge Hochschule einen glänzenden Aufschwung nahm. Verschiedene Rufe nach Karlsruhe, Wien, München und Aachen konnten ihn unter solchen Umständen seinem lieb gewordenen Lehrstuhle nicht entreißen. Als aber im Jahre 1871 die von den Deutschen in Zürich veranstaltete Feier der Reichsgründung in gröblicher Weise gestört wurde und auch unter den Deutschen sich Uneinigkeit zeigte, ergriff Zeuner die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, um nach Deutschland zurückzukehren und übernahm im Jahre 1871 die Leitung der Freiberger Bergakademie mit der ausgesprochenen Aufgabe, dieselbe zeitgemäß umzugestalten. Seine Tätigkeit war hier nur eine kurze. Schon nach ein und einem halben Jahre wurde er als ständiger Direktor und Professor der Mechanik und Maschinenlehre an das Dresdner Polytechnikum berufen. Um jedoch der ihm in Freiberg gestellten Aufgabe gerecht zu werden, behielt Zeuner seine dortige Stellung gleichzeitig mit dem neuen Amte bis zum Jahre 1875 bei. Wie einschneidend und erfolgreich seine kurze Tätigkeit für die Freiberger Akademie und damit auch für die Stadt Freiberg geworden ist, das zeigten die Dankesworte, die die Vertreter der Akademie und der Stadt ihm, dem Ehrenbürger der letzteren an seinem Sarge widmeten.

In Dresden wurde seine Kraft durch die Direktoratsgeschäfte sehr in Anspruch genommen, so daß seine literarischen Arbeiten zunächst etwas zurücktraten. Bei seiner Ankunft war das Polytechnikum eben erst zu dem Range einer Hochschule erhoben worden, jetzt galt es der neuen Form entsprechenden Inhalt zu geben, um die Hochschule fähig zu erhalten, den hochgesteigerten Anforderungen der Neuzeit gerecht zu werden. Zeuner hat sich mit größter Hingebung und Tatkraft dieser verantwortungsreichen Aufgabe gewidmet und sich hierbei als ein hochstehender und weitblickender energischer Mann gezeigt, der die reichen Erfahrungen, die er an der Züricher Hochschule gemacht hatte, für sein Vaterland zu verwerten strebte. Seine Forderungen für die Fortentwicklung der Anstalt legte er kurz im Programm für das Studienjahr 1875/1876 nieder. Neben der Einrichtung einer Hochbauabteilung forderte er: „Einfügung weiterer Lehrzweige in die bereits bestehenden Abteilungen zur Ausbildung von Mechanikern, Ingenieuren, Chemikern, von Lehrern der reinen und angewandten Mathematik, der Physik und Chemie, eine Erweiterung des gesamten Lehrplanes durch Vermehrung der humanistischen Fächer an der allgemeinen wissenschaftlichen Abteilung, Aufnahme eines entsprechenden Teiles der Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, eines weiteren, für den Techniker wichtigen Teiles aus dem großen Gebiete der allgemeinen Rechtskunde u. s. f.“

Zeuner konnte bei den Forderungen, die sich auf die Ausbildung der allgemeinen Abteilung bezogen, an Traditionen anknüpfen, wie sie in den maßgebenden Kreisen Sachsens seit Gründung der Anstalt vorhanden waren, ohne daß sie aber zu so geschlossenen Gestaltungen geführt hatten, wie es in der Schweiz der Fall war. Jedenfalls gelang es ihm neben der Gründung einer Anzahl technischer Professuren die Gründung von Professuren für die Fächer der Geographie, der Geschichte, der Botanik, der Philosophie und der Nationalökonomie durchzusetzen und ein Staatsexamen für Kandidaten des höheren Lehramtes einzuführen, welches dem an der Universität bestehenden in Bezug auf die in Betracht kommenden Fächer gleichgestellt wurde.

Zeuner hat auf diese Neugestaltungen stets großes Gewicht gelegt und sie als einen wichtigen Teil seiner Lebensaufgabe angesehen. Der Erfolg, den die ersten Jahre brachten, war freilich nicht gleichmäßig andauernd. Die Verhältnisse lagen im deutschen Vaterlande doch anders wie in der Schweizer Republik, vor allem nahmen die deutschen Universitäten gegenüber den technischen Hochschulen in Bezug auf die Lehrerbildung eine durchaus beherrschende Stellung ein. Daneben aber hatten sich die Ziele und Aufgaben des technischen Studiums erweitert und wurde die Gründung von Professuren nicht rein technischen Charakters in Ingenieurkreisen vielfach als ein Hemmnis für die eigentlichen Zwecke der Hochschule angesehen. Da hat es an Schwierigkeiten nicht gefehlt, die Zeuner zeitweise schwer empfunden hat. Um so mehr mußte es ihn erfreuen, daß am Ende seines Lebens die Anschauungen, die er über das Wesen und die Aufgaben der technischen Hochschule hatte, in immer weitere und weitere Kreise unseres Volkes drangen und insbesondere der mächtige über ganz Deutschland verbreitete Verein deutscher Ingenieure sich in einer Reihe von Thesen zu ihnen bekannte.

Ostern 1890 erbat und erhielt Zeuner seine Entlassung als ständiger Direktor des Polytechnikums, um die Einführung des Wahlrektorates zu ermöglichen, nachdem er vorher noch alle vorbereitenden Schritte, insbesondere die Abfassung des neuen Statutes der nunmehrigen „Technischen Hochschule“ auf sich genommen, hatte. Er widmete sich fortan ausschließlich der Lehrtätigkeit in seinem Fache und trat dann mit Ende des Sommersemesters 1897 in den Ruhestand. Derselbe gab ihm die lange ersehnte Muße seine wissenschaftlichen Untersuchungen in erhöhtem Maße wieder aufzunehmen. Neben reichen Ergänzungen seiner früheren Schriften in neuen Auflagen nahm ihn vor allem die Abfassung der Turbinentheorie in Anspruch, die im Jahre 1899 erschien und sich im wesentlichen auf die Untersuchungen stützte, die er in Zürich über diesen Gegenstand angestellt hatte. Allmählich aber versagten seine Kräfte. Während der letzten Auflage der Thermodynamik sank seine bis dahin unermüdliche Arbeitstätigkeit und stellten sich immer mehr und mehr die Beschwerden des Alters ein. Trotz der hingebendsten und aufopferndsten Pflege, die er seit dem Tode seiner treuen Lebensgefährtin im Hause seiner Tochter, der Frau Geheimen Hofrat Helm, gefunden hatte, schwand der Rest seiner körperlichen und geistigen Kräfte fast stetig, bis am 17. Oktober v. J. das reiche Leben seinen schmerzlichen Abschluß fand.

In den vorangehenden Worten habe ich versucht, das äußere Leben Zeuners unter Hinzunahme seiner Verwaltungstätigkeit kurz darzustellen. In den angegebenen Rahmen fallen nun die glänzenden Erfolge, die er als akademischer Lehrer und als Forscher gehabt hat.

Er war Lehrer im Grunde seiner Seele. „Zeuner, so schreibt einer seiner besten Schüler in der Schweizerischen Bauzeitung, war der geborene Professor. Mit unübertrefflicher Klarheit und Anschaulichkeit wußte er in schlichtem, ungekünsteltem Vortrag ein Problem allseitig zu entwickeln, in der knappsten und elegantesten Form mathematisch einzukleiden und unterstützt durch die ungemeine Lebhaftigkeit und Beweglichkeit seines Wesens den Eindruck hervorzurufen, als ob er eben jetzt, im Augenblick des Vertrages die Lösung gefunden hätte. Unter seiner Behandlung verschwanden die Schwierigkeiten, alles wurde einfach und leicht verständlich, es war jedesmal wie eine Neuschöpfung des betreffenden Kapitels. Kein Wunder, daß seine Schüler begeistert an seinen Lippen hingen, besonders da, wo er über seine eigenen Forschungen vortrug.“

Als Forscher hat Zeuner sich neben den technischen Gebieten auch mit großem Interesse und bleibendem Erfolge auf dem Gebiete der Statistik und des Versicherungswesens betätigt.

Schon in Freiberg war er mit einem umfassenden Gutachten über die Freiberger Knappschaftskasse beschäftigt gewesen und in Zürich traten bald ähnliche Aufgaben an ihn heran. Es handelte sich darum, für die Wittwen- und Waisenversorgung, die man damals nicht glaubte durchsetzen zu können, am Polytechnikum ein Äquivalent zu bieten durch eine Lebensversicherung, zu deren Prämien Schulkasse und Professoren zu ungefähr gleichen Teilen beitragen sollten. Die technischen Grundlagen hierfür schuf Zeuner, auf Grund deren im Jahre 1862 mit der schweizerischen Rentenanstalt ein Vertrag geschlossen wurde, der sich als sehr wohltätig erwiesen hat und trotz mancher Einwendungen und trotzdem durch Bundesratbeschluß vom Jahre 1901 einer neu gegründeten Wittwen- und Waisenkasse ein ansehnlicher Bundesbeitrag zugewiesen wurde, auch heute noch besteht.(*)

Diese Aufgaben führten ihn zu einem vertieften Studium der statistischen Wissenschaften und veranlaßten ihn über die Theorie der Versicherungen Vorlesungen zu halten.

Angeregt durch ein im Jahre 1868 erschienenes Werk von Knapp faßte er die von ihm gefundenen Resultate in den „Abhandlungen aus der mathematischen Statistik“ im Jahre 1869 zusammen, das aus drei Teilen besteht.

Der erste Teil befaßt sich mit der formalen Bevölkerungslehre. Der große Fortschritt der Zeunerschen Untersuchungen besteht in der Heranziehung überaus klarer und durchsichtiger Raumvorstellungen. Zeuner führt drei im Raume senkrecht aufeinander stehende Achsen ein und benutzt als Koordinaten die Geburtszeit, das Alter und die Anzahl der Überlebenden, die aus der gegebenen Geburtszeit stammend das gegebene Alter erreichen. Die Beziehungen, die zwischen jenen drei Größen bestehen, können geometrisch durch eine Fläche wiedergegeben werden, die als Grundlage der gesamten formalen Bevölkerungstheorie dienen kann. Die analytische Behandlung führt zu der Darlegung der mannigfachen Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Gesamtheiten der Lebenden und der Gestorbenen bestehen. Dieselbe zeichnet sich durch Klarheit und Einfachheit aus und kann auch heute noch neben den Knappschen Untersuchungen als eine wesentliche Grundlage der betreffenden Theorien angesehen werden.

Der Invalidität ist der zweite Teil des Zeunerschen Werkes gewidmet. Auch hier gelingt es ihm, neue Gesichtspunkte in die Theorie zu bringen und eine Anzahl grundlegender Formeln aufzustellen, die sich durch Genauigkeit auszeichnen und trotz scharfer Angriffe ihren Platz bis heute behauptet haben.

Der dritte Teil befaßt sich mit der Unfallversicherung. Der ausgesprochene Zweck dieses Teiles war es, die leitenden Gesichtspunkte für dieselbe zu finden und den Anstoß zu geben, daß sie in Deutschland und in der Schweiz ins Leben treten möchte. Die Notwendigkeit der Unfallversicherung begründet Zeuner vor allem damit, daß die Anzahl der Unfälle wesentlich vermindert werden würde, wenn große und vom Staate mit entsprechenden Vollmachten versehene Unfallversicherungen ihren Einfluß geltend machen und in Bergwerken, Fabriken und auf allen Eisenbahnen und Dampfschiffen auf Herstellung und vorzügliche Instandhaltung aller Vorrichtungen dringen, wodurch die Gefahr für die Versicherten vermindert und beseitigt werden kann.

Zeuner zeigt sich hier als ein Mann, der seiner Zeit vorauseilt. Dieselben Gesichtspunkte, die er hier andeutet, haben wesentlich mit zu der großen Unfallgesetzgebung geführt, deren wir uns heute im deutschen Reiche erfreuen dürfen.

Zeuner hat den statistischen Untersuchungen sein Interesse bis an sein Lebensende bewahrt. So veranlaßte er z. B. das Königlich Sächsische statistische Bureau nach seinen Plänen genaue statistische Erhebungen über Sterblichkeit und Invalidität im sächsischen Bergmannsstande, sowie über die Sterblichkeit der sächsischen Bevölkerung durchzuführen, auf Grund deren er in den Jahren 1894 und 1903 Sterblichkeitstafeln für die sächsische Bevölkerung aufgestellt hat, die sich in Zukunft sicherlich von Bedeutung zeigen werden.

So wichtig diese Arbeiten auch waren, so sehr sie auch Beachtung in den interessierten Kreisen gefunden haben, so liegt doch in ihnen nicht Zeuners eigentliche wissenschaftliche Bedeutung — die muß vielmehr in seinen technischen Arbeiten gesehen werden.

In rascher Folge erschien die Mehrzahl derselben vor und in seiner Züricher Zeit und brachte seinen Namen in der gesamten technischen Welt des In- und Auslandes sehr bald zu hohem Ansehen.

Ihre Bedeutung, ihre mächtige Wirkung auf die Entwicklung der betreffenden Wissenszweige ist so oft und eingehend von sachverständiger Seite gewürdigt worden, daß an dem Gesamtbilde wohl kaum noch eine wesentliche Änderung eintreten dürfte und so kann ich mich darauf beschränken hier an dieser Stelle nur einiges bereits feststehendes kurz vorzuführen.

Die technisch wissenschaftliche Lebensarbeit von Zeuner konzentriert sich im wesentlichen in vier Werken, von denen die drei ersten, wie schon bemerkt, in Zürich entstanden sind. Als Signatur derselben, vor allem der letzteren, dürfte es zu bezeichnen sein, daß sie zur rechten Stunde erschienen und einem tief gehenden, allgemein gefühlten Bedürfnisse entgegengekommen sind. Dann aber zeigt sich in ihnen eine ungemein glückliche Verbindung von Theorie und Praxis.

In hervorragender Weise tritt das schon in seinem ersten Werke über Schiebersteuerungen hervor, das im Jahre 1858 erschienen ist. In einer Neujahrsnacht, als er des Augenblickes harrte, wo Glockenton vom Züricher See her das neue Jahr begrüßen sollte, entdeckte er die Figur des Schieberdiagrammes. Wenn diese Entdeckung auch nicht als seine tiefste bezeichnet werden kann, so ist sie doch rein äußerlich vielleicht die erfolgreichste. Vor dieser Entdeckung war man bei dem Entwurfe von Schiebersteuerungen auf mühsames Probieren angewiesen, wobei jede Übersicht des Einflusses der einzelnen Elemente besonders bei den komplizierten Kulissen und Schiebersteuerungen verloren ging. Das wurde durch das Zeunersche Diagramm und durch die anschließende graphische Behandlung der Schieberbewegung mit einem Schlage geändert.

Seine Methoden fanden die rascheste Verbreitung und wurden zum unentbehrlichsten Hülfsmittel des Konstrukteurs, denn nun war es nicht nur möglich, leicht und rasch die Lösung vorliegender spezieller Aufgaben zu finden, sondern auch neue Steuerungssysteme zu beurteilen und zu entdecken.

Diesem ersten Werke folgte bald das Werk über die mechanische Wärmetheorie, das als das wissenschaftlich bedeutungsvollste bezeichnet werden kann und in wiederholten Neuauflagen in vertiefter und erweiterter Form erschien.

Auf theoretischem und experimentellem Wege waren durch Carnot, Mayer, Clausius, Clapeyron, W. Thompson, Rankine u. a., dann durch Joule, Hirn und Regnault die Anschauungen über den Zusammenhang zwischen Wärme und Arbeit von den verschiedensten Standpunkten aus geklärt , worden — den Kreisen der Ingenieure waren diese Lehren aber bis zum Erscheinen des Zeunerschen Werkes fast völlig fremd geblieben. Hier greift das Zeunersche Werk ein, das sich vornehmlich die Aufgabe stellte, die Gesetze der mechanischen Wärmetheorie den Maschineningenieuren klar zu legen. Diese Aufgabe hat Zeuner in glänzender Weise gelöst. Die analytischen Untersuchungen sind klar, eindringlich und einfach und werden wesentlich durch geometrische Betrachtungen und graphische Darstellungen erleichtert. Die dem Texte beigefügten Figuren, besonders die schematischen Darlegungen grundlegender Vorgänge in Maschinen und Apparaten sind meisterhaft gewählt und vorbildlich geworden. So ist es gekommen, daß, wie Herr Mollier sagt, alle Ingenieure Deutschlands und zum großen Teile des Auslands diesem Werke ihre Kenntnisse der genannten Wissenschaft verdanken und auf dieses Werk auch heute noch in erster Linie zurückgreifen, wenn im praktischen Leben wärmetheoretische Fragen an sie herantreten. Zeuner hat sich aber nicht nur mit der Darlegung der allgemeinen Prinzipien der Thermodynamik begnügt, ihm lag es daneben daran, eine Theorie der kalorischen Maschinen besonders der Dampfmaschinen auf Grund der mechanischen Wärmetheorie zu entwickeln. Dieser Teil bringt auch inhaltlich wesentlich neues und hat mächtig in die Entwicklung der betreffenden Disziplinen eingegriffen. Rastlos ist dieselbe durch die Mitwirkung vieler Ingenieure weiter gefördert worden und wenn es sich hierbei ergab, daß die Praxis Erscheinungen zeitigte, die den Zeunerschen Annahmen nicht immer untergeordnet werden können, so kann das dem Werte des Werkes als grundlegendem keinen Abbruch tun. Es ist das um so weniger möglich, als unter denen, die jene neuen Erscheinungen mit der Theorie in Einklang zu bringen suchten, sich eine große Zahl von Zeuners besten Schülern fanden und ferner Zeuners Schriften sich hierbei als wertvollstes Werkzeug gezeigt haben.

Ich bin am Schlusse meiner Betrachtungen angelangt. Glänzend ist das Bild, das sich uns bei der Betrachtung des Lebens und des Wirkens von Gustav Zeuner entrollt hat. Nach dreierlei Richtungen hin tritt er uns als hochstehender, hervorragender, seiner Zeit teilweise vorauseilender Mann entgegen, der es verstanden hat, seinen Namen untrennbar mit der Entwicklung dreier Hochschulen und mit der Entwicklung der technischen Wissenschaften unserer Zeit zu verbinden und sich in den Herzen seiner Schüler ein unvergängliches Denkmal zu setzen. Aus all dem hohen, vielseitigen und starken Streben und Wirken seines Lebens aber tritt uns bei tieferem Eindringen immer klarer und deutlicher ein einheitliches Bild entgegen, das Bild eines Mannes, der auf das wesentlichste dazu beigetragen hat, dem Namen des deutschen Ingenieurs das hohe Ansehen zu verschaffen, das er heute besitzt?

Anmerkung:
(*) Die letzten Bemerkungen verdanke ich einer liebenswürdigen Mitteilung von Herrn Professor Geiser in Zürich.

Benutzte Literatur.

  1. Gustav Zeuner. Schweizerische Bauzeitung 1898.
  2. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des eidgenössischen Polytechnikums. Erster Teil 1905.
  3. Zur Erinnerung an den großen Forscher und Lehrer der Technik Gustav Zeuner. Sozial-Korrespondenz 1907.
  4. Nachruf auf Zeuner von Mollier. Dresdner Bezirksverein deutscher Ingenieure 1907.
  5. Nachruf auf Zeuner von Mollier. Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure 1908.
  6. Gustav Anton Zeuner. Nachruf von Helm. Naturwissenschaftliche Rundschau 1908.

Außer einer großen Anzahl von Abhandlungen erschienen von Zeuner folgende größere Werke:

  1. Die Schiebersteuerungen mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven-Steuerungen. Freiberg 1858. 6. Auflage, Leipzig 1904. Auch in französischer Sprache von Derize und Mérijot, Paris 1869 und in zwei englischen Übersetzungen, London 1869 und 1884 erschienen.
  2. Grundzüge der mechanischen Wärmetheorie. Leipzig 1860. 2. Auflage 1866. Neuer Abdruck derselben 1877. Französische Übersetzung von Cazin und Arnthal, Paris 1869. 3. Auflage unter dem neuen Titel: Technische Thermodynamik. Leipzig 1887-1890. Zweite Auflage 1900 und 1901. Dritte Auflage 1905 und 1906.
  3. Über das Wanken der Lokomotiven. Zürich 1861.
  4. Das Lokomotiven-Blasrohr. Zürich-Leipzig 1863. Französisch von Piron 1864.
  5. Abhandlungen aus der mathematischen Statistik. Leipzig 1869. Italienisch Rom 1883.
  6. Vorlesungen über Theorie der Turbinen. Leipzig 1899.

Martin Krause (1851-1920) wurde 1873 bei Leo Koenigsberger in Heidelberg promoviert.

Letzte Änderung: 30.06.2013     Gabriele Dörflinger   Kontakt

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