Mein Leben / Leo Koenigsberger

Schulze, Franz Arthur (1872-1942):
Lord Kelvin (Sir William Thomson) †
Nachruf

aus: Naturwissenschaftliche Rundschau : wöchentliche Berichte über die Fortschritte auf dem Gesamtgebiete der Naturwissenschaften. - 23 (1908), S. 89-90

UB Heidelberg: O 29-3 Folio::23.1908


Das Ende des vergangenen Jahres hat die physikalische Wissenschaft eines ihrer bedeutendsten Führer beraubt; anfang Dezember 1907 starb in Glasgow im Alter von 83 Jahren Lord Kelvin, der seit dem Tode von Helmholtz wohl allgemein als der hervorragendste Physiker unserer Zeit angesehen wurde. Ein Leben, reich an Arbeit und reich an Erfolgen, hat sein Ende erreicht, und das ganze große Lebenswerk liegt nun abgeschlossen vor uns.

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser wenigen Zeilen eine auch nur einigermaßen erschöpfende Darstellung aller seiner Leistungen zugeben; es muß genügen, die bedeutendsten herauszugreifen.

Das Bewunderungswürdige und fast einzig Dastehende an den Leistungen Lord Kelvins ist die Verbindung einer glänzenden Begabung für theoretische Überlegungen, einer Meisterschaft im Anpacken mathematisch-physikalischer Probleme mit einem nicht minder erstaunlichen Talent zur Erfindung von sinnreichen rein technischen Zwecken dienenden Apparaten und einem lebhaften Interesse für die Anwendung der Wissenschaft auf Probleme des Verkehrs, des täglichen Lebens. In dieser Beziehung ist ihm vielleicht nur Werner v. Siemens zu vergleichen, den er aber auf theoretischem Gebiet übertroffen hat.

Und so verdanken ihm denn auch sowohl die theoretische wie die Experimentalphysik und die Technik in gleicher Weise die kräftigsten Förderungen auf allen Gebieten. Bis in das letzte Jahr seines Lebens hat er sich auf das lebhafteste sogar produktiv an den Fortschritten der Wissenschaft beteiligt; für seinen regen Geist gab es keine Ruhe.

Bei der Fülle und Verschiedenartigkeit des von Lord Kelvin Geschaffenen ist es nicht leicht, eine geordnete Übersicht darüber zu geben, wenn man sich nicht mit einer rein chronologischen Wiedergabe begnügen will.

Beginnen wir mit einem kurzen Überblick über die von ihm ersonnenen Apparate, mit denen er die Wissenschaft und Technik bereichert hat.

An bleibender Bedeutung wird wohl keiner dieser Apparate übertroffen von dem von ihm konstruierten Quadrantelektrometer zur exakten Messung sehr kleiner elektrischer Potentialdifferenzen. Ein physikalisches Institut ohne Quadrantelektrometer ist heute kaum denkbar. Fortgesetzt ist es seit seiner Erfindung im Gebrauch; die wichtigsten Untersuchungen sind mit ihm angestellt, ja viele wären ohne dieses direkt unmöglich gewesen. Auch einen sehr sinnreichen und zweckmäßigen Beiapparat dazu, zur Ladung des Quadrantelektrometers, den sogenannten Replenisher, hat er gleichzeitig angegeben, der im Grunde schon nach dem Prinzip der später erfundenen Influenzelektrisiermaschinen wirkt.

Zur absoluten Messung von elektrischen Potentialen dient das von ihm angegebene absolute Elektrometer, im Prinzip einem Plattenkondensator ähnlich, dessen eine Platte beweglich ist. Der störende Einfluß des Randes wird von ihm in ebenso sinnreicher wie einfacher Weise durch Erfindung des Schutzringes beseitigt.

Auch die Angabe zweckmäßiger Kondensatoren von variabler Kapazität, sogenannter Platymeter, wesentlich Zylinderkondensatoren, verdanken wir Lord Kelvin. Zum Nachweis und zur Messung sehr schwacher elektrischer Ströme baute er Galvanometer von damals unerhörter Empfindlichkeit. Sie sollten hauptsächlich den Zwecken der Kabeltelegraphie dienen, um deren Förderung sich Lord Kelvin überhaupt in hohem Maße verdient gemacht hat, und an deren Ausbau er sich mit besonderem Eifer beteiligte. Ihm ist hier die Überwindung technischer Schwierigkeiten glänzend gelungen, an denen die submarine Telegraphie zu scheitern drohte. Von ihm rühren auch zwei Hauptverbesserungen der Galvanometer her, nämlich die Einführung astatischer Magnetsysteme und die Benutzung der Schirmwirkung eines Mantels aus weichem Eisen zur Unschädlichmachung störender äußerer magnetischer Einflüsse.

Auch mit der Herstellung von Normalelementen hat er sich befaßt. Lebhaftes Interesse hat er an der Ausbildung und Einführung des absoluten Maßsystems genommen und sie sowohl durch Angabe von Methoden zur genauen Herstellung von Einheiten, als auch selbst durch Ausführung von Messungen gefördert.

Durch Einführung zweckmäßiger Bezeichnungen suchte er das Verständnis zu erleichtern; so geht auf ihn das Wort „Permeabilität“ zurück, sowie der Begriff „Magnetisierung“ als magnetisches Moment pro Volum Eins. Sein Vorschlag, für das Reziproke des Widerstandes eines Leiters, also etwa seine „Leitung“, das Wort Ohm von rückwärts gelesen „Mho“ einzuführen, hat allerdings keinen Anklang gefunden.

Auch in den Dienst rein praktischer Ziele hat er seine Erfindungsgabe vielfach gestellt, namentlich hat er das Seewesen, für das er eine besondere Vorliebe hatte, durch Angabe einer Reihe von Apparaten sehr wesentlich gefördert. So hat er unter anderem einen Kompaß mit geringer Deviation und einen Tiefseemesser konstruiert.

Wie zahlreich die von ihm erfundenen Apparate sind, erhellt daraus, daß er einmal nach der Konstruktion eines ihn interessierenden Apparates fragte und erst von dem Befragten darüber aufgeklärt werden mußte, daß er einen von ihm selbst erfundenen Apparat vor sich habe. Sein großer Zeitgenosse Helmholtz, mit dem ihn enge Freundschaft verband, und der ihn öfter in Glasgow besucht hat, war sogar der Meinung, daß er in dieser Richtung etwas zu viel täte. So schreibt er an seine Frau (H., von Helmholtz von Leo Königsberger, II, S. 314): „In Summa habe ich doch den Eindruck, daß Sir William seinen eminenten Scharfsinn besser verwenden könnte als für die industriellen Aufgaben; seine Instrumente erscheinen mir zu subtil, um sie wenig unterrichteten Arbeitern und Beamten in die Hand geben zu können, und die von Siemens und Hefner v. Alteneck erscheinen mir viel zweckentsprechender. Daneben wälzt er noch immer weitgehende theoretische Gedanken in seinem Kopfe herum, aber kommt nicht mehr zu ruhiger Ausarbeitung; ich freilich auch kaum.“ Aber unmittelbar darauf fügte er hinzu: „Ich habe ihm neulich Unrecht getan, als ich ihn ganz versunken in industrielle Unternehmungen glaubte; er war voll von Spekulationen über die Urbeschaffenheit der Körper, denen zum Teil schwer zu folgen war, und Du weißt, wie ihn keine Mahlzeit und keine andere Beschäftigung abhält, damit vorzugehen.“

Auch höchst elegante Meßmethoden verdankt ihm die praktische Physik. Es sei nur erinnert an das Verfahren zur Messung kleiner elektrischer Widerstände mittels der sogenannten Thomsonschen Doppelbrücke, eine sinnreiche Erweiterung der bekannten Wheatstoneschen Brückenanordnung.

Von seinen Experimentaluntersuchungen auf dem Gebiete der Elektrizität mögen folgende genannt werden.

Mit Hilfe seines absoluten Elektrometers bestimmte William Thomson zuerst die Entladungspotentiale sowohl für plattenförmige wie für kugelförmige Elektroden. Er ist ferner der Entdecker des Umkehrpunktes der thermoelektrischen Kraft gewesen, wobei er zugleich nachwies, daß diese Umkehr nicht nur von der Temperaturdifferenz der elektrischen Lötstellen, sondern auch von der Temperatur selbst der Lötstellen abhängt.

Mit seinem Namen für immer verbunden ist die von ihm entdeckte Erscheinung, daß thermische Effekte auftreten, wenn ein elektrischer Strom von Stellen höherer Temperatur zu solchen von tiefer Temperatur oder umgekehrt in einem homogenen Draht fließt, deren Vorzeichen von der Richtung des Stromes abhängt. Bei Cu z. B. wird Wärme erzeugt, wenn der Strom die Richtung der fallenden Temperatur hat. Dieses Phänomen heißt nach ihm der Thomsoneffekt.

Die Theorie der Elektrizität ist von Lord Kelvin in wichtigen Punkten ausgebaut worden. Von ihm rührt unter anderem die wichtige und elegante Methode der elektrischen Bilder her. Besondere Wichtigkeit hat seine Berechnung der Schwingungsdauer der oszillatorischen Kondensatorentladung bekommen.

Nächst der Elektrizitätslehre ist es namentlich die Wärmetheorie, der er sein besonderes Interesse zugewandt, und die er erheblich gefördert hat. Zu Beginn seiner Studien herrschte noch fast uneingeschränkt die Lehre vom Wärmestoff, aber gerade in jene Zeit fielen auch die epochemachenden Schriften und Experimente von J. R. Mayer und Joule über das mechanische Wärmeäquivalent. Nebst Clausius ist es nun hauptsächlich W. Thomson, dessen Arbeiten wir die Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen den Überlegungen von Carnot mit den Betrachtungen von J. R. Mayer und Joule verdanken, die dann schließlich zur exakten Formulierung des zweiten Hauptsatzes der mechanischen Wärmetheorie führten. Es ist in hohem Grade interessant, zu verfolgen, wie Clausius und Thomson gleichzeitig sich zur Erkenntnis der hier herrschenden Gesetzmäßigkeiten durchringen, jeder auf seine Art, so daß bald der eine, bald der andere in der Erkenntnis ein Stück voraus ist. (Eine Darstellung dieses Wettkampfes siehe E. Mach, Prinzipien der Wärmelehre.)

Im wesentlichen ist allerdings hier Clausius die Priorität zuzusprechen. Lord Kelvin jedoch gebührt das Verdienst der Aufstellung einer absoluten thermodynamischen Temperaturskala, die nicht abhängt von den speziellen Eigenschaften eines speziellen Stoffes, ein Gedanke von der höchsten Tragweite. Im engen Zusammenhang hiermit stehen die berühmten Versuche, durch die Thomson im Verein mit Joule gezeigt hat, daß nicht, wie vorher angenommen, bei Ausdehnung eines Gases ohne äußere Arbeitsleistung die Temperatur konstant bleibt, sondern daß dabei meßbare Temperaturerniedrigungen auftreten, die also auf eine innere Arbeit schließen lassen. Es ist von besonderem Interesse, daß dieser Effekt heute in großem Maßstabe bei dem Lindeschen Verfahren zur Verflüssigung der Luft in Anwendung kommt.

Aus dem zweiten Hauptsatz wurde von Clausius und James J. Thomson, dem Bruder Lord Kelvins, eine Formel abgeleitet, nach der sich der Schmelzpunkt mit dem Druck ändert. Diese Formel ist zuerst von Lord Kelvin durch Versuche an Wasser geprüft und bestätigt.

Von großer Bedeutung ist eine Berechnung des Alters der Erde, die Lord Kelvin angestellt hat auf Grund der bekannten Zunahme der Temperatur von der Oberfläche der Erde nach dem Innern. Er fand für die Zeit, die verflossen ist, seit die Temperatur der Erdoberfläche 1890° C war, bei der einige Gesteine fest, andere noch flüssig waren, etwa 24½ Millionen Jahre, was ungefähr mit den von der Geologie geforderten Zeiten übereinstimmen könnte (siehe H. v. Helmholtz' Vorlesungen, Bd. VI, herausg. von F. Richarz, S. 138).

Nur ganz kurz erinnert sei noch an die für die Meteorologie so wichtigen Überlegungen und Formeln, die Lord Kelvin für die Dampfspannung an einer gekrümmten Oberfläche und für das sogenannte konvektive Gleichgewicht für die Temperaturabnahme mit der Höhe gegeben hat (Helmholtz, Bd. VI, S. 198).

Auf dem Gebiete der Mechanik sei vor allem genannt Lord Kelvins bekannte auf den Helmholtzschen Berechnungen der Eigenschaften von Wirbelfäden fußende Hypothese, ein Atom als einen Wirbelring im Äther aufzufassen. Eingehend hat er sich theoretisch und experimentell mit den Erscheinungen der Ebbe und Flut beschäftigt.

Eine so gewaltige Tätigkeit, wie sie Lord Kelvin geleistet hat, von der im vorstehenden gewissermaßen nur die Gipfelpunkte berührt sind, ist naturgemäß nur durch unablässige Arbeit möglich gewesen. In der Tat ist Lord Kelvin stets von einem unwiderstehlichen Arbeitsdrang beseelt gewesen, dem er auch stets gefolgt ist. Dem berühmten Gelehrten wurde dabei gern verziehen, wenn er dann oft für die übrige Welt nicht zu haben war. Ergötzlich berichtet darüber Helmholtz in einem Briefe (l. c., S. 199): „W. Thomson hat die Freiheit des Umganges jetzt so weit getrieben, daß er stets sein mathematisches Heft mit sich führt und, sobald ihm etwas einfällt, mitten in der Gesellschaft zu rechnen anfängt, was man allgemein mit einer gewissen Ehrfurcht betrachtet. Wie wäre es, wenn ich die Berliner auch daran gewöhnte? Am naivsten aber fand ich es, daß er sich am Freitag die Gesellschaft auf seine Jacht eingeladen hatte und dann, sobald das Schiff auf seinem Kurse war und sich jeder einen gegen Schwankungen möglichst gesicherten Platz auf dem Deck gesucht hatte, in die Kajüte verschwand, um dort zu rechnen, während sich die Gesellschaft, soweit sie noch Lust dazu hatte, wechselseitig unterhalten mochte, natürlich nicht gerade sehr lebhaft.“

Im übrigen ist er aber durchaus nicht der Typus eines trockenen Gelehrten gewesen, wie ja schon sein ungemeines Interesse an allen Fragen der Technik zeigt. Seine liebste Erholung waren ihm große, weit ausgedehnte Segelfahrten, auf denen ihn mehrfach sein Freund Helmholtz begleitet hat.

So reich sein inneres geistiges Leben durch die unablässige Beschäftigung mit großen Problemen gewesen ist, so einfach und schlicht war sein äußerer Lebensgang. Geboren wurde er 1824 in Belfast, wo sein Vater Lehrer der Mathematik war. Bald darauf kam er nach Glasgow, wohin sein Vater berufen war, und in dieser Stadt spielt sich nun nach Studienaufenthalten in Cambridge und Paris das ganze weitere Leben Lord Kelvins ab. Er wurde dort mit 22 Jahren Dozent der theoretischen Physik und hat dieses Amt bis zu seinem Tode bekleidet.

So arm sein Leben an äußeren Erlebnissen war, so viel hat es ihm an Freude und inniger Befriedigung gebracht, die eine intensive von solchen Erfolgen gekrönte Beschäftigung mit der Wissenschaft, zu geben imstande ist.

Wir Physiker müssen ihm besonderen Dank wissen, daß er seine eminente Begabung in den Dienst unserer Wissenschaft gestellt hat.

Marburg.

F. A. Schulze.


Letzte Änderung: Mai 2014     Gabriele Dörflinger   Kontakt

Zur Inhaltsübersicht     Historia Mathematica     Homo Heidelbergensis     Mein Leben / Leo Koenigsberger